Der Westen auf verlorenem Terrain
Ost-Aleppo war das Stalingrad im Syrienkrieg. Seitdem fällt eine Rebellenhochburg nach der anderen in die Hände der syrischen Regierung. Deren Truppen gewinnen immer mehr die Oberhoheit über ihr Staatsgebiet zurück – nicht zuletzt dank russischer und iranischer Unterstützung. Daran hat auch der amerikanisch-britisch-französische Raketen-Hagel im April nichts ändern können. Er hatte zwar wie auch die Giftgas-Anschläge und die Giftgas-Propaganda besonders im Westen viel Wirbel veranstaltet, den Siegeszug der syrisch-russisch-iranischen Allianz aber nicht aufhalten können. Deren Einfluss in der Region nimmt zu, und gleichzeitig wird der Einfluss der USA und ihrer Verbündeten immer schwächer.
Indirektes Eingeständnis der bevorstehenden Niederlage war die Ankündigung Trumps, die amerikanischen Truppen aus Syrien zurückzuziehen, weil nach seiner Ansicht „kein noch so großer Einsatz von amerikanischem Blut und Geld im Mittleren Osten dauerhaft Frieden und Sicherheit herstellen kann“ (1). Er, der Geschäftsmann, investiert nicht in ein Geschäft, das keinen Ertrag erwarten lässt.
Im Gegensatz zu ihm denken die herrschenden Kreise in den USA, die Geheimdienste und Militärs sowie die amerikanischen Verbündeten im Nahen Osten nicht kurzfristig ökonomisch sondern langfristig politisch, strategisch. Und das bedeutet für sie, Kampf bis zur letzten Patrone, um die Schwächung der amerikanischen Stellung in dieser so wichtigen Region der Welt zu verhindern. Denn in der amerikanischen Präsenz im Nahen Osten sehen die absolutistischen Monarchien, aber auch Israel, ihre Überlebensgarantie.
Daraus erklären sich die Vorgänge seit dem westlichen Raketen-Hagel. Es ist ein Wettlauf verschiedener Entwicklungen. Einerseits möchte Trump raus aus Syrien, weil „die Vereinigten Staaten seit Beginn des Antiterrorkriegs im Jahre 2001 sieben Billionen Dollar im Mittleren Osten verpulvert hätten“ (2). Andererseits sind da die Verbündeten, die die USA mit aller Gewalt im Nahen Osten halten wollen.
Die israelischen Angriffe auf iranische Stellungen in Syrien sind der Versuch, einen Konflikt besonders mit iranischen Kräften zu provozieren, um eine iranische Bedrohung zu konstruieren und die Schutzmacht USA bei der Stange zu halten.
Es ist auffällig, dass die israelischen Angriffe besonders dem Iran gelten und weniger den syrischen Einrichtungen. Es ist aber auch offensichtlich, dass man auf keinen Fall mit den Russen in Konflikt geraten will. Der Besuch Netanjahus in Moskau galt sicherlich nicht nur den Siegesfeierlichkeiten sondern auch der Erörterung der Lage und der jeweiligen Interessen in Syrien und der Region. Putin kann Israel nur begrenzt daran hindern, Syrien zu beschießen, will er nicht einen Krieg solchen Ausmaßes riskieren, dass der Westen nicht mehr neutral bleiben könnte. Aber Putin wird dem Israeli sicherlich auch deutlich gemacht haben, wo für Russland die roten Linien verlaufen und damit auch für Israel. Das künftige Verhalten Israels wird zeigen, ob und wo Moskau Grenzen gesetzt hat.
Ein Bekenntnis politischer Naivität und Verwirrtheit sind die Vorwürfe vonseiten „linker“ Kreise und Foren, die Putin des Verrats beschuldigen oder gar dazu aufrufen, mit dem Westen endlich Tabula rasa zu machen.
Warum sollten die Russen das unter der Gefahr der Selbstvernichtung tun? Kein Land der Welt weiß so gut wie Russland, was Krieg bedeutet, kein Land hat im 20. Jahrhundert mehr Opfer gebracht für den Frieden in der Welt. Und kein Land, vielleicht außer China, ist so gut in der Lage, die Realitäten zu analysieren und die eigenen Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen. Russland weiß, dass im Moment die Entwicklung in Syrien zu seinen Gunsten und zum Vorteil der syrischen Regierung verläuft. Weshalb also den großen Weltenbrand riskieren, wenn die USA sich mit allem, was sie im Moment tun, selbst das Wasser abgraben?
Des Weiteren ist fraglich, wie lange die USA noch die Kosten der Kriege werden tragen können und wie lange noch Anleger US-Staatsanleihen kaufen, wenn die amerikanischen Defizite jedes vertretbare Maß übersteigen. Aus reiner Verzweiflung über die nachlassende Produktivität der amerikanischen Wirtschaft und der Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte bringt Trump alle Verbündeten gegen sich auf mit seinen Zöllen und seinem Protektionismus. Wo immer amerikanische Sanktionen und westliche Politik den Handel mit Russland, Iran, Nordkorea, aber auch mit dem NATO-Partner Türkei erschweren, steigen Russen und Chinesen ein. China ist der große Gewinner von Trumps America-First-Politik. Der Wiederaufbau Syriens wird in erster Linie durch russische und chinesische Firmen erfolgen, nicht durch westliche, wie es im Moment den Anschein hat.
Diplomatische oder kriegerische Lösung?
Aber welche Möglichkeiten bleiben den USA und dem Westen, das Kriegsgeschick vielleicht doch noch zu wenden und, wenn nicht das, dann doch wenigstens an den fetten Aufträgen des Wiederaufbaus zu verdienen? Nach dem Raketenhagel gab man sich im Westen alle Mühe, die Wogen wieder zu glätten. Die Raketen waren anscheinend in erster Linie zur Beruhigung besorgter Verbündeter eingesetzt worden, wenn selbst führende Vertreter der Raketen-Staaten zugaben, keine Veränderung der Kräfteverhältnisse in Syrien damit angestrebt zu haben.
Danach überschlugen sich diplomatische Initiativen. Publikumswirksam wurde verkündet, dass die Mittel zur Versorgung der syrischen Bevölkerung aufgestockt werden sollen, wobei es sich aber in erster Linie um die Flüchtlinge handelte, die sich außerhalb der Kontrolle der syrischen Regierung in den Nachbarstaaten Syriens befinden. Ob es aber zu wirklichen Verbesserungen für die Menschen kam oder kommen wird, ist bisher nicht Gegenstand westlicher Berichterstattung.
Auf französische Initiative hin schufen Frankreich, die USA und Großbritannien eine neue Kontaktgruppe, an der auch Saudi-Arabien und Jordanien teilnehmen und die sich mit Deutschland und der Türkei koordinieren solle. Über diese Verbindung sollen die Beziehungen zu Russland und der Astana-Gruppe intensiviert werden. Auf diese Weise will der Westen verhindern, in Syrien völlig leer auszugehen.
Vermutlich will man sich auf diesem Wege aus der Isolation befreien, in die man sich hineinmanövriert hatte, indem man das Angebot Russlands abgeschlagen hatte, im Astana-Format konstruktiv an einer Friedensregelung für Syrien mitzuarbeiten. Denn je häufiger die Rebellengruppen, auf die der Westen bei den Genfer Friedensgesprächen gesetzt hatte, von der syrischen Armee ausgeschaltet werden, umso mehr schwindet der Einfluss des Westens auf die Mitgestaltung im Nachkriegssyrien und die Hoffnung auf eine Teilnahme am Aufbauprogramm.
Aber trotz aller diplomatischen Anstrengungen ist das Streben nach einem militärischen Sieg in Syrien noch immer in den Köpfen der Amerikaner.
Es fällt dem Westen schwer, sich in Syrien mit einer weiteren Niederlage nach dem Ukraine-Debakel abzufinden, zumal es auch in Libyen, Afghanistan und dem Irak nicht so läuft, wie es die Pläne und Theorien der Denker und Macher im Westen vorgesehen hatten. Und so wird trotz aller diplomatischen Bemühungen weiter nach Möglichkeiten gesucht, wie das militärische Kräfteverhältnis in Syrien zugunsten des Westens verändert werden kann.
Die Lösung dieses Problems besteht allein in der Beantwortung der Frage, wie die notwendigen Bodentruppen beschafft werden können, die für die Interessen des Westens zu kämpfen und zu sterben bereit sind. Der Versuch, kurdische Verbände in Nordsyrien aufzustellen, hat nur zu einer Verschärfung der Lage geführt, indem die Türkei, früher Partner des Westens, Teile der von den Kurden gehaltenen Gebiete in Nordsyrien besetzte. Vermutlich geschah dies sogar mit syrischer und russischer Billigung, denn Nutznießer dieser türkischen Intervention ist allein die syrische Regierung. Der Konflikt zwischen ihr und den Kurden wurde dadurch fürs Erste aufgeschoben, und die Türken beruhigten die Syrer, dass sie nicht auf Dauer in Nordsyrien bleiben wollen.
Jedoch hat sich das Verhältnis zwischen der Türkei und dem Westen dadurch noch weiter verschlechtert, auch wenn es inzwischen still geworden ist um die amerikanischen Pläne der Bildung einer kurdischen Grenzschutztruppe. Vermutlich will man die Kluft zur Türkei nicht noch größer werden lassen. Denn auch der Kurden kann sich der Westen nicht so ganz sicher sein. In ihrem Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit verfolgen sie Ziele, die auch bei den Amerikanern nicht beliebt waren, bevor man die Kurden vom Terrorismusvorwurf freisprach, weil man sie für den Kampf gegen den IS brauchte. Zudem ist fraglich, ob man sie denn überhaupt zum Kampf gegen Assad wird überreden können und ob ihre Kampfkraft dann auch ausreicht, um Assad zu besiegen. Denn bisher sind die Kurden in diesem Krieg nicht mit Assad in Konflikt geraten, im Gegensatz zur Türkei.
So ist der Versuch der Einbindung der Türkei in die neu geschaffene Kontaktgruppe nicht zuletzt auch der Versuch, die Türkei aus der Neutralität gegenüber Assad und den Russen herauszulösen und wieder auf die Seite des Westens zu ziehen. Man wird sicherlich nicht wieder so dumm sein, die Türkei zum Einsatz von Bodentruppen zu drängen, wie man es noch vor dem Putsch versucht hatte. Es ist nicht auszuschließen, dass auch der Putsch in der Türkei sehr viel mit diesen Bestrebungen des Westens zu tun hatte. Im Moment ist jedoch nicht klar, was der Westen der Türkei anbieten kann, um sie wieder in seine Arme schließen zu können, denn der Ausbau der wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland seit dem Putschversuch hat der Türkei sehr viele Vergünstigungen und Vorteile gebracht, die der Westen nicht bieten konnte oder wollte.
Die arabische Lösung
Noch haben die Amerikaner die kurdischen Gebiete Nordsyriens fest im Griff. Aber je weiter die syrischen Truppen in der Rückeroberung des eigenen Territoriums vorankommen, umso näher rückt auch der Moment, wo sich syrische und kurdische Kräfte gegenüber stehen und dahinter die Amerikaner und Russen. Dann rückt der Konflikt bedenklich nahe, den sich bisher noch alle Beteiligten jede erdenkliche Mühe gegeben haben zu vermeiden und vor dem die Welt Angst hat: das direkte Aufeinandertreffen von Russen und Amerikanern. Wenn die Amerikaner bis dahin keine neuen Bodentruppen aufgetrieben haben, stehen sie vor der Frage, ob sie sich aus Syrien zurückziehen oder eigene, amerikanische Verbände zum Einsatz bringen.
Solange versucht man wohl die Kurdengebiete in Nordsyrien als Brückenkopf zu halten und auszubauen, über den die Truppen eingeflogen werden können, nach denen man in den arabischen Ländern nun verstärkt Ausschau zu halten scheint. Dazu verfolgt man nun offensichtlich mit vermehrten Anstrengungen den Plan, den Trump bei seinem Besuch in Riad im Frühjahr 2017 vorgestellt hatte. Dieser sah vor, dass die arabischen Staaten unter der Führung Riads, in Zusammenarbeit mit Israel und mit amerikanischer Unterstützung im Hintergrund selbst den Kampf gegen den „islamistischen Terror“ austragen sollten. Schon damals war dieser Plan ausdrücklich auch gegen den Iran gerichtet. Wenn der Iran aus dem Kampfbündnis mit Syrien herausgelöst werden kann oder sich auf den Schutz des eigenen Territoriums konzentrieren muss, bedeutet das eine erhebliche Schwächung der syrisch-russisch-iranischen Allianz.
Damals war dieser Plan an dem rigorosen Vorgehen Saudi-Arabiens gegenüber Katar gescheitert. Zu sicher glaubte man sich wohl in Riad, mit amerikanischer Unterstützung alte Rivalitäten mit dem kleinen, aber sehr wohlhabenden Emirat zu den eigenen Gunsten austragen zu können. Zumal Trump in seiner politischen Dummheit dieses Verhalten Saudi-Arabiens noch befeuerte und die Isolierung Katars sogar als eigenen Erfolg feierte. Sieger dieser Krise waren einmal mehr besonders der Iran, aber auch die Türkei, die mit Lebensmittellieferungen und der Stationierung von Truppen dem Emirat zur Seite sprangen und den Drohungen vonseiten der USA und Saudi-Arabiens Einhalt geboten.
Nun versucht man wieder, die arabische Lösung umzusetzen. Das bevölkerungsreiche Ägypten soll den Blutzoll zahlen, während die reichen arabischen Staaten, wenn schon keine Soldaten, dann doch wenigstens Geld zur Verfügung stellen sollen. Ägypten hat diesen Plan zwar sofort zurückgewiesen, aber vermutlich wird er noch nicht vom Tisch sein, auch wenn derzeit wenig darüber berichtet wird. Dafür ist Ägyptens Regierung zu sehr auf Unterstützung aus Washington angewiesen.
Nach anfänglich erneuerten Vernichtungs-Drohungen vonseiten Saudi-Arabiens gegenüber Katar scheint man nun in Washington zu merken, dass man auf diesem Wege keinen Erfolg hat. In Briefen an die Herrscher Ägyptens, Saudi-Arabiens, Bahreins und der VAE forderte Trump „eine rasche Beilegung des Streits mit Katar“ (3). Anscheinend wird noch immer an einer arabischen Lösung des Syrienkonflikts gearbeitet.
Es bleibt nur zu hoffen, dass die syrischen Truppen schneller an den Grenzen der Kurdengebiete stehen als die arabischen Truppen aufgestellt sind für den Transport zum Brückenkopf Nordsyrien. Sollte es aber zum Einsatz arabischer Truppen in Syrien kommen, dürfte damit eine weitere und heftigere Eskalation des Syrienkonflikts verbunden sein, bei der dann auch das Aufeinandertreffen russischer und amerikanischer Truppen nicht mehr ausgeschlossen werden kann.
Quellen und Anmerkungen
(1) FAZ vom 16.4.18: Wo verlaufen die roten Linien
(2) FAZ vom 12.5.18: Ein Brief des Präsidenten
(3) ebenda
Rüdiger Rauls Buchveröffentlichungen:
Wie funktioniert Geld?
Kolonie Konzern Krieg – Stationen kapitalistischer Entwicklung
Zukunft Sozialismus oder die Grenzen des Kapitalismus
Die Entwicklung der frühen Gesellschaften - Die Geschichte Afghanistans
Was braucht mein Kind?
Späte Wahrheit (Prosa)
Herausgeber von:
Imre Szabo: Die Hintermänner (ein politischer Krimi)
Imre Szabo: Die Unsichtbaren (ein politischer Krimi)