Rechte Kräfte erstarken, der Verlust des „heimelig“ Vergangenen wird bedauert und der Ruf nach Gemeinschaft plätschert im crescendo (1) durch die Gesellschaft.
Der Nationalstaat in seiner gegenwärtigen Ausformung ist ein recht junges Konstrukt, das in Europa besonders während des 18. Jahrhunderts ins politische Machtinteresse rückte. Primäres Ziel war es, durch die Schaffung eines gemeinschaftlichen Zugehörigkeitsgefühls, also Identität durch Nationalität, die Folgen von Armut und Misere zu dämpfen.
In Zeiten von Europa (sozusagen „EU first“) zerbröckelt die Kraft der Nation als gemeinschaftsstiftendes legato (2). Deswegen müssen Alternativen her. Doch zu lange konzentrierten sich die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger primär auf die Belange ihrer Klientel, zu lange spielte man im Beziehungsgefüge staccato (3).
Das Spannungsverhältnis Gemeinschaft versus Gesellschaft nach Tönnies
Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein genauerer Blick auf die Unterscheidung Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie der Soziologe Ferdinand Tönnies (4) bereits 1887 in seinem Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ einführte. Tönnies sieht die Gemeinschaft als „reales und organisches Leben“ an, in welcher das Gemeinsame vor dem Einzelnen steht. Der sogenannte Wesenwille, der sich durch Gesinnung, Gemüt und Gewissen kennzeichnet, dominiert hier. Im Gegensatz hierzu stellt die Gesellschaft eine „ideelle und mechanische Bildung“ dar, wo der Einzelne vor dem Gemeinsamen steht und der sogenannte Kürwille (ein Übergewicht des Denkens) herrscht.
„In dem Begriff der Gesellschaft wird aber das Verhältnis der Indifferenz (welches richtigerweise ein Nicht-Verhältnis heißen müsste) oder der Feindseligkeit, als ein vorher gegebener Zustand angenommen, welcher sich dann in gewissen einzelnen Fällen zu einer Übereinstimmung verschwindet oder angleicht.“
Materielle Ungleichheit impliziert ein psychologisches Ungleichgewicht
Diese gesellschaftliche Indifferenz des Einzelnen besteht jedoch de facto nicht mehr in Deutschland. Am politischen Küchentisch wird gerne vom „Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich“ gesprochen, soziologisch von einer Verfestigung der „sozialen Undurchlässigkeit“. Diese materielle Ungleichheit impliziert jedoch auch eine zunehmende psychologische Ungleichheit, wie bereits Erich Fromm (5) konstatierte:
„Je stärker (…) eine Gesellschaft ökonomisch, sozial und psychologisch zerfällt, je mehr die bindende und prägende Kraft der Gesamtgesellschaft bzw. der in ihr herrschenden Klasse schwindet, desto größer werden auch die Differenzen der psychischen Struktur der verschiedenen Klassen.“
Richtigerweise muss zusätzlich von einem „Auseinandergehen der Denkweisen zwischen Arm und Reich“ oder einer Verfestigung „psychologischer Undurchlässigkeit“ gesprochen werden.
Fehlende gemeinschaftliche Basis lässt keinen Raum für Mitgefühl
Die intellektuelle urbane Elite ist genauso wenig in der Lage wie die provinzielle Masse sich in den jeweils anderen hineinzuversetzen. Beispielshalber findet der gut situierte Wähler keinen Zugang zur Lebenswirklichkeit des gefühlt-abgehängten oder tatsächlich abgehängten AfD-Protestwählers und umgekehrt.
Wo die Welt der Privilegierten sich mit für sie ideell-existenziellen Fragen von der „Slow-Food“-Kantine über emissionsfreie Motoren bis hin zu regelmäßigen Selbstfindungskursen auseinandersetzt, stehen im Lebensmittelpunkt der Protestler das Lösen materiell-existenzieller Probleme, wie etwa die Finanzierung des Lebensunterhaltes bei steigenden Mietpreisen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder das Sichdurchschlagen in einem verhassten Job.
Die einen verstehen nicht, weil es ihnen materiell gut geht. Die anderen verstehen nicht, weil sie materiell leiden.
Doch mit Verstehen ist nicht das rationale, sondern das empathische Verstehen gemeint. Beide Milieus sind schon so weit auseinander, das gemeinsamkeitsstiftende Moment beider so weit entkräftet, sodass keine gemeinsame Basis besteht, die ein gemeinschaftliches „Wir“ begründen könnte. Sowohl die einen als auch die anderen betrachten sich gegenseitig als Fremdkörper, der keines Mitgefühls, keiner Empathie bedarf.
Das Gesellschaftlich-Ökonomische unterminiert den Individualismus
Zurück zu Tönnies kommend, äußert sich hierin eine Dominanz gesellschaftlicher Verhältnisse beziehungsweise eines ökonomischen Charakters. Denn
„(…) die elementare gesellschaftliche Tatsache liegt im Tauschakt vor, (…), insofern als er sich zwischen Individuen vollziehend gedacht wird, die einander fremd sind und nichts miteinander gemein haben, also wesentlich antagonistisch oder einander geradezu feindlich gegenüberstehen.“
Doch gerade solche Überbetonung eines rationalen, zweckmäßigen Verhältnisses unterstützt eine Entfremdung zwischen unterschiedlichen Milieus und unterdrückt das Entstehen von Individualismus. Denn nach Tönnies stellt die Gemeinschaft den Ursprung des Individualismus dar, der zu seiner vollsten Entfaltung der Gesellschaft bedarf. Ohne Gemeinschaft kann also kein Individualismus entstehen.
Als Urtypus der Gemeinschaft betrachtet Tönnies die Familie, deren Zerfall er unter anderem durch den Einfluss städtischer Kultur konstatiert.
„Sie wird einem Verein ähnlich (dem Typus der Gesellschaft), der seinen Zweck außer sich hat, der wesentlich Mittel zu ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen, offenen oder verborgenen Zwecken seiner Begründer und Mitglieder ist, (…)“
Der Rückzug des Gemeinschaftlichen fördert reaktionäre Forderungen
Die Bestrebungen der Gesellschaft stehen denen der Gemeinschaft diametral entgegen. Die Gesellschaft will Fortschritt, die Gemeinschaft Stillstand, die Gesellschaft will Bewegung, die Gemeinschaft will Ruhe. Gesellschaft und Gemeinschaft stehen im ständigen Clinch, wobei die Gesellschaft die Gemeinschaft zunehmend vereinnahmt.
„Die Hast und Unruhe fortwährender Neuerung, das Allfließen, Dauer nur im Wechsel, erfüllen jenes. Dann neigt es dazu, dieses sich zu idealisieren: antik wird modern. Man sehnt sich zurück zur Natur, man sucht die alten Scharteken wieder hervor, preist und pflegt alte Lebensformen und alte Sitten, findet auch an der Religion wieder Geschmack, entdeckt im Einfachen, Hausbackenen echten Stil und kunstgerechte Formen.“
Das dal niente (6) der reaktionären Heimatrufe, einem „Zurück zur Natur“, sind logische Konsequenzen einer sich nur auf Rationalität berufenden gesellschaftlichen Fixierung der letzten Jahrzehnte. Das bedeutet wiederum die Vernunft nicht als eine rein analytisch-zweckrationale zu begreifen — wie es heutzutage Usus ist —, sondern zusätzlich als eine gemeinschaftsstiftende, wie bereits Tönnies darlegte.
Gemeinschaftliche Formationen werden zerstört
Ferdinand Tönnies erfasste drei Arten der Gemeinschaft:
- Verwandtschaft,
- Nachbarschaft und
- Freundschaft.
Der Verwandtschaft gehört ein Zusammenwesen an, das qua Blut ein Gefühl der Zusammengehörigkeit weckt. Nachbarschaft hingegen entsteht durch räumliche Nähe und wechselseitiger Interaktionen (Zusammenwohnen). Freundschaft wiederum entsteht in einem gemeinsamen Geiste, das wiederum einen Wesenwillen schafft (Zusammenwirken).
Alle drei Gemeinschaftsformen sind jedoch gefährdeter denn je:
- die Verwandtschaft etwa durch den Anstieg von Singlehaushalten und Alleinerziehender,
- die Nachbarschaft beispielshalber durch eine beruflich- und mietpreisbedingt steigende Mobilität und
- Freundschaft durch die Schwächung beider vorangehender Formen.
Das zeigt: Die Überbetonung gesellschaftlicher Merkmale beziehungsweise eines rein ökonomischen Denkens zerstört das Gefüge der Gemeinschaft. Diese ist jedoch für die individuelle Entwicklung essenziell. Denn erst im Schoß einer empathischen Gemeinschaft kann das Subjekt seine Individualität entwickeln. Gleichzeitig jedoch bedarf das Subjekt auch der Gesellschaft, durch die es erst zu seinem innersten Selbst gelangen kann.
Der Rechtsruck ist logische Konsequenz gesellschaftlicher Entwicklungen
Aktuell-politische Geschehnisse exemplifizieren dieses Spannungsverhältnis zwischen „Gemeinschaft/Gesellschaft“. Allein die Fixierung auf rein ökonomische Interessen und die hiermit einhergehende Zerstörung von Gemeinschaften und ihren Entstehungsbedingungen, und das Auseinanderdriften der Gesellschaft, erweckten im „gemeinschaftsentwurzelten“ Subjekt ein Gefühl der Heimat und ermöglichten somit nicht nur den Aufstieg der AfD, sondern öffneten vor allem den Profiteuren der neoliberalen Strategie die Tore ins Herz der Demokratie, wo sie nach der politischen Macht greifen.
Das bedingungslose Grundeinkommen kann die Gesellschaft zusammenhalten
Man könnte nun annehmen, die Herkulesaufgabe bestehe darin — angelehnt an Ferdinand Tönnies — ein alternatives gemeinschaftsstiftendes Ideal zu schaffen, wie es die Politik versucht. Denn nichts anderes stellt ihr vehementes Engagement für Europa oder das Klima dar. Doch dafür ist es zu spät.
Der Zerfall der Gesellschaft ist zu weit fortgeschritten, wie etwa die schwindende Kraft der Volksparteien verdeutlicht. Ideale stellen keinen gemeinsamen Nenner, keinen sozialen Kitt mehr dar. Deswegen muss dieses gemeinschaftsstiftende Moment an anderer Stelle gesucht werden.
Sofern man sich die Dominanz des Ökonomischen vergegenwärtigt, bleibt für die Aufgabe, den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherzustellen, nur ein fähiger Kandidat übrig: das liebe Geld. Nur dieses kann in unserer Gesellschaft als Gemeinschaftsstifter fungieren und das bedeutet konsequenterweise die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Nur dieses besitzt die Kraft das rechte crescendo in ein diminuendo (7) zu verwandeln. Und nur das bedingungslose Grundeinkommen besitzt auch die Kraft, den Zerfall der Gesellschaft in einen Zusammenhalt umzukehren.
Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Portal „Neue Debatte. Journalismus und Wissenschaft von unten“.
Quellen und Anmerkungen:
(1) crescendo ist ein Begriff aus der Musik und bedeutet so viel wie „lauter werdend“.
(2) legato bezeichnet in der Musik das gebundene Spielen einzelner Noten.
(3) staccato findet als Begriff in der Musik Verwendung. Gemeint ist eine spezielle Technik (des Spielens), durch die eine gespielte Note kürzer klingt als es der eigentliche Notenwert vorschreibt.
(4) Ferdinand Tönnies (1855-1936) gilt als Klassiker der Soziologie, der sich in seiner Arbeit zeitlebens mit dem Gegensatz Tradition/Moderne beziehungsweise Gemeinschaft/Gesellschaft auseinandersetzte. Sein Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ aus dem Jahr 1887 gilt als Grundlagenwerk der Soziologie.
(5) Erich Fromm (1900-1980) war ein deutsch-US-amerikanischer Psychoanalytiker und Gesellschaftkritiker, der auch in einem intensiven Austausch mit der Frankfurter Schule stand. Zu seinen bekanntesten Werken zählen „Die Furcht vor der Freiheit“ (1941), „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1974) und „Haben oder Sein“ (1976).
(6) dal niente ist ein aus der Musik kommender Begriff. Er meint so viel wie das Leiserwerden bis zur Lautlosigkeit.
(7) diminuendo ist in der Musik das allmähliche Verringern der Lautstärke.
Literatur:
Fromm, E. (1932). Über Methode und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie. Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 1, S.18-54.
Tönnies, F. (1887). Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft (Hrsg. K Lichtblau). Wiesbaden: Springer VS.
Über die Autorin: Deborah Ryszka (Jahrgang 1989), M. Sc. Psychologie. Nach universitär-berufspsychologischen Irrwegen in den Neurowissenschaften und Erziehungswissenschaften nun mit aktuellem Lager in der universitären Philosophie. Sie versucht sich so weit wie möglich der gesellschaftlichen Direktive einer hemmungslosen öffentlichen Selbstdarstellung bis hin zur Selbstaufgabe zu entziehen. Mit Epikur ausgedrückt: „Lebe im Verborgenen. Entziehe dich den Vergewaltigungen durch die Gesellschaft – ihrer Bewunderung, wie ihrer Verurteilung. Lass ihre Irrtümer und Dummheiten und gemeinen Lügen nicht einmal in der Form von Büchern zu dir dringen.“