Wenn man jung ist, ist man ja leicht zu beeindrucken. So näherte ich mich Vera F. Birkenbihl sehr gespannt und ehrfürchtig, als ich vor gut 20 Jahren die Gelegenheit hatte, die berühmte Seminarleiterin für eine Zeitschrift zu interviewen. Dem ging ein launiger Vortrag über die bestmögliche Nutzung des menschlichen Gehirns voraus. Stets betonte die rührige Rednerin, dass die menschliche Spezies ihren Möglichkeiten in beklagenswertem Ausmaß hinterherhinke. „Wie würde die Menschheit leben, wenn sie das Potenzial ihres Gehirns voll ausschöpfen würde?“, fragte ich Birkenbihl. Die mittlerweile verstorbene Mentaltrainerin überlegte eine Weile und antwortete dann: „Fast gottähnlich.“
Übermenschentraining für Otto Normalverbraucher
Birkenbihls Vision scheint sich erfüllt zu haben in einem Kinofilm von 2014 — Regie: Luc Besson. Scarlett Johansson sieht darin nicht nur super aus, sondern erwirbt auch dank einer Überdosis Drogen, die in ihre Blutbahn gelangen, Superkräfte. Sie überwältigt eine Vielzahl starker Männer, verfügt über telepathische und telekinetische Fähigkeiten, manipuliert technische Geräte und verschmilzt am Ende mit Computern zu einem Mensch-Maschine-Überwesen. Morgan Freeman in der Rolle eines Professors breitet im Film eine Birkenbihl-ähnliche „Human Potential“-Philosophie aus:
„Man schätzt, die meisten Menschen nutzen lediglich 10 Prozent ihrer Gehirnkapazität. Stellen Sie sich vor, wir könnten 100 Prozent nutzen!“
Der Kino-Visionär Besson setzt damit auf fantasievolle Weise um, was die Autoren einer ganzen Bibliothek von Ratgeber-Büchern seit Jahrzehnten predigen: „Du bleibst unter deinen Möglichkeiten, Mensch. Du könntest viel mehr sein als die gegenwärtige Kümmerform, mit der du dich bescheidest.“ Unterschwellig mit transportiert wird dabei die Botschaft: „Buche mein Seminar oder kauf mein Buch, und ich helfe dir, die anderen 90 Prozent zu erschließen.“
Stählerne Kerle und Wunderfrauen
Profitträchtig sind auch in höchstem Maß die vielen Superhelden-Filme, die aus den USA in unsere Kinos schwappen und Menschen dort mit infantilen Größenfantasien beglücken. Neben Realfilmen wie „Ohne Limit“ mit Bradley Cooper sind es vor allem Comicverfilmungen, die uns den Übermenschen lehren: Superman, Batman, Spiderman, X-Men, Birdman, Antman, Watchman, Iron Man und andere „-Men“ toben sich Raum greifend und unter Verzicht auf jegliche glaubwürdige Handlung auf der Leinwand aus. Neuerdings verstärkt auch „Women“ wie der in den Feuilletons hoch gelobte Amazonen-Kracher „Wonder Woman“.
Urbild der Übermenschen ist der Comic-Held Superman, der in den 1930er-Jahren erstmals in gedruckter Form zu bewundern war. In den 1940ern wurde der flugfähige Haudegen als Propagandafigur im Krieg gegen die Nazis eingesetzt. Der „Stählerne“ wies dabei peinliche Ähnlichkeit mit dem Menschenbild seiner Gegner auf, die sich ihre Arier bekanntlich „hart wie Kruppstahl“ wünschten.
„Ein kollektives Bedürfnis nach dieser Art von Heldenfiguren weist auf Missstände hin“, schreibt Dana Frei von der Universität Zürich über den Superhelden. Sie erkennt soziale Defizite, aber auch religiöse Motive in der Comic-Kraftmeierei – ist es für Superman doch ein Leichtes, sich wie in der „Auferstehung Christi“ des Malers Andreas Grünwald über den Boden des Alltags zu erheben. Zugleich „erlöst“ der Super-Hero die US-amerikanische Mittelstandsgesellschaft von ihren Ängsten vor Kriminalität und Terror, ohne sich wie weltliche Sicherheitsorgane an einschränkende Gesetze und lästige Bürgerrechte halten zu müssen. Ein biederes Law- and Order-Denken bläst sich zur Vision eines monströsen Übergesetzeshüters auf.
Kleiner Mann ganz groß
„Super“, das ist nicht nur ein Synonym für „toll“, „prima“ — sein Ursprung, das lateinische super, bedeutet unter anderem „über“. Das Supergrundrecht „Sicherheit“ steht über zweitrangigen Grundrechten wie Menschenwürde und Freiheit — jedenfalls laut Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich. Superman ist korrekt mit „Übermensch“ zu übersetzen.
Die Geschichte des schüchternen, durch eine Hornbrille verunzierten Reporters Clark Kent, der sich bei Bedarf Hemd und Krawatte vom Leib reißt und sich im hautengen blauen Schlafanzug mit dem roten „S“ in die Lüfte schwingt, macht den kompensatorischen Charakter der Superhelden-Fantasie mehr als deutlich.
Weil ich mich klein und schwach fühle, sehne ich mich nach einer überwirklichen Zweitidentität, einer Art positivem Mr. Hyde, der bei Bedarf „übernimmt.“
Der Übermensch war in den letzten Jahrzehnten klar ein US-amerikanischer Archetyp. Vom Franzosen Luc Besson einmal abgesehen, begnügt sich die Filmkunst anderer Nationen in der Regel damit, menschliche Helden mit menschlichen Problemen zu präsentieren. In den USA wimmelt es dagegen nur so von Figuren, die über sich hinauswachsen, Unmögliches vollbringen und die Naturgesetze willensheroisch überwinden. „Du schaffst es, wenn du nur willst“ ist ein populäres Mantra, das sich durch penetrante Wiederholung in unser Unterbewusstsein bohrt.
Nietzsche: Der große Verachtende
Mehr als menschlich zu sein — dieses Thema, dessen Variationen das 20. Jahrhundert mit oftmals scharfen Dissonanzen weiterkomponiert hat, schlug der Philosoph Friedrich Nietzsche schon 1885 in „Also sprach Zarathustra“ an. Die schwärmerische Vision vom „Übermenschen“ mit dem Beigeschmack kalter Verachtung für den gegenwärtigen Menschen hinterlässt der großbärtige Einsiedler uns Nachgeborenen als zweifelhaftes Erbe. „Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll“, verkündet Nietzsches fiktiver Prophet Zarathustra. Und deutlicher noch:
„Die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache. (...) Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist. (...) Ich liebe die großen Verachtenden, weil sie die großen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer.“
Zarathustra entwickelt zwar keine konkrete Vision des Übermenschen, beschreibt aber drastisch, welche Art von Gegenwartsmenschen er der Verachtung für würdig hält: den „letzten Menschen“, eine klägliche Verkümmerungsform, die nach Glück und Bequemlichkeit strebt, Leiden zu vermeiden sucht und die Gleichheit, die Gleichwertigkeit aller Menschen fordert. Wenn man genau hinsieht, meint Nietzsche damit wohl die meisten von uns — nur gesehen aus einem sehr ungnädigen Blickwinkel. Das antiaufklärerische Bild vom Menschen als bloßem „Zweck“, dessen „Untergang“ Platz machen sollte für das Kommen des Neuen Menschen verursacht mit Blick auf die menschenverachtenden Ideologien des 20. Jahrhunderts doch ein gewisses Unbehagen.
Die Höherzüchter
Anfang des 20. Jahrhunderts war Eugenik en vogue, gerade auch in intellektuellen Kreisen und durchaus nicht nur in Deutschland. Theoretiker wie Arthure Gobineau und Sir Francis Galton, ein Halb-Cousin Darwins, wandten sich gegen eine Vermischung der „Rassen“. Eine Höherentwicklung der Menschheit sollte durch die Dominanz der „Stärkeren“ sowie die Unterdrückung oder gar Ausrottung der „Schwächeren“ erreicht werden. Die Eugeniker propagierten vor allem die Idee, die Menschheit könne die Höherentwicklung ihrer Art in ihre eigenen Hände nehmen und bewusst beschleunigen. Sie verstanden darunter nicht nur einen allgemeinen „Daseinskampf“ um Arbeitsplätze und Paarungsmöglichkeiten, sondern durchaus auch rabiate Maßnahmen wie die Sterilisation oder gar Ausmerzung von „unwertem Leben“.
Der Hitler-Biograf Claus Hant beschreibt in seinem Buch-Kapitel über Eugenik, dass mit der Rassenlehre auch eine deutlich antisoziale und antidemokratische Haltung verbunden war:
„Der Anspruch auf soziale und politische Chancengleichheit wurde von der Eugenik verneint. An dessen Stelle trat die scheinbar biologisch fundierte Forschung nach rassischer Auslese. Für viele rational denkende Intellektuelle besaßen diese Ideen mehr Überzeugungskraft als das humanitäre Postulat individueller Menschenrechte.“
Schwere Zeiten für „Eugenik-Leugner“
Von besonderem Einfluss in Deutschland war der britische Biologe Houston Stewart Chamberlain mit seinem Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Mit ihm bekam die Eugenik eine speziell antisemitische Wendung. Chamberlain, der die Komponistentochter Eva Wagner geehelicht hatte, wurde für sein Werk von so unterschiedlichen Charakteren wie George Bernard Shaw und Kaiser Wilhelm II. hofiert. Als Eugeniker verstanden sich außerdem unter anderem die Schriftsteller D.H. Lawrence („Lady Chatterleys Liebhaber“) und H.G. Wells („Krieg der Welten“), der US-Präsident Woodrow Wilson, der Telefon-Erfinder Alexander Graham Bell und der Finanzier John D. Rockefeller. In den USA war man mit eugenischer Praxis vor der Machtergreifung Hitlers sogar „weiter“ als in Europa. Die Isolation und Zwangssterilisation Kranker, Behinderter und „Arbeitsscheuer“ war dort an der Tagesordnung, Euthanasie — also die Tötung „unwerten“ Lebens – ernsthaft im Gespräch.
In Amerika wie Europa machten Eugeniker Druck auf die Regierungen. Nationaler Kultur- und Bedeutungsverlust, ja sogar das Aussterben des eigenen Volkes oder gar der ganzen Menschheit drohe, es sei deshalb Gefahr im Verzug. Wohl in Anspielung auf heutige Verhältnisse berichtet Claus Hant, dass es Gegner der dominanten eugenischen Weltanschauung damals nicht leicht hatten, sich durchzusetzen:
„Eugenik-Leugner, die vor Panikmache warnten oder gar die Wissenschaftlichkeit der Eugenik bezweifelten, wurden als realitätsblinde Ignoranten an den Pranger gestellt. Man warf ihnen vor, dass sie mit ihrem Widerstand gegen durchgreifende staatliche Maßnahmen das Überleben künftiger Generationen gefährdeten.“
Das historische Beispiel zeigt, wie sich ein „Mem“, also quasi ein übertragbares Gedankenvirus, ausbreiten und auch vermeintlich intellektuell hochstehende Bürger entwickelter Gesellschaften infizieren kann. So lange, bis der Wahn zum Gemeingut wird und die vernünftigeren, menschlichen Kräfte in die Defensive zu treiben vermag.
Sein größter Kampf
Es liegt nahe, von hier weiterzugehen zur Eskalation unmenschlicher eugenischer Praxis unter den Nationalsozialisten. Wir können dabei auf Adolf Hitler selbst zurückgreifen, der in „Mein Kampf“ schrieb: „jede Kreuzung zweier nicht ganz gleich hoher Wesen“ sei zu vermeiden.
„Solche Paarung widerspricht aber dem Willen der Natur zur Höherzüchtung des Lebens überhaupt. Die Voraussetzung hierzu liegt nicht im Verbinden von Höher- und Minderwertigem, sondern im restlosen Siege des ersteren. Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern. Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden, dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dieses Gesetz nicht herrschen, wäre ja jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen unvorstellbar.“
Wie wissen, wie Hitler seine „Lehre“ in die Tat umsetzte. Seine Strategie, um vermeintlich geringerwertiges Leben an seiner Weiterverbreitung zu hindern, war organisierter Massenmord. Um erwünschte Merkmalsplanung voranzutreiben, griffen die Nazis zu eher skurrilen Mitteln, ließen im sogenannten Lebensborn „Parade-Arierinnen“ ihre Kinder austragen, die meist von SS-Männern gezeugt waren. Claus Hant fasst zusammen:
„Die Rassenvermischung zu verhindern und damit die Höherentwicklung des Menschen in die eigene Hand zu nehmen, war Ziel und Mittelpunkt von Hitlers ‚Lehre‘.“
Wissenschaftsglaube und missionarischer Anspruch
Es wird nicht immer mit der nötigen Schärfe gesehen, dass „Höherzüchtung“, also letztlich Übermenschenfantasien, der Hauptantrieb von Hitlers Verbrechen war. Dahinter steckt durchaus Nietzsches Basis-Diagnose: „Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache.“ Denn etwas höherzüchten zu wollen, bedeutet, zu behaupten, dass es derzeit in einem zu „niedrigen“ Zustand verharrt. Man kann dabei durchaus an Züchtungen von speziellen Tierrassen und Pflanzensorten denken. Ohne bewusste züchterische Förderung der erwünschten und Unterdrückung der unerwünschten Merkmale, wäre die Rose für immer im Stadium der einfachen Wildrose mit nur fünf Blütenblättern „stehengeblieben“. Die ganze heutige Vielfalt der Farben, Formen und Düfte mit unzähligen einander umschließenden Blütenblättern war das Ergebnis bewusster Züchtung, die auch eine stärkere Diversifizierung mit sich brachte. Im Gegensatz dazu strebten die Menschenzucht-Bemühungen der Nazis jedoch eher nach Herstellung eines Einheitstyps.
Dennoch ist das Bild der Tier- und Pflanzenzucht hilfreich, um die Ideologie der Eugeniker zu verstehen.
Menschen waren für sie vor allem Objekte hoheitlicher und dabei wissenschaftlich verbrämter Optimierungsbemühungen.
Sozialdarwinismus und Eugenik, auf denen Hitlers Tun beruhten, „waren vom Szientismus und vom Rationalismus geprägt“, schreibt Hant. Hitler habe diese pseudowissenschaftlichen Vorlagen jedoch religiös aufgeladen. „Der Führer war gekommen, um die Welt wachzurütteln und sie an Gottes wahre Absicht zu erinnern: die Höherentwicklung des Menschen.“ Ob nun Gott dahintersteckt oder einfach „die Natur“ — eines durfte der Mensch auf keinen Fall: so bleiben wie er ist.
Die Eugenik-Formel
Im Ganzen basierte das Denken und Treiben der Eugeniker sowie der Nazis ungefähr auf folgender „Formel“:
- Der Sinn der Evolution besteht kollektiv in einer immer weiter gehenden Höherentwicklung.
- Diese Höherentwicklung erfolgt im Normalfall auf natürliche Weise – durch Zuchtwahl. Nur die genetischen Merkmale der „stärkeren“ beziehungsweise besser angepassten Individuen können weitervererbt werden.
- Höherentwicklung wird jedoch vereitelt, indem sich „alle“ – also auch Individuen mit weniger wertvollem genetischen Material — fortpflanzen dürfen. Es ist somit schädlich, genetisch fehlerhafte Menschen weiterleben zu lassen und ihnen sogar Paarung zu ermöglichen.
- Das Evolutionsziel der Höherentwicklung sollte von diesbezüglich kompetenten Menschen bewusst gesteuert und beschleunigt werden: durch die Förderung der Fortpflanzung genetisch „reiner“ und „hochwertiger“ Menschen.
- Ideen von Gleichheit und Gleichwertigkeit schaden dem Ziel der Höherentwicklung. Ebenso die Demokratie, die dem „aristokratischen“ Prinzip der Natur widerspricht.
- Das Ziel der Höherentwicklung und die Mittel ihrer praktischen Durchführung sind nicht bloß Ausdruck einer Meinung oder spezifischen Weltanschauung, sie sind durch objektive wissenschaftliche Erkenntnisse geboten.
Sloterdijk, der Menschenparkwächter
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren solche Ideen verständlicherweise obsolet. Es überrascht somit, dass sich schon gut 50 Jahre später ein anderer berühmter deutscher Denker auf Nietzsches „Zarathustra“ berufen konnte und dafür nur gemäßigte Proteste erntete: Peter Sloterdijk definierte in seinem Aufsatz „Regeln für den Menschenpark“ 1999, was er für die „Epochenfrage“ hält: „Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert?“ Eine mögliche Antwort sieht er in Nietzsches Werk. Der stecke „ein riesenhaftes Gelände ab, auf dem sich die Bestimmung des Menschen der Zukunft wird vollziehen müssen“.
Der von Nietzsche angesprochene Grundkonflikt sei der „zwischen den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen, (...) Menschenfreunden und Übermenschenfreunden“. Die Frage sei, ob und wie sich der Mensch vom bloßen Objekt zum Subjekt der Auslese aufschwingen könne. Neben Nietzsche bemüht der Philosoph Sloterdijk auch Platon und dessen Dialog „Politikos“ (der Staatsmann). In Platons Werk gehe es „nicht nur um die zähmende Lenkung der von sich aus schon zahmen Herde, sondern um eine systematische Neu-Züchtung von urbildnäheren Menschenexemplaren. (...) Darum muss der Staatsmann die ungeeigneten Naturen auskämmen, bevor er daran geht, mit den geeigneten den Staat zu weben“. Sloterdijks emotionslos-technokratische Sprache verstört hier wohl mehr als das, was er über seine eigenen Absichten und Wünsche wirklich aussagt – er vermeidet geschickt jede Festlegung.
Sloterdijk propagiert keineswegs den Wildwuchs der Gentechnologie ohne ethische Kontrolle; er regt aber dazu an, sich dem technisch Machbaren im Prozess der „Eigenschaftsplanung“ für den Zukunftsmenschen nicht von vornherein zu verweigern.
„Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie (...) eine höhere Gewalt, sei es den Gott oder den Zufall oder die Anderen, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerung (...) an ihrer Sterilität zu scheitern pflegt, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren.“
Konkret spricht Sloterdijk von einer „genetischen Reform der Gattungseigenschaften (...) bis zu einer expliziten Merkmalsplanung“. Sollten wir nicht, scheint er zu fragen, gerade aus ethischen Erwägungen, aus Sorge für die Zukunft der menschlichen Spezies, bewusst bestimmen, welche Eigenschaften wir am Zukunftsmenschen fördern, welche unterdrücken wollen?
Evolution auf der Überholspur
An dieser Stelle verschwimmen die Grenzen zwischen hoher deutscher Philosophie und Science fiction. Schon in seinem visionären Roman „Schöne neue Welt“ entwarf Aldous Huxley die Utopie eines genetisch bereinigten Menschentums, einer Welt, in der nur genetisch Optimierte in hohe berufliche Positionen aufrücken können. Dabei mutet die Buch-Vision geradezu fantasielos und brav an, wenn man bedenkt, was heute technisch machbar ist und auch teilweise schon praktiziert wird: zum Beispiel das „Auskämmen“ von Embryonen, bei denen die fortgeschrittene pränatale Medizin künftige Behinderungen vorhersehen kann. Auch die bislang offiziell nur an Schafen erprobte Biotechnik des Klonens eröffnet potentiell unbegrenzte Möglichkeiten der „Merkmalsplanung“.
Evolution bringt immer Veränderung mit sich, sie ist nicht aufzuhalten. So wird sich auch der Mensch unvermeidlich weiter entwickeln. Die Frage ist nur: wohin und in welcher Geschwindigkeit?
Der große Traum unserer Gegenwart ist, so der Sachbuchautor Yuval Noah Harari, die selbstbestimmte Evolution. Wir entscheiden zunehmend selbst mit darüber, wer und was wir sein wollen.
Die Gentechnologie eröffnet die Möglichkeit einer „unnatürlichen Zuchtwahl“, bei der bestimmte Eigenschaften als unerwünscht aussortiert, andere als erwünscht gefördert werden können. Über beide Kategorien könnten vor allem die Macht und das Geld entscheiden.
Auf dem Weg zum Gottmenschen
Yuval Noah Harari beschreibt in seinem Buch „Homo Deus“ gleich drei Höherzüchtungsstrategien.
„Das ‚Upgrade‘ von Menschen zu Göttern kann auf drei Wegen erfolgen: durch Biotechnologie, durch Cyborg-Technologie und durch die Erzeugung nicht-organischer Lebewesen. Die Biotechnologie (oder noch umfassender Bioengineering) geht von der Erkenntnis aus, dass wir weit davon entfernt sind, das volle Potenzial organischer Körper auszuschöpfen.“
Harari hält es zum Beispiel für möglich, dass die Stammzellenforschung bald in der Lage sein wird, „ein unbegrenztes Angebot an billigen menschlichen Embryonen zu erzeugen“. Aus diesen könnten dann jeweils diejenigen mit den genetisch besten Eigenschaften ausgewählt werden. „Man wiederhole dieses Verfahren über ein paar Generationen, und am Ende hat man tatsächlich Übermenschen (oder eine gruselige Dystopie).“
Ehrfurcht vor dem Leben, wie es Albert Schweitzer nannte, sieht jedenfalls anders aus. Wie kaum anders zu erwarten, sagt auch Harari voraus, dass die Technik-Avantgarde dem Gras nicht beim Wachsen zusehen wird, sondern vielmehr kräftig von oben daran ziehen wird.
„Die Biotechnologie wird nicht geduldig darauf warten, dass die natürliche Selektion ihren Zauber entfaltet. Vielmehr werden sich die Bioingenieure den alten Körper des Sapiens vornehmen und seinen Gencode bewusst umschreiben, seine Gehirnströme neu ausrichten, sein biochemisches Gleichgewicht verändern und ihm sogar völlig neue Gliedmaßen wachsen lassen.“
„Wir sind die Borg“
Neben dem Traum von Unsterblichkeit und einer drastischen Erhöhung des durchschnittlichen Glückslevels des Menschen mittels Biochemie, lautet das dritte große Ziel in aller Bescheidenheit: Göttlichkeit.
„Das dritte große Projekt der Menschheit im 21. Jahrhundert wird es sein, dass sie für sich göttliche Schöpfungs- und Zerstörungsmacht erwirbt und den Homo sapiens zum Homo deus erhebt.“
Dieser Prozess wird sich nicht von heute auf morgen vollziehen, wohl aber so schnell, dass heute lebende Menschen noch eine Menge von diesem Übergang mitbekommen werden.
„In ihrem Streben nach Gesundheit, Glück und Macht werden die Menschen ganz allmählich zuerst eines ihrer Merkmale, dann noch eines und noch eines verändern, bis sie schließlich keine Menschen mehr sind.“
Auch der Cyborg, das Mensch-Maschine-Doppelwesen, zeigt sich schon am Horizont der Geschichte. So unheimlich wie die „Borg“ aus dem Star-Trek-Universum müssen diese Zukunftsmenschen gar nicht wirken. Schon der Träger eines Herzschrittmachers, der Amputierte mit angeschlossenem bionischem Arm oder der Smartphone-Besitzer, der mit seinem Gerät untrennbar verschmolzen scheint, sind Vorboten einer neuen Evolutionsstufe, die Potenziale, jedoch auch Gefahren birgt. An Gehirn-Computer-Schnittstellen ebenso wie an der zunehmenden Vermenschlichung von Maschinen wird mit Hochdruck gearbeitet. Statt „Super“ ist hierfür aber inzwischen eher die Vorsilbe „Trans“ en vogue. Der Transhumanismus beschäftigt sich mit der Überwindung herkömmlicher menschlicher Grenzen mittels technischer Applikationen.
Eugenik 2.0
Vergleicht man die Übermenschen-Fantasien der Transhumanisten mit denen der Nazis, so können wir ähnliche Ziele und eine ähnliche Grund-Mentalität feststellen, wohl aber Uneinigkeit bei einigen Details. Hitler und seine Anhänger verknüpften die Eigenschaften des „höheren“ und „niederen“ Menschen mit äußeren Körpermerkmalen. Schon die unbefangene Beobachtung unserer Mitmenschen zeigt aber, dass Qualitäten wie Kraft, Schönheit, Intelligenz und Kreativität nicht an einen Blondschopf und helle Haut gebunden sind. Es wäre nicht nur in hohem Maße beleidigend, etwa Juden und Menschen aus der arabischen Welt die „Kulturfähigkeit“ abzusprechen — der so Denkende machte sich auch lächerlich.
Heutige Höherzüchter gehen weitaus subtiler vor, Hautfarbe und vergleichbare Merkmale sind ihnen egal. „Doch während Hitler und sein Gefolge solche Übermenschen mit Hilfe von Zuchtwahl und ethnischer Säuberung produzieren wollen, hofft der Techno-Humanismus des 21. Jahrhunderts, dieses Ziel weitaus friedlicher zu erreichen, nämlich mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnologie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer“, so Harari.
Ist „Übermenschentum“ also unser aller Zukunft? Hierauf könnte man antworten: „Nur wenige sind auserwählt.“ Harari entwirft ein plausibles Szenario, wonach sich die Menschheit zunehmend in eine kleine Elite und den zu vernachlässigenden Rest aufspalten wird. Das scheint keine sehr originelle Erkenntnis zu sein, denn in Bezug auf Geld und Privilegien gibt es diese Spaltung schon lange. In Zukunft könnte aber hinzukommen, dass der reichen Avantgarde auch bio- und gentechnologisch optimierte Körper sowie Cyborg-Implantate zur Verfügung stehen werden, während alle „Normalen“ in den beklagenswerten Körpern des „alten Menschen“ feststecken werden.
Die Technik-Apartheid
„Das System wird nach wie vor einige einzigartige Individuen wertschätzen, aber dabei wird es sich um eine neue Elite optimierter Übermenschen und nicht mehr um die Masse der Bevölkerung handeln“, schreibt Harari. Für den Rest von uns könnte es eng werden. „Manche Ökonomen sagen voraus, dass nicht-optimierte Menschen früher oder später völlig nutzlos sein werden.“ Nutzlos aus wessen Perspektive?
Sehen wir einer Horrorvision ins Auge: Klaus Schwab, Bill Gates und Karl Lauterbach — so wie sie jetzt sind, nur unsterblich und auch noch in 100 Jahren aktiv, mit Superkräften ausgestattet und durch Cyber-Implantate upgegradet!
Währenddessen würden gewöhnliche Menschen – da sie in dieser hohen Zahl nicht mehr ökonomisch verwertbar sind — eher einen „Downgrade“ erleben. Wir erkennen die ersten Schritte auf diesem Weg schon in Form einer aufoktroyierten Geistesverengung durch die Medien und einer zunehmenden Gehorsamsdressur. „Es könnte gut sein, dass wir unsere Körper und unsere Gehirne erfolgreich optimieren, dabei aber unseren Geist verlieren. Tatsächlich könnte der Techno-Humanismus die Menschen am Ende ‚downgraden‘“, schreibt Harari.
Die plausibelste Vorhersage über den Menschen der Zukunft geht wohl dahin, dass es auf mindestens zwei Klassen von Individuen hinausläuft: auf Technik-Apartheid. Der bewusst und zielgerichtet degradierte Herdenmensch, soll — wie sich bereits jetzt andeutet — vor allem eines: funktionieren und gehorchen. Die Funktion des Homo ovis (Schafmenschen) wird sich darin erschöpfen, dem Homo deus (Gottmenschen), durch den er beliebig steuer- und manipulierbar ist, zu dienen.
Der letzte Mensch
Es könnte gut sein, dass man technikbegeisterte oder innovationsopportunistische Personen mit dem Versprechen eines „höheren“ Menschentums dazu verführen wird, sich Geräte mit Smartphone-Funktionen implantieren zu lassen.
Wenn sie aus diesem kalten Rausch aufwachen, werden sie dann merken, dass sie nur totalüberwachte, ferngesteuerte Herdenmenschen geworden sind — kraft- und willenlos, hypernervös und apparateabhängig.
Vielleicht halten sich solche „Versuchspersonen“ wegen ihres übertrainierten logisch-naturwissenschaftlichen Verstands und ihrer verflachten Emotionalität dann für Mr. Spock und sind doch in Wahrheit zu gleichgeschalteten Borg-Drohnen geworden. Darin wären sie Nietzsches Negativ-Vision vom „letzten Menschen“ weitaus näher als seinem ersehnten „Übermenschen“.
Es muss nicht so kommen, aber die Aggressivität der technokratischen Höherzüchter und die Naivität ihrer vielen Anhänger und Mitläufer lässt das Schlimmste befürchten. Beim Marsch in die neue Welt wird eine sicherlich als nicht zukunftsfähig aussortiert werden: die Freiheit. Die Menschheit könnte dann enden wie das letzte Kapitel von George Orwells Roman „1984“: mit der bedingungslosen Identifikation mit dem Peiniger. „Er/sie liebte den Großen Bruder.“ Im Gegensatz zum Roman ist in der Wirklichkeit das Ende jedoch noch nicht geschrieben. Noch können wir gegensteuern.
Die gnadenlosen Umerzieher
Träume vom „Neuen Menschen“ deuten meines Erachtens vor allem auf eines hin: dass der Träumende Schwierigkeiten hat, den „Alten Menschen“ so zu akzeptieren, wie er ist. Möchtegern-Übermenschen sollten so ehrlich sein zuzugeben, dass dieser Alte Mensch noch in ihnen steckt, in ihnen eingeschachtelt — so wie die inneren, die älteren Ringe eines Baumes nur von einer dünnen Schicht Rinde bedeckt sind. Alles, was wir im Außen bekämpfen — das geile Tier, den Neandertaler, den magiegläubigen Menschen der Jäger- und Sammlerkultur — wenn wir genau hinsehen, finden wir sie alle wieder: in uns selbst. Verachtung für den Alten Menschen ist somit zum großen Teil nichts anderes als Selbstverachtung.
Freilich ist der Zustand des Menschen — insbesondere das, was er mit der Erde anstellt — manchmal zum Verzweifeln, und der Wunsch, sich einen besseren zurecht zu kneten, insofern verständlich. Aber was den Menschen so verbesserungsfähig macht, ist ja vor allem seine Grausamkeit und Aggressivität.
Gerade die schlimmsten Gräueltaten wurden jedoch nicht von den Gelassenen begangen, die der menschlichen Schwäche mit augenzwinkernder Duldung begegneten, sondern von den verbissenen Umerziehern, den gnadenlosen Menschenzüchtern.
Letztere wollen den Fluss der Evolution mit Gewalt beschleunigen und vergewaltigen das So-Sein des Menschen mit Blick auf ein utopisches Bild möglichen Menschentums. Nichts gegen Appelle an den Menschen, sein volles Potenzial auszuschöpfen; aber überall, wo man das Wort vom „Übermenschen“ im Mund führt, ist erfahrungsgemäß auch die Idee des „Untermenschen“ nicht weit.
„Fast gottähnlich“? Verhalten wir uns doch erst einmal wirklich menschlich!