Und gerade diese Facette könnte dramatische Auswirkungen haben, da eine Verfestigung des aufgezeigten Trends die bisherigen "Lebensgewissheiten" völlig auf den Kopf stellen würde: Bislang war die Rebellion immer das Vorrecht der Jugend, während sich die Älteren mit einer (nicht unbedingt wohlwollenden) Zuschauerrolle zufrieden gaben, Dem entsprechend stellten die berühmten "zornigen alten Männer" (wie auch die dabei unerwähnt gebliebenen "zornigen alten Frauen") lediglich eine Ausnahme von der Regel dar.
Auf der anderen Seite finden wir heutzutage eine im Internet-Zeitalter aufgewachsene Jugend vor, die die Fülle der neu hinzugekommenen Medien überwiegend zum Austausch eher nichtiger Alltagsinformationen, zur Erledigung von Hausaufgaben oder zur Verabredung für ein Treffen im Rahmen diverser Events (musikalische Veranstaltungen, private Partys, casting-Termine etc.) nutzt. Und auch hier lässt sich sagen, dass die Ausnahmen (z.B. Organisation von Schüler-Demos) die - nun allerdings mit einem umgekehrten Vorzeichen versehene - Regel bestätigen.
Wie konnte es in so kurzer Zeit zu dieser scheinbaren Ablösung der Widerstand leistenden Generationen kommen? Ist das Internet schuld? Oder befördert das Internet lediglich eine Veränderung des Bewusstseins, die aus ganz anderen Gründen schon längst eingesetzt hat? Folgt man den Überlegungen einer mit diesem Thema befassten Gesprächspartnerin, muss die zutreffende Antwort nicht lange gesucht werden: "Die heutigen Jugendlichen sind von A bis Z im Turbo-Kapitalismus aufgewachsen - für die sind permanenter Leistungsdruck, ständige Kontrollen, zunehmende Privatisierungen und egozentrisches Verhalten völlig normal. Was wir jetzt erleben, sind gut dressierte Konsumenten, die nach der Maxime "Haste was, biste was!" leben und gar nicht erst auf die Idee kommen, diese Einstellung zu hinterfragen."
Ganz so düster sehe ich persönlich die Situation dann doch nicht, kann aber nicht leugnen, dass die heutigen Jugendlichen im Vergleich zu meiner Jugend ungeachtet der neu gewonnenen (Reise-)Freiheiten in einer - beginnend mit der Kindheit - viel stärker regulierten Welt leben, in der schon die Zeit des Aufwachsens zu einem Kampf um die begehrten Plätze an der Sonne geworden ist. Deshalb - und auch in Anbetracht der zunehmenden Chancenlosigkeit der weniger Erfolgreichen - ist es meines Erachtens kein Wunder, dass die heutigen Jugendlichen mehr an Dingen wie Konsum und Fortkommen als an Gerechtigkeit und Teilhabe interessiert sind.
Hinzu kommt, dass man den jungen Menschen auch die Zeit geraubt hat, sich intensiver mit den Belangen ihrer benachteiligten Mitmenschen oder mit krassen politischen Fehlentwicklungen (Lobbyismus, Vermögensverteilung, Bankenrettung etc.) beschäftigen zu können. Sowohl die Schul- als auch die Studienzeit müssen höchst konzentriert "abgearbeitet" werden, was jeden darüber hinausgehenden Blick zu einer zusätzlichen Belastung werden lässt.
Das Beispiel der angelsächsischen Länder zeigt, dass sich der auf die Jugendlichen ausgeübte Druck sogar noch weiter erhöhen lässt. Horrende Studiengebühren sind in diesen Ländern inzwischen gang und gäbe, was zur Folge hat, dass (speziell in den USA, wo sich mittlerweile mehr Studien- als Immobilienschulden angehäuft haben) die im Zeichen der Schuldentilgung stehende Jagd nach einem möglichst gut bezahlten Anschlussjob das Denken und Handeln der jungen Erwachsenen beherrscht.
In dieser Hinsicht scheint Deutschland noch eine Insel der Seligen zu sein, zumal die in einigen Bundesländern bereits eingeführten Studiengebühren inzwischen wieder abgeschafft worden sind. Doch wir sollten uns nicht zu früh freuen: Schon der jetzt vorhandene Druck hat es mit sich gebracht, dass einem immer größer werdenden "Oppositionsbedarf" eine immer kleiner werdende Anzahl "oppositionsfähiger" Jugendlicher gegenübersteht.
Und damit wird auch klar, dass der Anteil der "rebellischen Alten" nicht unbedingt zugenommen hat, sondern wegen der verminderten jugendlichen Beteiligung wahrscheinlich einfach nur sichtbarer geworden ist. Aber auch in diesem Fall läge eine Entwicklung vor, die sich - neben der inzwischen verfestigten Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich - als weiteres Bespiel einer systematisch betriebenen Schwächung der (Zivil-)Gesellschaft verstehen lässt.