Nach dem Studienabschluss kam das böse Erwachen: Die Arbeitswelt. Sechs Jahre Studium, um von nun an neun Stunden am Tag in einem grauen Büro im hässlichen Pariser Norden eingesperrt zu sein. Für einen Zahnarztbesuch musste ich einen halben Urlaubstag opfern. Nach dem Feierabend ging ich mit meiner Freundin Anna shoppen oder ein Bier trinken.
Bis ich nach ein paar Monaten feststellte, dass dieses Leben völlig absurd war. Ich arbeitete in einem modernen Bürogefängnis, um Geld zu verdienen, das ich dann für Ersatzbefriedigungen wie Shoppen von Klamotten, die ich im Büro anziehen konnte, oder ein iPod für die langen Metro-Fahrten ausgab. Ich verdiente nicht viel, so dass am Monatsende nie etwas übrig blieb und ich nichts zurücklegen konnte für eine Zukunft, in der ich genug Rücklagen hätte, um anders zu leben. Es war aussichtslos. Noch nicht einmal ein Jahr in der Arbeitswelt und ich fühlte mich schon entmutigt und depressiv.
Mein damaliger Freund konnte sich mein Gejammer nicht länger anhören und empfahl mir, zu kündigen. Auf alle meine Einwände hatte er eine Antwort und so stand ich vor der harten Erkenntnis, dass es nur an mir lag, eine Wahl zu treffen.
Eines Abends oder auf irgendeiner Reise erzählte mir jemand die folgende Geschichte:
Ein alter Fischer sitzt nach getaner Arbeit am Strand und schaut auf das Meer. Ein Tourist setzt sich zu ihm und kommt mit ihm ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass er Geschäftsmann ist und er gibt dem Fischer nützliche Tipps, wie er seinen Umsatz steigern könnte. Der Fischer fragt: „Wozu?“ Der Tourist antwortet: „Damit du dir noch mehr Boote kaufen und noch mehr Umsatz machen kannst.“ Der Fischer fragt weiter: „Wozu?“ Die Antwort: „Damit du eines Tages eine ganze Flotte Fischerboote und Angestellte hast, die für dich arbeiten.“ „Wozu?“ „Damit du am Strand sitzen und aufs Meer schauen kannst.“ Der Fischer sieht den Geschäftsmann fragend an und sagt: „Das tue ich doch jetzt schon.“
Ich kündigte. Seitdem arbeite ich freiberuflich, mal mehr, mal weniger, mal mit Aushilfsjobs als Kundenserviceberaterin oder Empfangsdame, wenn ich nicht genug Aufträge hatte. Ich begann zu verstehen, dass wahrer Reichtum darin besteht, wenig zu brauchen.
Ohne, dass ich das jetzt radikal leben würde. Phasen des bewusst genossenen Luxus wechseln sich mit Phasen mit kleinen Existenzängsten ab, die mich wieder auf den Boden holen und mich daran erinnern, wie befreiend es ist, mit wenig auszukommen.
Manchmal macht es mich glücklich, mir etwas zu gönnen, manchmal macht es mich mindestens genauso glücklich, auf etwas zu verzichten. Vor allem, wenn ich mir dessen bewusst werde, dass ich dadurch weniger erpressbar bin.
Welch gute Nachricht: Wir bestimmen immer noch selbst, wie wir leben möchten. Wohin wir unsere Kraft oder Kaufkraft richten. Deshalb widmet Jens Lehrich die neue Ausgabe der Guten Nachrichten dem aktiven Widerstand durch ein konsumreduziertes Leben. Zu diesem Thema melden sich außerdem Rubikon-Autor Roland Rottenfußer, Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke und der Bestseller- und ebenfalls Rubikon-Autor Dirk. C Fleck zu Wort.
Jeder Mensch kann diese Möglichkeit des Widerstands auf seine eigene Weise deuten und leben. Jeder Mensch kann ihn auf seine Weise sofort umsetzen. Sobald Sie das nächste Mal vor einem Schuh- oder Autogeschäft stehen, vielleicht sogar schon darin stecken oder sitzen und mit sich hadern, können Sie einen Moment innehalten und sich bewusst fragen: Brauche ich die Schuhe, das Auto wirklich?
Es geht vielleicht vor allem um bewussten Konsum. Desto bewusster wir uns unserer Entscheidungen und unserer Selbst werden, desto freier werden wir. Das fängt bei kleinen Kaufentscheidungen an.
Das Geld, das wir nicht mehr für überflüssige Kaufrauschaktionen ausgeben, können wir zudem sinnvoll nutzen und damit Projekte unterstützen, die wir gut finden, anderen Menschen helfen, die nicht genug zum Leben haben, eigene Aktionen starten, die unserer Meinung nach fehlen.
Die Guten Nachrichten sind diesmal der praktische Anstoß, unser alltägliches Konsumverhalten zu hinterfragen und zu ändern, wenn wir aktiv zum Wandel beitragen möchten. Jens Lehrich:
„Die Kernfrage lautet also: Wodurch können wir diese Transformation von materiellem Konsum hin zu menschlicher Größe und Fürsorge für andere Menschen, die schwächer sind als wir, erreichen? Indem wir uns auf die Suche nach dem wahren Sinn unseres Lebens machen. Das – wie gesagt – gelingt uns nicht durch Ablenkung und Konsum im Außen, sondern nur durch eine intensive Innenschau und ein Bewusstsein dafür, was uns wirklich interessiert.“
Praktische Beispiele von Jens Lehrich, Jens Böttcher und Aufwind-Redakteurin Kerstin Chavent dienen uns als Inspiration. Wem dies nicht reicht, der kann bis zum 3. März 2019 noch bei der Valentinstagsaktion „Bücher sind die besseren Blumen“ teilnehmen und sich Lesestoff besorgen. Denn Lesen regt unser Gehirn an und hilft uns, bewusster zu leben und zu konsumieren.
Insbesondere die Mächtigen und Wohlhabenden können viel erreichen, wenn sie ihr Konsumverhalten hinterfragen – für sich selbst mehr Erfüllung, Lebendigkeit und menschliche Verbindung und für die Gesellschaft eine gerechtere Verteilung des Reichtums.
Auch die weniger Mächtigen und Wohlhabenden können viel bewegen, denn sie sind in der Überzahl. Die beste Nachricht jedoch lautet, dass ein bewusstes, konsumreduziertes Leben vor allem uns selbst sofort – und nicht in ferner, utopischer Zukunft – mit einem Gefühl der Sinnhaftigkeit und Erfüllung belohnt.