„Westliche Werte“ ohne Wert

Europa ist mitverantwortlich für gravierende Fluchtursachen und tödliche Fluchtbedingungen, für die Diskriminierung von Migranten und xenophoben Hass. Exklusivabdruck aus dem Buch „Todesursache: Flucht“.

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ So steht es in Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union. Die Wahrheit ist eine andere. In seinem Beitrag spürt Rolf Gössner den so hartnäckig verdrängten Ursachen und Bedingungen von Krieg, Terror und Flucht nach. Bei dieser Spurensuche stößt man rasch auf die dunkle Kehrseite unserer „westlichen Werte“ und „unserer Art zu leben“, wie sie nach Terroranschlägen oder „Flüchtlingswellen“ routinemäßig beschworen werden. Letztlich geht es dabei um die immense Mitverantwortung des Westens, Europas und Deutschlands für vielfältige Kriegs-, Terror- und Fluchtursachen, besonders im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Afrika. Und es geht um die deutsche und europäische Mitverantwortung für Abschottung und Fluchtbedingungen, die dazu führen, dass Zigtausende Menschen während ihrer Flucht ums Leben kamen und weiterhin kommen. Nicht zuletzt geht es auch um politisch-diskriminierende Abstoßungsreaktionen sowie um rassistische Hetze und Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten in den europäischen Zielländern. Der Autor begibt sich in seinem Beitrag auch auf die Suche nach ursachenorientierten Auswegen aus dieser Misere und aus dieser humanitären Katastrophe.

Täglich werden wir mit der verzweifelten Lage von Geflüchteten und ihren Schicksalen konfrontiert. Fast täglich kommen Menschen auf der Flucht ums Leben. Die erschreckenden Nachrichten über das Massensterben lassen sich kaum ertragen, ohne diese grausame Realität mehr oder weniger zu verdrängen — und damit auch gleich die Fluchtbedingungen und Fluchtursachen, die mit uns und der europäischen Politik mehr zu tun haben, als uns lieb sein kann. Vor diesem Hintergrund bekommen die positiv besetzten Begriffe „Willkommenskultur“ und „westliche Werte“ einen mehr als bitteren Beigeschmack.

Dieses Buch „Todesursache: Flucht“ — eine verstörende Dokumentation menschlichen Leids und einer humanitären Katastrophe — sollte uns dazu zwingen, verstärkt über die Flucht- und Migrationspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten nachzudenken sowie über die vielfältigen Ursachen von Flucht und Migration. Dabei geht es um aktuelle Missstände, essentielle Zusammenhänge und historische Lasten, die im medialen Alltag und der herrschenden Politik allzu leicht untergehen. Dazu gehören die Tatsachen und Erkenntnisse:

  • dass Europa und der Westen insgesamt politische Mitverantwortung tragen für die vielfältigen Fluchtursachen, die zum Teil auch Terror- und Kriegsursachen sind, und die dazu führen, dass Menschen zu Millionen in die Flucht getrieben werden;
  • dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten politische Mitverantwortung tragen für die tödlichen Fluchtbedingungen, die täglich Menschenleben fordern;
  • und dass Menschen, die Krieg, Terror, Unterdrückung, Ausbeutung, Verfolgung und Not mühsam entronnen sind, hierzulande nicht nur von vielen nicht willkommen geheißen werden, sondern zunehmend auf Angst und Abwehr stoßen, sich rassistischer Gewalt ausgesetzt sehen und erneut in Lebensgefahr geraten.

Tödliche Fluchtbedingungen: Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten

„… Schon viel zu lange sind wir Zeugen einer der größten humanitären Katastrophen und einer der wohl größten politischen und moralischen Herausforderungen unserer Zeit: dem täglichen, massenhaften Tod von Flüchtlingen an Europas Grenzen. Wir richten an jede/n von uns, an alle Zivilgesellschaften und Politiker Europas die Frage: Wie viele denn noch? Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor wir uns zu einer mutigen, zukunftsweisenden europäischen Lösung für die Rettung und Aufnahme von Flüchtlingen entschließen?“ (Aufruf von UnterstützerInnen von SOS-Méditerranée, 2015).

Seit dem Jahr 1993 sind zehntausende Menschen auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen — UNITED for Intercultural Action dokumentiert mehr als 36.600 Tote bis einschließlich 2018. Weltweit starben allein in den vergangenen vier Jahren nach Angaben von PRO ASYL mehr als 25.000 Menschen auf der Flucht — mehr als die Hälfte von ihnen beim Versuch, nach Europa zu gelangen. Sie ertrinken im Mittelmeer oder verdursten bereits auf dem Weg dorthin in der Wüste. Allein 2016 ertranken im Mittelmeer fast 5.000 Flüchtende oder gelten als vermisst, so viele wie nie zuvor. 2017 haben mehr als 3.000 Menschen den Versuch einer Einreise nach Europa über das Mittelmeer nicht überlebt. Im Jahr 2018 sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk fast 2.300 Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken, das längst zum Massengrab geworden ist.

„Das ‚Massengrab Mittelmeer‘ ist die Schande Europas schlechthin“, so der ehemalige Berliner Verwaltungsrichter Percy MacLean. Es gehört tatsächlich zu den schrecklichen Erkenntnissen, auf die immer wieder mit Nachdruck aufmerksam zu machen ist:

Die rigorose Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten ist direkt oder indirekt mitursächlich dafür, dass fast täglich Menschen auf der Flucht sterben.

Die Schließung der Balkan-Route, mit rasiermesserscharfem Stacheldraht hochgerüstete Grenzzäune, die Europäische Grenzschutz-Agentur FRONTEX, die noch massiv ausgebaut werden soll, das Grenzüberwachungssystem EUROSUR, das bereits erheblich aufgerüstet worden ist und die Außengrenzen mit Satelliten, Drohnen und Sensoren überwacht — all dies trägt zur Abschottung Europas bei, mit der Folge, dass die Fluchtwege nach Europa immer riskanter geworden sind.

Diese sicherheitstechnologischen Abschottungsmaßnahmen werden flankiert durch jene menschenverachtenden Flüchtlingsdeals, wie sie mit der autokratischen Türkei und mit afrikanischen Despoten geschlossen wurden und weiterhin werden, um Flüchtlinge schon vor den Toren Europas im Zweifel gewaltsam an ihrer Flucht nach Europa zu hindern. Auffanglager wie etwa in Libyen mit menschenunwürdigen Bedingungen sind die Folge.

Zur Sicherung von Europas scheinbar neuen Grenzen, die bereits in Afrika entstanden sind, zahlen europäische Regierungen Unsummen von Steuergeldern — auch an Regime und Transitländer, die Menschenrechte mit Füßen treten und die für ihre Türsteherdienste gezielt mit Überwachungs und Sicherungstechnologie aufgerüstet werden. Das ist Entwicklungshilfe der besonders makabren Art. Diese Politik der EU versperrt Schutzsuchenden sicherere Fluchtwege und zwingt sie in ihrer Not auf teure, riskante und lebensgefährliche Routen und Transportmittel sowie in die Hände von skrupellosen Schlepperbanden.

Parallel dazu wird die zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit für Geflüchtete in der Bundesrepublik und europaweit zunehmend begleitet und konterkariert von einer fremdenfeindlichen und rassistischen Debatte sowie von einem verschärften und ausgrenzenden Ausländer- und Asylrecht nach dem Motto: Grenzen dicht, „sichere Herkunftsländer“ küren, Familiennachzug erschweren, Lagerunterbringung und Langzeit-Isolierung in sogenannten Transit- und Ankerzentren und schneller abschieben. Unrechtmäßige Ablehnungen von Asylanträgen sowie gewaltsame Abschiebungen — selbst von traumatisierten Menschen — in Krisen- und Kriegsgebiete wie Afghanistan oder in angeblich sichere Herkunfts- oder Drittstaaten häufen sich.

Dass bei diesem menschengefährdenden und todbringenden Flüchtlingsabwehrprogramm tatsächlich der Schutz der Außengrenzen und des Schengenraums im Vordergrund steht — voll zu Lasten des menschenrechtlich gebotenen Schutzes von Flüchtlingen —, das zeigen auch folgende skandalöse Entwicklungen und staatliche Aktionen gegen zivile Rettungsprojekte im Mittelmeer wie SOS-Méditerranée („Aquarius“), Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen, Jugend rettet, Mission Lifeline, Sea-Eye, Lifeboat und so weiter. Zu den staatlichen Blockade- und Sabotage-Maßnahmen, die einzelne EU-Mitgliedstaaten zu verantworten haben, gehören unter anderem:

  • die Erschwerung und aktive Be- und Verhinderung der zivilgesellschaftlichen Seenotrettung im Mittelmeer — unter anderem durch Abdrängen, Festhalten oder Beschlagnahmung von Rettungsschiffen, durch Verweigerung der Ausschiffung Geretteter in europäische Häfen und durch Entzug der Flagge und damit der Betriebserlaubnis wie im Fall des Seenotrettungsschiffs „Aquarius“ von SOS Méditerranée;
  • die Kriminalisierung freiwilliger Lebensretter und humanitärer Organisationen als angebliche Schleppergehilfen — haltlose Verdächtigungen, die immer wieder zu langwierigen existenzbedrohenden Prozessen führen;
  • die europäische Unterstützung und Kooperation mit der Küstenwache Libyens und mafiösen Grenzschutzeinheiten, die Fliehende praktisch im europäischen Auftrag gewaltsam zurückhalten und in Internierungslager verschleppen, in denen entsetzliche Zustände herrschen und schwere Menschenrechtsverletzungen begangen werden.

Diese Politik der EU und einzelner ihrer Mitgliedstaaten, Geflüchtete primär als Sicherheitsrisiken zu betrachten und wie illegale Eindringlinge, ja „Invasoren“ zu behandeln und „zurückzuschlagen“, verletzt fundamentale und universell geltende Menschenrechte und bricht Völkerrecht.

Das Sterbenlassen von Menschen an den Außengrenzen Europas und die Beihilfe zu Verschleppung und Abschiebung von Flüchtlingen in Verfolgerstaaten und Transitländer, in Zwangsarbeit und Versklavung, Folter und Tod gehören zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Politik, die doch so viel auf ihre eigenen Werte hält.

Hinzu kommen die katastrophalen Zustände in griechischen Flüchtlingslagern, die das Anti-Folter-Komitee des Europarates Anfang 2019 in einem Expertenbericht als „unmenschlich und entwürdigend“ kritisiert. In den überfüllten und teils verdreckten Lagern gebe es nur unzureichende ärztliche und medizinische Versorgung, Menschen würden auf engstem Raum unter desolaten hygienischen Bedingungen zusammengepfercht, Minderjährige und Frauen nicht ausreichend geschützt; außerdem komme es immer wieder zu Misshandlungen durch die Polizei.

Rassistische Hetze und neonazistische Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten

Szenenwechsel: 1993 erlebte die Bundesrepublik eines der schwersten Verbrechen in ihrer Geschichte: den Solinger Brand- und Mordanschlag, bei dem fünf junge Angehörige der türkischstämmigen Familie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor diesem rassistisch motivierten Anschlag hatte — nach einer verantwortungslosen und agitatorischen Debatte mit Schlagworten wie „Asylantenflut“ und „Überfremdung“ — eine „große Koalition“ aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl demontiert. „Erst stirbt das Recht — dann sterben Menschen“ — klarer kann man den Zusammenhang dieser beiden Ereignisse kaum formulieren, wie er später auf einer Mauer nahe des Anschlagsorts zu lesen war.

Derzeit befinden wir uns wieder in einer äußerst prekären Phase, in der erneut eine hoch gefährliche rechtspopulistische, nationalistische und fremdenfeindliche Debatte bis hinein in die Mitte der Gesellschaft stattfindet, eine Debatte um Überfremdung, Asylmissbrauch und kriminelle Ausländer. Diese unheilvolle Angstdebatte, die insbesondere von Bundesinnen- und Heimatminister Horst Seehofer („Christlich-Soziale Union“, CSU), und AfD-Politikern geschürt und instrumentalisiert wird, führt zu Wahrnehmungsverzerrungen, befeuert Bedrohungsgefühle und Verunsicherung, macht jedes gesellschaftliche Problem zu einer Frage der (bedrohten) Sicherheit, macht Fremde, Flüchtlinge und sozial abgehängte Menschen zu Sündenböcken und ist letztlich geeignet, die Situation hierzulande gewaltig und gefährlich aufzuheizen.

Und das mit fatalen Folgen. Menschen, die Verfolgung, Krieg, Terror und Tod mühsam entronnen sind, werden hierzulande von vielen nicht nur nicht willkommen geheißen, sondern sie stoßen auch auf Ängste, Abwehr und Feindschaft, geraten erneut und in jüngerer Zeit verstärkt in Gefahr.

So etwa im September 2018 im sächsischen Chemnitz, als nach einem mutmaßlich von Geflüchteten begangenen Tötungsdelikt (Ermittlungen und Strafverfahren laufen noch) rassistische Hetze, fremdenfeindliche Ausschreitungen und Angriffe gegen Migranten stattfanden.

Es war der damals noch amtierende Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der diese fremdenfeindlichen und gewalttätigen Vorgänge in der Bild-Zeitung öffentlich bezweifelte, relativierte und verharmloste — obwohl sie durch Zeugen, Videos und polizeiliche Feststellungen belegt werden konnten und sich inzwischen herausgestellt hat, dass auch rechtsterroristische Aktivitäten in diesem Umfeld vorbereitet worden sind („Revolution Chemnitz“). Immerhin führte diese „verfassungsschützerische“ Verharmlosung rechter Gewalt dazu, dass Maaßen seinen Chefposten räumen musste.

Seit 2015 ist angesichts der zu Hunderttausenden in die Bundesrepublik geflüchteten Menschen zwar viel von „Wir schaffen das“ und „Willkommenskultur“ die Rede gewesen, die in der Tat auch in weiten Teilen der Republik anzutreffen ist, und die die allermeisten Betroffenen zu schätzen wissen. Doch diese weitgehend zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit wird zunehmend begleitet und konterkariert von alltäglicher rassistischer Hetze, Ausgrenzung und Gewalt.

Eine besorgniserregende Entwicklung, die trotz ihrer blutigen Bilanz angesichts der so medienwirksamen und angstbesetzten „islamistischen“ Terrorgefahr immer mehr aus dem öffentlichen Blick gerät. Nicht selten werden Muslime und andere Migranten im Zusammenhang mit den furchtbaren terroristischen Anschlägen, die von religiösen Fanatikern im „Namen des Islam“ in Europa verübt worden sind, unter Generalverdacht gestellt.

Und die fast täglichen Angriffe auf Asylbewerber und andere Geflüchtete gehen weiter. Flüchtlingsheime brennen, Übergriffe auf Geflüchtete, ehrenamtliche Helfer und Moscheen reißen nicht ab. Nach Angaben des Bundeskriminalamts kam es 2015 zu fast 1.500 einschlägigen Gewalttaten, darunter mehr als 1.000 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte sowie Übergriffe auf Geflüchtete — das sind fünfmal mehr als 2014. 2016 kam es laut Bundeszentrale für Politische Bildung insgesamt zu mehr als 3.700 Straftaten und Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte, Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer — also zu zehn pro Tag. Auch 2017 und 2018 gab es zahlreiche Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte sowie auf Geflüchtete.

Das heißt: Menschen, die dem Tod auf der Flucht entrinnen konnten und hierzulande Schutz vor Verfolgung, Folter, Ausbeutung und Tod suchen, müssen immer wieder um Leib und Leben fürchten.

Diese besorgniserregende Entwicklung vollzieht sich im Übrigen vor einem mörderischen Hintergrund, denn in der Bundesrepublik sind seit 1990, dem Jahr der „Wende“, fast 200 Menschen von rassistisch eingestellten Tätern umgebracht worden. Der Mordanschlag von Solingen war bekanntlich der vorläufige Tiefpunkt einer Serie weiterer rassistisch motivierter Attentate: Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Quedlinburg, Cottbus, Lübeck und Mölln sind zu traurigen Fanalen geworden für diesen gewalttätigen Rassismus. Nach den NSU-Morden und -Terroranschlägen, die in der offiziellen Statistik noch nicht einmal als politisch motivierte, rechtsextremistische Straftaten gelistet sind, müssen wir zehn weitere Tote hinzurechnen.

Im NSU-Komplex war es im Übrigen zu teils rassistischen Polizeiermittlungen („Soko Bosporus“, Ermittlungen gegen die türkischstämmigen Opfer-Familien), zu staatlichen Verstrickungen des „Verfassungsschutzes“ in Neonaziszenen und zu anschließenden skandalösen Vertuschungen gekommen. Wie überhaupt der staatliche Umgang mit rechter Gewalt und Neonazi-Gruppen insgesamt von ideologischen Scheuklappen und strukturellem Rassismus geprägt ist, die zu Ignoranz und systematischer Verharmlosung des Nazispektrums führen. Auch der Polizeialltag bleibt davon nicht verschont, denken wir nur an Racial profiling — also das rassistische Sortieren von Menschen nach ihrem Aussehen — im Zuge anlassloser Polizeikontrollen.

Inzwischen haben braune Netzwerke und Zellen in Polizeibehörden mehrfach bundesweit Schlagzeilen gemacht — rechtsextreme Verdachtsfälle sowohl in der Bundespolizei als auch in etlichen Bundesländern, unter anderem in Sachsen und Hessen. Gegen rund ein Dutzend hessischer Beamter wird wegen rechtsextremer Umtriebe ermittelt. Einige von ihnen sollen in einem Chat Nazi-Parolen und -Symbole sowie volksverhetzende Inhalte ausgetauscht haben.

Sie werden auch in Zusammenhang gebracht mit Droh-Schreiben gegen die deutsch-türkische Anwältin Seda Basay-Yildiz, die im Münchner NSU-Prozess Angehörige eines Mordopfers als Nebenkläger vertreten hatte. Gezeichnet sind die Schreiben, in denen die Anwältin und ihre kleine Tochter mit dem Tod bedroht werden, mit „NSU 2.0“. Die persönlichen Daten der Betroffenen waren unmittelbar vor der Versendung des ersten Droh-Faxes auf dem Dienstcomputer eines Frankfurter Polizeireviers abgerufen worden — ohne dienstlichen Grund. Trotz der Brisanz dieser Vorkommnisse ist die Aufklärung dieser Vorfälle und möglicher struktureller Hintergründe lange Zeit verschleppt und monatelang verheimlicht worden, selbst gegenüber dem parlamentarischen Kontrollorgan.

Wenn Teile der Polizei als Vertreterin des staatlichen Gewaltmonopols rassistisch agieren, ihre Machtbefugnisse missbrauchen und sich als anfällig für antidemokratisches, nationalsozialistisches und rassistisches Gedankengut erweisen, dann besteht akuter Handlungsbedarf. Wir dürfen nicht zulassen, dass institutioneller Rassismus und neonazistische Gewaltentwicklung gesellschaftlich verdrängt oder verharmlost werden — und auch nicht die Tendenz dulden, Nationalismus, Rassismus, Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit gesellschaftlich und institutionell zu normalisieren und in Politik umzusetzen, wie es gegenwärtig passiert.

Wir müssen die Politik der „Inneren Sicherheit“, die Strafverfolgungs- und „Verfassungsschutz“-Behörden — die im Umgang mit Neonazi-Terror lange Zeit so grauenhaft versagt haben — verstärkt in Pflicht und Verantwortung nehmen. Nur eine wache und kritische Öffentlichkeit kann genügend politischen Druck entfalten, um Xeno- und Islamophobie zu ächten, institutionellen Rassismus anzuprangern, eine Wende im Umgang mit rassistischer Hetze und neonazistischer Gewalt einzufordern und den Opferschutz zu stärken.

Darüber hinaus ist zu fordern: eine rückhaltlose Aufklärung und konsequente Ahndung aller Neonazi-Verbrechen und aller staatlichen Verstrickungen in gewaltbereite Neonazi-Szenen, ernsthafte Anstrengungen gegen strukturellen und institutionellen Rassismus in Staat und Gesellschaft, externe unabhängige Stellen zur Kontrolle der Polizei, die rechtsstaatliche Zügelung und Kontrolle des sogenannten Verfassungsschutzes, eine humane Asyl- und Migrationspolitik, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Projekte gegen „Rechtsextremismus“ und bessere Unterstützung von Opfern rechter Gewalt und von deren Angehörigen. Und nicht zuletzt: Auch nach der Urteilsverkündung im Prozess vor dem Oberlandesgericht München (Juli 2018) darf es keinen Schlussstrich unter Aufarbeitung und Aufklärung des NSU-Komplexes geben. Denn es ist noch allzu viel im Dunkeln.

Auf der Suche nach den Fluchtursachen, ihren Urhebern und Profiteuren

Dritter Problemkomplex: Mit ihrer Art von Flüchtlings- und Migrationspolitik, aber auch mit ihrer Art von Antiterrorkampf zeigen sich die Bundesregierung, die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten sowie die EU insgesamt noch immer weitgehend ignorant gegenüber den wirklichen Ursachen und Gründen von Krieg, Terror, Gewalt, Ausbeutung und Flucht, an denen westliche Staaten und Staatengemeinschaften maßgeblich beteiligt waren, es nach wie vor sind und denen Millionen von Menschen außerhalb Europas zum Opfer fielen und weiterhin fallen.

Schließlich spielt der Westen, spielen EU, USA und NATO eine desaströse Rolle speziell im Nahen und Mittleren Osten — mit hunderttausenden toter Zivilisten allein seit 9/11. Dort wirft die sogenannte westliche Wertegemeinschaft für ihre eigenen geopolitischen, ökonomischen und militärischen Vormachtinteressen systematisch die so hochgehaltenen eigenen Werte über Bord — oft genug getarnt als Terrorbekämpfung oder humanitäre Interventionen.

Mit ihren rohstoffsichernden Einmischungen, ausbeuterischen Handelsabkommen, verheerenden Wirtschaftssanktionen und Waffenexporten in Krisenregionen und an Diktaturen, mit ihren völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Kriegsverbrechen, mörderischem Drohnenbeschuss und Folter — mit all diesen neoimperialen Interventionen ist der Westen, auch die Bundesrepublik, mitverantwortlich für die Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen, mitverantwortlich für Ausbeutung, Armut, Folter und Tod, für den Zerfall ganzer Staaten.

Letztlich ist er dies auch für die Entstehung der IS-Terrormiliz — „made in USA“, wie der Nahost-Experte Michael Lüders in seinem Buch „Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet“ (München 2015) überzeugend aufzeigt. Zugespitzt formuliert: Mit dem „War on Terror“, besonders im Irak und in Afghanistan, aber auch in Somalia, Jemen, Libyen, Pakistan und Syrien, beförderte der Westen wahre Terroristen-Rekrutierungsprojekte und züchtete sich seine eigenen Feinde heran.

Bereits Ende 2015 haben Ex-Drohnenpiloten das US-Drohnenprogramm als „eine der verheerendsten Triebfedern des Terrorismus und der Destabilisierung“ bezeichnet — ein Mord-Programm, das auch über Ramstein, also über Deutschland abgewickelt wird, das ohnehin längst integraler Bestandteil des US-geführten „Kriegs gegen den Terror“ geworden ist: Von deutschem Boden aus — insbesondere aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen — organisier(t)en die USA völkerrechtswidrige Kriegseinsätze, Entführungen, Folter und extralegale Hinrichtungen von Terrorverdächtigen per Drohneneinsatz.

Die Journalisten Christian Fuchs und John Goetz haben dies 2013 in ihrem Buch „Geheimer Krieg. Wie von Deutschland aus der Kampf gegen den Terror gesteuert wird“ dokumentiert. Die Bundesrepublik hat als NATO-Verbündeter am US-Krieg in Afghanistan teilgenommen und leistete logistische Hilfe im illegalen Krieg der USA gegen den Irak (mit mehr als einer Million Toten); sie war beteiligt an der Destabilisierung Libyens, den verheerenden Wirtschaftssanktionen gegen Syrien — einem Waren- und Personenembargo der EU, das maßgeblich zur Verarmung des Landes und zur Aushungerung der Zivilbevölkerung beitrug.

Darüber hinaus ist die Bundesrepublik mit ihren Rüstungsexporten maßgeblich an der massiven Waffenaufrüstung unter anderem der autoritären Regime Ägyptens, Saudi-Arabiens, Katars und der Türkei beteiligt. Deutschlands Rüstungsexporte, auch in Krisen- und Kriegsgebiete und an Diktaturen, hatten sich von 2014 auf 2015 insgesamt verdoppelt und waren auch 2016/17 extrem hoch. Die Waffenexportgenehmigungen von 2014 bis 2017, also in vier Jahren, steigerten sich auf 25 Milliarden Euro.

Allein die Ausfuhr von Munition für Kleinwaffen hat sich 2016 verzehnfacht. 2017 und 2018 hat die Bundesregierung zwar weniger Rüstungsexporte genehmigt als zuvor — allerdings wuchsen die Ausfuhrbewilligungen 2017 für deutsche Waffenlieferungen in Länder außerhalb von NATO und EU, wie etwa Ägypten, Algerien, Israel, Pakistan, Saudi-Arabien und Katar, um 100 Millionen auf 3,8 Milliarden Euro; 2018 betraf immer noch mehr als die Hälfte aller Bewilligungen Exporte in solche Staaten.

Erst die Ermordung des regimekritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 in der saudischen Botschaft in Istanbul führte zu einem temporären bundesdeutschen Waffenexportstopp Richtung Saudi-Arabien — nicht etwa die Beteiligung dieses Golfstaates am grausamen Bürgerkrieg im Jemen, der maßgeblich mit deutschen Waffen geführt wird. Vor dem verhängten Exportstopp hatte der Bundessicherheitsrat 2018 bereits Waffenexporte im Wert von 416 Millionen Euro an Saudi-Arabien bewilligt.

Wer mit Rüstungsexporten und sogenannten Anti-Terrorkriegen, mit Regime-change-Interventionen sowie mit — vorwiegend die Zivilbevölkerung schädigenden — Wirtschaftssanktionen dazu beiträgt, ganze Regionen zu zerstören und Staaten zu destabilisieren, erntet nicht etwa mehr Sicherheit, sondern früher oder später selbst Terror und Instabilität — auch bei sich zuhause in Europa und den USA.

In dieser westlichen Mitverursachung von Krieg, Terror, Ausbeutung, Klimakatastrophen und Elend liegt auch die politische Mitverantwortung dafür, dass Millionen Menschen aus diesen Regionen in die oft todbringende Flucht getrieben werden: „Wir kommen zu Euch, weil Ihr unsere Länder zerstört.“ Diese herbe Einsicht und die koloniale und postkoloniale Vorgeschichte mitsamt den vom Westen gestützten Nachfolge-Regimen gehören zum ganzheitlichen Verständnis der realen Kriegs-, Terror- und Fluchtursachen, die es mit allen friedlichen Mitteln und mit allem Nachdruck zu beseitigen gilt.

Auswege aus der humanitären Katastrophe?

All dies gehört zur überaus dunklen Kehrseite unserer hehren westlichen Werte. Es wird also weder Fortschritt noch Frieden geben ohne Stopp von völkerrechtswidrigen kriegerischen Interventionen, ohne Einstellung der exzessiven Waffenexporte in Krisen- und Kriegsgebiete sowie an Diktaturen, ohne Ausbruch aus dem destruktiven Marktradikalismus und unserer „Art zu leben und zu wirtschaften“.

Die kriegerischen Militärinterventionen im Nahen und Mittleren Osten sowie die Rekord-Waffenlieferungen haben jedenfalls die Welt nicht etwa sicherer und nicht freier gemacht und auch den Terrorismus nicht eingedämmt — im Gegenteil: Krieg ist seinerseits Terror und gebiert immer neuen Terror und neue Terroristen und weitere Fluchtursachen.

Es wird im Übrigen auch keinen nachhaltigen Frieden und keine soziale Gerechtigkeit geben ohne eine radikale Änderung der aggressiven Wirtschafts- und Agrar(subventions)politik, der ausbeuterischen Welthandels- und Rohstoffpolitik sowie der bisherigen Sozial-, Umwelt- und Klimapolitik.

Denn es sind gerade auch die kapitalistische Wirtschaftsweise und unser westlicher Konsum- und Lebensstil, die anderswo töten und Menschen zur Flucht zwingen.

Zu fordern ist darüber hinaus eine radikale Änderung der EU-Flüchtlingspolitik, die derzeit unter Verstoß gegen die universellen Menschenrechte Fluchtwege nach Europa verplombt. Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not fliehen, um ihr Leben und ihre Existenz zu retten, werden damit mutwillig auf gefährliche Wege und in die Klauen krimineller Schlepper getrieben. Die Schaffung sicherer und legaler Fluchtwege und Korridore nach Europa für Schutzsuchende ist daher ein humanitäres Gebot der Stunde. Wie auch starke Hilfen zur Verbesserung der Lebensgrundlagen und -bedingungen in den Heimatländern der Geflüchteten und in den Flüchtlingslagern ihrer Nachbarländer.

Dazu gehören auch ein Ende der milliardenschweren „Flüchtlingsdeals“ wie mit der Türkei und der sogenannten Migrationspartnerschaften mit autokratischen Regimen in Afrika, mit denen sich Europa auf Kosten der Menschenrechte Flüchtende gewaltsam „vom Hals halten“ will und sich damit korrumpier- und erpressbar macht. Damit werden Flucht und Flüchtlinge bekämpft — nicht aber Fluchtursachen. Europäische Staaten sponsern und stabilisieren mit EU-Aufrüstungshilfen autokratische Staaten, ihre Militär- und Repressionsapparate — und verschärfen damit Fluchtgründe, anstatt sie zu beseitigen.

Nicht zuletzt muss die Be- und Verhinderung ziviler Seenotrettung umgehend gestoppt werden, um der Pflicht nach internationalem Recht, Menschen aus Seenot zu retten, nachkommen zu können. Im Übrigen ist der Einsatz für Schiffbrüchige eine Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten, zumal sie an der katastrophalen Situation entscheidenden Anteil haben — und wir dürfen sie aus ihrer Verantwortung nicht entlassen.

Deshalb fordert etwa die zivile Seenotrettungsgesellschaft SOS Méditeranée, ebenso wie das Bündnis Seebrücke schon lange von der EU, ein funktionierendes europäisches Seenotrettungsprogramm im Mittelmeer zu etablieren, das nicht den Schutz der Grenzen, sondern die Rettung des Lebens Schiffbrüchiger zum erklärten Ziel hat. Zu diesem Ziel gehört, das Massensterben von Flüchtlingen zu beenden und insgesamt der Menschenwürde und den universellen Menschenrechten sowie den schändlich verratenen Werten Europas endlich Geltung zu verschaffen.



Redaktionelle Anmerkung: Dies ist ein aktualisierter und erweiterter Gastbeitrag von Rolf Gössner aus Kristina Milz/Anja Tuckermann (Hrsg.): „Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste.“ In dieser Buchpublikation finden sich weitere Gastbeiträge u.a. von Heribert Prantl, Bernd Mesovic, Heinrich Bedford-Strohm, Carlos Collado Seidel, Moustapha Diallo, Stephan Lessenich u.a.

Hirnkost Berlin 2019, 2. erweiterte Auflage, 496 Seiten, gebunden, 10 Euro
Weitere Infos/Beiträge: https://flucht.hirnkost.de/
ISBNs: 978-3-947380-32-9 print, 978-3-947380-33-6 epub, 978-3-947380-34-3 pdf.
Bezug: https://shop.hirnkost.de/produkt/todesursache-flucht-eine-unvollstaendige-liste/

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