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Zivilisation im Korsett

Zivilisation im Korsett

Gerade jene Kräfte, die angetreten waren, die Macht zu kritisieren, sind aus Angst zu treuen Jagdhunden im Dienst globaler Herren geworden. Teil 3/4.

Die Kapitelzählung erfolgt über alle vier Folgen — Teil 3 setzt mit Kapitel IX. ein (Teil 1 und 2 finden Sie hier und hier). Teil 3: Vom Kampf um den aufrechten Gang, von der Ratlosigkeit der Linken gegenüber dem Heterogenen, von der vergessenen Freiheit bei Marx und von der lagergerechten Bündelung: Zero Covid.

IX.

Wer dazu neigt, Freiheit zu Zeiten einer eingeforderten Solidarität als neoliberalen Luxus beziehungsweise als Manifestation des Sozialdarwinismus — einer der gängigsten Kampfbegriffe aus dem Munde derer, die sich als links begreifen — zu betrachten, um sie guten Gewissens zurückweisen zu können, weist damit auch die Bedingung für autonomes, das heißt: mündiges und emanzipatives Denken zurück.

Ohne freie, autonome Subjekt gibt es den mündigen Menschen nicht. Und damit fällt nicht nur Immanuel Kant zusammen, sondern auch Karl Marx. Hinter Masken lässt sich kein maskenunabhängiger Gedanke fassen und die Entfremdung ist garantiert. Das Verschwinden des Mundes signalisiert das Verschwinden des autonomen Sprachrohrs samt autonomem Code. Und dies nicht bloß auf symbolischer Ebene. Dass diese Autonomie schon längst beschädigt ist und nicht erst seit Corona, und dass sie von der Macht her auch niemals gemeint war, ändert daran nichts.

Die Unbeholfenheit mit Liberté zeigt sich in einem de orientierten, also verwirrten Verhalten, sobald der Schutz und die darin eingelagerten Anweisungen einer übergeordneten Instanz wegbrechen, was aus Sicht der Unbeholfenen naturgemäß zu vermeiden ist. Fehlt dieses Korsett, verliert der Unbeholfene den aufrechten Gang, den er, da dem Korsett geschuldet, ohnehin nicht hat. Im Grunde verliert er also nichts, vielmehr wird ihm bewusst, dass er etwas nicht hat, nämlich den aufrechten Gang.

Bricht der Schutz von oben weg, sieht sich der Unbeholfene auf seine eigene Autonomie zurückgeworfen, die er als fehlende wahrnehmen muss oder aber mit der er, sofern sie sich in Restbeständen noch manifestieren würde, nichts anzufangen wüsste. Auch ließe sich sagen, er wüsste mit dem Raum nichts anzufangen, aus dem der Staat mit seinem Schutz verschwunden wäre, ein Raum, der die Forderung nach einer Souveränität von autonomen, nicht-fremdbestimmten Subjekten stellt — für Linke ein Labyrinth.

Von exakt dieser Forderung befreien die staatliche Maschine und die mit ihr einhergehenden hierarchischen Abläufe den Unbeholfenen, indem sie das Subjekt als autonomes grundsätzlich streichen. Diese Befreiung von der Freiheit ist die einzige Freiheit im „linken Etwas“, wie sich bislang gezeigt hat. Das Korsett erspart die Erkenntnis beziehungsweise das Gewahrwerden der Unzulänglichkeit und Zerrissenheit, die sich aus dem Umstand ergeben, dass ein Autonomiebegehren entweder schon gänzlich gelöscht ist oder falls es noch existiert, überfordert und dementsprechend mehr ängstigt als das, was sich als Grund für den Ruf nach dem Korsett anführen oder bei Bedarf inszenieren lässt — also mehr als die Viren. Und so ist es im Kern die Autonomie selbst, die verwirrt.

Zu Beginn dessen, was als „Pandemie“ aufgetragen wurde, gab es die Situation, dass der Staat seine Rolle nicht gleich finden konnte oder wollte (1). Vielleicht begriffen die Politiker die ihnen vom Kapital — Philanthropen, IT, Pharma et cetera — zugehaltenen Texte nicht oder sie spielten sie den häufigen Proben zum Trotz schlecht, sodass für einige Wochen die Wahrnehmung des Wegbrechens einer schützenden Instanz aufkommen konnte, vor allem bei solchen, deren Fokus stets und immer auf diesen Schutz gerichtet ist. Und in der Tat — ganz im Sinne der obigen Ausführungen — bestand die Kritik linker und grüner Politiker, nach wenigen Wochen aufkommend, überwiegend darin, ein besseres Krisenmanagement einzufordern, einen direktiveren Staat, das heißt: Die politische Linke verlangte, der Logik der De orientierung und Verwirrung folgend, ein stärkeres Korsett und also eine weitgehende Entmündigung der Menschen (2).

X.

Wo die Maschinerie fehlt, breitet sich aus, was von ihr zusammengedrängt, überschrieben und über sedative Ventile abgelassen wird. Dieses Überschriebene ist das Autonome und in dieser autonomen Dimension — das scheint linken Theorien Unbehagen zu bereiten, allerdings ist das auch dem Kapital nicht genehm — ist der Mensch kein pflegeleichtes Glied einer Dienstleistungs- oder Produktionskette — bei Amazon im Lager werden zwecks besserer Ankettung an die Effizienz Windeln getragen —, ebenso wenig eine pflegeleichte Partei- oder Gewerkschaftsnummer, die man mit Hymnen und Parolen beziehungsweise dann und wann mit Spaß ruhigstellt.

In seiner autonomen Dimension ist der Mensch nicht homogen, einfügbar, effizient, smart. Er ist vielmehr störanfällig, agiert nicht zielgerichtet und ganz bestimmt nicht optimiert und effizient, doch manchmal genial.

Effizienz und Freiheit schließen sich aus. Es ist das schwer zu Fassende, schwer zu Zähmende, das, was sich der Maschinerie widersetzt und ihren funktional-materialistischen Abläufen: Träume, Freiheit, Todesnähe, Biologie. Autonome Subjekte sind Gefährder, die ein Adolf Hitler in Lager, ein Markus Söder in Quarantäne und ein Bill Gates geimpft und digital erfasst sehen wollen. Auch Linke glätten Gefährder.

Ist dieses Glätten die einzige linke Antwort auf die Frage nach Autonomie? Oder hält das „linke Etwas“, das sich verwirrt zeigt ob der autonomen Beschaffenheit des Menschen, doch anderes noch bereit? Welche Räume nimmt das Verstörende, Unangepasste im „linken Etwas“ ein? Das Quere, Verstörende, die Lust? Gibt es überhaupt einen Ort dafür? Oder geht linkes Denken stets von einem geglätteten Menschen aus, der sich konform verhält? Angepasst, gehorsam? Der keine Träume hat, keine Utopien, keine autonome Lust, der Todesnähe scheut und die Ängste mit Parolen überdeckt? Was bietet linke Theorie bezüglich des Umgangs mit Ängsten an außer Gegenängste, die nach der Totalüberwachung schreien lassen (3)? Wie wird der Mensch als nicht auf Funktionen reduzierbares Wesen in linken Denkmustern aufgegriffen? Wie steht es um das Romantische im Menschen, das Radikalromantische?

Michel Foucault — zum Beispiel — greift solche Fragen auf. Besonders, wenn er auf George Bataille, einer „schrägen Figur“ in der Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Bezug nimmt (4). Bataille schenkt dem Unartigen, Queren, dem Störanfälligen des Menschen, von bürgerlichen Funktionen überschrieben und zugedeckt, große Aufmerksamkeit. Verschwendung, Irrationales, Entartetes abseits von Optimierung und Effizienz: Das sind seine Themen. Er nennt es das Heterogene und übernimmt dabei einiges von Friedrich Nietzsche. Foucault verarbeitet es weiter, was beiden alsbald den Vorwurf der Faschismusnähe einbringt.

Nach allem, was wir wissen, ist es umgekehrt.

Nicht das Heterogene führt den Faschismus herbei. Die Homogenisierung, die Bündelung und in neuester Form die digitale Raffung durch Algorithmen: Das sind die Begehren des Faschismus.

Und ganz bestimmt ist es nicht der Fehler eines Bataille und eines Foucault oder anderer Denkmodelle und Denklinien, die sich dem Heterogenen zugewandt haben, wenn im „linken Etwas“ Leere herrscht im Hinblick auf das Ausscherende und Querschlagende und Störende. Vielmehr sind es am Ende die mechanistischen Wünsche nach Führung von oben, nach Klarheit, die den Faschismus begünstigen und herbeiführen.

Dass Träume, Lust, Fantasien, Unzähmbares, Freiheitswünsche im Faschismus keine Rolle spielen, das ist nicht meine Behauptung. Aber dass all dies sich erst in unterdrückter, „korsettierter“ Form bündeln lässt, das beziehungsweise diese Bündelung zeichnet Faschismus aus und ist exakt die Ungeheuerlichkeit, die sich, wie wir in diesen Tagen sehen mussten, aus dem „linken Etwas“ schält: Lust als Zucht. Beispiel der SPD-Senator des Inneren zu Berlin Andreas Geisel und seine Polizeischwarzhemden: Eine pervertierte Figur der Romantik, die sich als personifizierte Antwort auf die systemische Frage liest, weshalb das „linke Etwas“ am Ende zur Züchtigung beziehungsweise zur Null-Toleranz-Lösung neigt — einer Lösung, der das Lager samt systematisch herbeigeführtem Brechen des aufrechten Gangs immer schon eingeschrieben ist.

Wenn das „linke Etwas“ auf die Frage nach dem Leben versagt, so ist es bei diesem Versagen nicht allein. Jeder Materialismus gelangt an Grenzen. Beim Bündeln wird Irrationales rationalisiert. Das Rationalisierte, das dabei herauskommt, erweist sich in aller Regel als irrationaler denn das Irrationale, wie es zunächst war: irrationaler um den Faktor der Entmündigung — für die große Vernichtung eine unentbehrliche Voraussetzung.

Materialismus per se — vielleicht bis auf die Sprachspielvarianten — hat womöglich einen gewissen Hang zur Blindheit gegenüber diesem Mechanismus und insofern sind seine Aussagen zum Heterogenen des Menschen dürftig. Wird dann persönliche Freiheit und Würde gestrichen, und Linke behaupten, es sei die Freiheit für das Kapital, die gestrichen würde, und nicht die Freiheit der Rede und des Denkens, nicht die Freiheit anderer Entwürfe, nicht die Freiheit des Traums — Welche Bedeutung hat schon ein Traum in einem Korsett? —, so tritt hierbei die geistige Dürftigkeit offen zutage.

Für Idealisten stellt sich die Lage gänzlich anders dar: Der Traum ist der Aufbruch zu etwas anderem. Er zielt immer gegen das Gegebene und also gegen die Macht. Das Beruhigende, das ihm beikommt, ist kein Sedativum zwecks Optimierung der Bündelungseignung. Vielmehr beruhigt er den Menschen in seiner Autonomie, verleiht ihm überhaupt erst die Idee und das Format, autonom zu sein und den systemsedativen Verlockungen — die Zucht nimmt ja zuweilen auch Spaßform an — zu widerstehen. Freiheit und Träume sind subversiv. Und während ein Bataille und ein Foucault, während Idealisten die Subversion immer wieder neu dachten und dabei zuweilen auch gefährlich auf die Nase fielen, fristet das Subversive im „linken Etwas“ ein kümmerliches Dasein (5).

XI.

Was im „linken Etwas“ im 20. Jahrhundert eingefüllt, was daraus entfernt wurde: Marx hat damit wenig zu tun. Ganz bestimmt ist er auch nicht verantwortlich für das, was sogenannte Marxisten an Inhalt ausgeben. Im Rahmen dieses Gedankengangs interessiert die Stellung, die Marx der Freiheit zuschreibt. Als Freiheitsphilosoph ist er nicht in die Geschichte eingegangen. Gleichwohl lässt die kurze berühmte Stelle aus dem „Kapital“ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

„Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.“ Und weiter: „Jenseits desselben (= Reich der Notwendigkeit, Anmerkung des Autors) beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann“ (6).

Es ist die Metapher, die Freiheit ausdrückt: Aufblühen.

Sie liegt außerhalb der eigentlichen materiellen Produktion, also des Kernfokus der Marx‘schen Denklinien, die sich mit der Basis der Freiheit beschäftigen: der Not und der Zweckmäßigkeit, die in der Sphäre der materiellen Produktion gegeben sind. Was sodann aufblühen kann, gehorcht nicht der Notwendigkeit. Marx teilt die Sphären explizit, obgleich das Aufblühende seine Basis in der anderen Sphäre hat. Bedingungen müssen gegeben sein, damit Freiheit sich entfalten kann. Was indes aufblüht, ist nicht geglättet, nicht homogen.

Wir erkennen in dieser Metapher das Heterogene des Menschen. Marx bindet die Grundlage des Heterogenen an materielle Bedingungen, setzt die Entfaltung aber ontologisch voraus beziehungsweise davon ab. Im Umkehrschluss: Not und äußere Zweckmäßigkeit schränken Freiheit ein oder auch gänzlich aus — doch ändert dies an der Bestimmung der Entfaltung selbst nichts. Ganz im Gegenteil: Die Freiheit, die aufblühen kann, schreibt den materiellen Bedingungen eine Richtung ein. Die Bedingungen sind daraufhin zu lesen, inwiefern sie der Freiheit zur Entfaltung gereichen. Und das ist gänzlich kongruent mit einem Freiheitsbegriff, den Kritiker des Grundrechtsentzugs auf dem Rosa-Luxemburg-Platz im Frühjahr 2020 verwendet beziehungsweise impliziert haben und hat mit einem neoliberalen Freiheitsbegriff nichts zu tun.

Marx‘ Kritik, generell gesprochen, zielt nachgerade darauf, Mechanismen der Not und der Zweckmäßigkeit so herauszustellen, dass die darin angelegte Entfremdung des Menschen deutlich wird. Insofern tritt der bei Marx zentrale Begriff der Entfremdung antagonistisch zur Freiheit auf und insofern gibt es eine bedeutende Perspektive von Marx auf Freiheit, eine allerdings, die wesentlich über die Entfremdung zustande kommt, die sich aus Not und äußerer Zweckmäßigkeit ergibt. Demnach stellt Marx eine Freiheit, die den Zweck nicht außerhalb, sondern in sich hat — und in diesem Augenblick auch keine Staatsinstanz duldet —, nicht nur nicht in Frage, er setzt sie über die Sphäre des Materiellen, welche so gesehen lediglich die Basis bildet.

Ich verbinde: Wenn linke Politik im großen Bund aufgeht, nach Führung verlangt und gegen Ausscherende einschlägt, tauchen paar Viren auf, so liegt das nicht an Marx. „Befreit Marx von den Marxisten!“, so folgert Jacques Derrida in „Marx‘ Gespenster“ (7). Zieht die Liberté aus dem Raum ab, in dem sie sich nicht entfalten kann, wo sie in Not und äußerer Zweckmäßigkeit verkümmert! Während Marx nämlich die Freiheit außerhalb der Not ansetzt, wenngleich in ihrer Entfaltung von materiellen Bedingungen abhängend, bekommt die Freiheit bei den Linken, wie es sich in diesen Pandemietagen gezeigt hat, keine andere, eigene Sphäre. Sie klebt in der Not fest.

Und so wäre mit Derrida weiter zu fordern: Befreit die Freiheit aus „dem linken Etwas“, aus der Sphäre der Not! Und die Linke selbst vergesst ihr danach am besten, das heißt, versucht ihr euch zu erinnern, so werdet ihr feststellen: Es gibt eine Lautfolge, LINKS, einen Signifikanten. Aber da ist nichts, was dieser Lautfolge entspräche, kein Signifikat. Denn das Signifikat erweist sich am Ende stets als Kapital, die Linke also ein halbes Zeichen. Und halbe Zeichen sind keine Zeichen. Sind nichts.

XII.

Blenden wir auf den Beginn zurück und vergegenwärtigen uns: Freiheit ist die Bedingung für die Mündigkeit und damit für Autonomie des Einzelnen gegenüber Macht, jeder Macht. Und setzen wir nun ein: Beate Bahner, eine Nicht-Linke, womöglich eine Liberale — so nehmen wir an — setzt ihre bürgerliche Existenz, ihre Karriere aufs Spiel, nimmt Psychiatrisierung in Kauf — Zähmung, Domestizierung: hier schließt Foucault nahtlos an —, indem sie, auf das Grundgesetz verweisend — gleichgültig, ob dieses jemals „so gemeint“ gewesen sein sollte oder nicht — Freiheit fordert. Gesetzt, Autonomie gegenüber institutionalisierter Macht sei die Grundlage jeder sozialen Gerechtigkeit und Solidarität. Deshalb gesetzt, weil Fraternité und Égalité nur ausgehend von freien Entscheidungen das sind, was sie zu sein behaupten.

Dies also vorausgesetzt, hat Beate Bahner als Liberale, als Nicht-Linke gehandelt wie „wir“ Linken „uns“ linkes Handeln einst vorgestellt haben. Sie hat nämlich nicht zweckgebunden gehandelt, genauer: nicht im Hinblick auf einen für sie vorteilhaften Zweck im Bereich der Not und der Zweckmäßigkeit des Systems. Vielmehr hat sie die andere Sphäre eingefordert, in der die Freiheit „aufblühen“ (Marx) kann. Dagegen gestellt sind jene linken Intellektuellen, die über Jahre den Neoliberalismus — zu Recht, aber aus welcher Haltung heraus eigentlich? — kritisiert haben. Sie haben just mit ihrer Einbettung dieses „linken Handelns“ (einer Nicht-Linken) in einen neoliberalen Kontext Kritik von den Zentren der Macht abgezogen und also dem Kapital zugedient.

XIII.

Covid Zero: Wer seine Unterschrift da hinsetzt, sehnt sich nach Putzen, Reinemachen, Säuberung. Die Sehnsucht nach der Reinheit ist nicht neu. Ihr ist, übertragen in eine politische Forderung, alles eingeschrieben, was der Entfernung des Unreinen dient: zunächst Zucht, dann Ausmerzung. Es ist die Unterschrift unter die Endlösung. Keine Viren bedeutet: Der Mensch ist fällig, denn der Mensch ist ein Virenwesen.

An einem bestimmten (leicht herbeiführbaren) Punkt ist die ständige Bedrohung, das Unklare, das Ungewisse, der Mensch mit all seinen Facetten, Viren inbegriffen, einfach nicht mehr auszuhalten und deshalb wird nach der Lösung aller Probleme gerufen. Selbstverständlich wissen die Menschen nicht, was sie wahrhaftig unterschreiben, wenn sie unterschreiben. Und dann teilnehmen am Programm. Am Reinemachen. Zero von dem, Zero von diesen. Zero überhaupt. Allein der Gedanke an etwas außerhalb von Zero, der Gedanke, dass da noch etwas wäre, herumkröche, fleuchte, kröche und wuselte, nicht fassbar, nicht ortbar, lässt einen verrückt werden (8). Und auf alles einschlagen. Bis es still ist. Still und tot. Zero life. Sie haben es auch damals nicht gewusst.

Null Toleranz: Das ist die Forderung der politischen Linken — mit Glanz in den Augen. Das Ende der Autonomie geht mit Kitsch einher. Die Demut der solidarischen Geste verlangt danach, verlangt nach Großem. Sind die Freiräume als Beleidigung weg, kann der Selbsthass zu sich kommen — ohne Angst, ungestört vom Anderen, vom Entarten, vom Unkraut. Wo er zu sich kommt, findet die homogene Gemeinde zusammen, die Heilsgemeinschaft, als Pronomen das WIR. Die Figur, die verspottet, ist weg: Zero, keine Viren, keine Leugner — nur Gleichgesinnte.

Wer Covid Zero einfordert, fordert das Ende. Die Bedingungen des Lebens sind zu löschen, das Menschsein selbst.

Dass die Linke allein über diese komplette Selbstverstümmelung sich als Gestalt noch manifestieren kann, hat mit der Subjektrolle zu tun, die das Kapital vergibt: Das usurpierte Subjekt spricht die Sätze des Kapitals — mit der Totalzerstörung als Inhalt — als die eigenen aus. Sätze des Heils. Und usurpierter als Linke in einer kapitalistischen Machtkonstellation ist niemand. Deshalb aus ihrem Mund die umfassendsten, die fundamentalistischen Forderungen der Impfindustrie als letzter Versuch des Kenntlichwerdens über die größtmögliche Zerstörung: den Great Reset. Hitler hat exakt genau so funktioniert (9).

XIV.

Wir brauchen keinen Xi Jinping, um zu erklären, wie der totale Schutz über uns gekommen ist. Man mag das chinesische Modell als Blaupause ansehen, als Metapher auch. Und wer Planung mit Sozialismus gleichsetzt, mag dem Corona-Totalitarismus das Adjektiv „sozialistisch“ beigeben. Beim Faschismus, der augenblicklich bei der Einreihung ins Gefüge unter ständiger Züchtigung der Ausscherenden und der Beschneidung von Autonomie gilt, sind indes die Mechanismen zuständig, die ich herauszustellen versucht habe. Weshalb das alles — vom Kapital her gesehen — so gut funktionieren konnte, ist damit noch nicht geklärt. Dass nicht nur die Linke, dass die Menschheit erkenntnisunfähig geworden ist: Das ist der Schlüssel zum Glück. Und in der Tat war es für das Virentheater bei den vorangegangenen Versuchen, bei Schweine- und Vogelgrippe, noch zu früh. Das Erkennen war schon beschädigt, jedoch nicht beschädigt genug.

Beispielsweise gab es damals tatsächlich noch Journalisten bei ARD, ZDF, Spiegel et cetera, welche die Pandemie-Inszenierung dekonstruierten. Im Jahr 2020 aber konnte die systematisch herbeigeführte erkenntnistheoretische Verstümmelung ihre Früchte ernten. Erst wenn Erkenntnis gänzlich zur Verschwörung und Bildung zur Handhabung — Kompetenz, Anwendungswissen, Begreifen von „Manuels“ — geworden sind, kann eine Pandemie greifen, die mit ein wenig Grundschulkenntnissen in sich zusammenfällt. Wer das Material kennt, das Grundschulen heutzutage austeilen, Serienware produziert von Stiftungen, Serienware ohne Raum fürs Ausscheren, und wer weiß, dass diese Serienware auf dem gleichen Niveau sich sodann durch sämtliche Bildungsstufen zieht, der, vorausgesetzt, dass er nicht selbst schon der Anwendung zum Opfer gefallen ist, erkennt, an welcher Stelle vom System her zuallererst dem Super-GAU zuzuarbeiten war. ZERO Knowledge.


Teil 4 stellt die vielleicht wichtigste Grundlage für den erkenntnistheoretischem Super-GAU heraus: die Durchdringung der Bildung mit Geschäft. Das Geschäft ist noch tödlicher als das „linke Etwas“. Es geht diesem nämlich voraus — und tötet die Neugier und damit das Geheimnis des Lebens. Damit schließt der Essay.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Es ist denkbar, dass das anfänglich widersprüchliche Verhalten verschiedener Exekutiven höheren Orts nicht konzeptlos implementiert, sondern auf bestimmte Effekte hin angelegt worden ist, Effekte, was die Empfänglichkeit der Massen für alles Weitere betrifft.
(2) So tritt diese Verwirrung meines Erachtens auch in einem Interview auf, das Rainer Mausfeld, ein exzellenter Kritiker des Neoliberalismus, im Mai 2020 gegeben hat: Implizit wird in seinen Ausführungen das passive Erdulden der exekutiven Anordnungen zu einer emanzipatorischen Leistung, vergleiche Der autoritäre Planet; vergleiche auch meine Kritik: Vernunft und Empörung.
(3) Der Lagertechniker Nick Bostrom, der in Oxford einen Lehrstuhl für Philosophie besetzt und in jeder Hinsicht in Hitlers Ideologieteam gepasst hätte, repräsentiert diesen Schrei, ins Akademische gewendet, besonders eindrucksvoll, vergleiche dazu auch die präzisen Aussagen Walter van Rossums in „Meine Pandemie mit Professor Drosten“, 2021.
(4) George Bataille ist ein wenig systematischer, sich selbst als politisch links bezeichnender Philosoph und Literat mit einem exzessiven Hang zum Unartigen, Verpönten, Obszönen, dabei oft auf Marquis de Sade referierend; seine Schrift „Die psychologische Struktur des Faschismus“ versucht, faschistische Muster aus dem „Heterogenen“ und dessen Kanalisierung abzuleiten; er bezieht sich ausdrücklich auf Friedrich Nietzsche.
(5) Wollte man das Heterogene bei Linken finden, man müsste es bei linken Idealisten, Querköpfen, Esoterikern, Technologie- und Zivilisationskritikern suchen. Bei Günther Anders zum Beispiel, auf den ich bereits verwiesen habe. Ein Philosoph abseits des akademischen Betriebs. In den 70ern hatten er und ähnliche Geister noch einen gewissen Einfluss auf linke Politik, was sich in einer damals starken Anti-Atom- und Anti-Kriegsbewegung spiegelte. Diese Idealisten gibt es heute bloß noch als Ausgelagerte, gekennzeichnet als „Nazis“ und dergleichen.
(6) Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1988. Seite 828.
(7) Auf das Werk „Marx‘ Gespenster“ von Jacques Derrida habe ich bereits verwiesen. Der Text de konstruiert nicht nur den ersten Versuch einer finalen Erzählung des Kapitalismus nach dem Mauerfall, er macht auch deutlich, dass es Marx von den Marxisten abzutrennen gilt, um zu Marx zu gelangen. Dahin zu gelangen, wäre wiederum wesentlich, um den Totalitarismus des Kapitals zu erkennen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass der NZZ -Schreiber Hans Ulrich Gumbrecht anlässlich von Derridas 90. Geburtstag einen Text verfasst, indem er an Derrida als einem zu Recht Vergessenen erinnert. Abgesehen davon, dass diese Figur („An etwas Vergessenes Erinnern“) sich gleichsam selbst hintergeht, ist festzuhalten: Das Erinnern an einen Zu-Recht-Vergessenen (der Marx zu Unzeiten schärft) hat eine konkret symptomatische Dimension hinsichtlich erkenntnistheoretischen Super-GAU, in dem wir uns wiederfinden: An Derrida als Machtkritiker (wie in Teil 2 dieses Essays herausgestellt) und an Derrida als derjenigen, der die Marx‘sche Lektüre gegen den „Sieg“ des Kapitalismus in Stellung bringt, Anfang der 1990er, ist im Sinne der Machtverschleierung selbstverständlich als an einen zu Recht Vergessenen zu erinnern. Insofern wird bei dieser Erinnerung an das Vergessen von Derrida in sich richtig von einem Philosophen der Beliebigkeit gesprochen. Dieses Erinnern, von diesem erwähnten Gumbricht in diesem Fall vollzogen, allerdings „zer setzt“ sich allein schon deshalb, weil es gar kein Erinnern ist, hat dieses Erinnern doch von Anfang an die Machtkritik ausgeblendet, nicht erkannt, vergessen. Wenn es also erinnert, erinnert es an das eigene Vergessen oder Ausblenden. Treten Vergessene hervor, ist der Schrecken größer.
(8) Wer sich auf Überraschendes einlässt: Der Autor Sebastien Fanzun führt in seinem Text „Millennium Mambo“, ausgehend von der nach dem viralen Ausbruch aufkommenden Forderung, asiatische Wet Markets zu schließen — „ein alter Reflex des Kapitalismus (...), jeden offenen Markt mit harten Oberflächen zu begrenzen und auszumerzen“― ins Gewühl eines Marktes von Taipei, „dessen Grenzen zwischen Innen und Aussen sich zu einem pulsierenden, überwimmelten Basar auflösen (...) Verlässt man die Metrostation Chientan in Taipei und folgt der Menschenmenge, wird man ins ausgedehnte leuchtende Gewimmel und Getöse des Shilin Night Market hineingezogen. Durch eine Kakophonie sich überlappender Klangblasen — schummrige Musik aus zahllosen billigen Stereoanlagen, mikrophonverstärkte Marktrufe, lebhafte Feilscherei und der unregelmässige sonore Glockenschlag eines buddhistischen Bettlers — betritt man immer engere, dichtere Räume, Schläuche, Strudel von seltsamen Gerüchen, Ereignissen, und Begegnungen.“ Eine dichte Metapher für Leben, für Kommunikation, für Interaktion, für das Heterogene schlechthin. Und das ist auszumerzen. Covid Zero. Übrigens nicht nur des Gewimmels wegen, das mit Hygiene zu überziehen ist, sondern auch weil jedes Bereinigen dem Kapital zugutekommt. Schutz als Gewinn. Fanzun schreibt: „Der Staat wird dazu angehalten, die ‚Öffentlichkeit‘ vor Märkten zu schützen, mithilfe von Regulation, Kontrolle und Stadtplanung, und im Namen von Sicherheit und Hygiene.“ Voilà. Vergleiche https://delirium-magazin.ch/section/category/home/millenium-mambo.
(9) „Wer Zero Covid fordert, fordert am Ende Auschwitz.“ Diese Aussage nehme ich aus dem Lauftext heraus, weil auch dieser Text und sein Erscheinungsort soziokulturellen Bedingungen unterliegen, Bedingungen, welche die Aussage eigentlich auch als Fußnote verunmöglichen — deshalb in Anführungszeichen. Eine Figur sagt das. Weshalb? Die Erkenntnis zu ignorieren, sie nicht auszusprechen bedeutet: die Vernichtung immer wieder in Kauf zu nehmen — die organisierte Vernichtung, die Vernichtung im Sinne der Ausmerzung. In der deutschen Sozialisation sind Komponenten wirksam, die selbst jene, welche die Erkenntnis getan, vor der Aussage abhalten. Außerhalb Deutschlands sind diese Komponenten weniger stark, zum Beispiel in der Schweiz. Dort ist nicht von Anfang an gesetzt, dass eine solche Aussage Auschwitz verharmlose. Es leuchtet eher ein, dass das Gegenteil der Fall ist und Auschwitz die größtmögliche Monstrosität zugewiesen wird, die über Sprache zu vergeben ist, und weiter, dass vielmehr das Ignorieren und Nichtaussprechen dieser Erkenntnis die Verharmlosung darstellt. Das Gerede von der Verharmlosung als Voraussetzung für die Reimplementierung, nämlich im Windschatten dieses Geredes: ein Muster der radikalsten Machtverschleierung, die jetzt, da in Europa der Faschismus über die ganze Fläche hin reinstalliert wird, aufgeht. Entscheidend für die Auschwitz-Referenz ist das Wörtchen ZERO und das Begehren, das ihm einlagert. Auschwitz war nicht deshalb möglich, weil Hitler und seine Anhänger so abartig monströs gewesen wären, sondern weil die Monstrosität, die ein Auschwitz ermöglicht, und die Normalität, die gilt, erschreckend nahe zusammenliegen.

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