Im Visier Brüssels stehen ausschließlich die genannten osteuropäischen Länder; und zwar nicht deshalb, weil sie die Quote nicht erfüllen (das tun fast alle anderen EU-Staaten auch nicht), sondern weil sie sich prinzipiell gegen die Art und Weise stellen, mit der Berlin und in seinem Schlepptau Brüssel Migrationspolitik betreiben. Die Kritik an der EU war es also, die zu den Vertragsverletzungsverfahren geführt hat. Denn Ungarn und die Slowakei hatten es gewagt, gegen den Verteilungsschlüssel vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen. Dieser schmetterte ihren Einspruch am 6. September 2017 ab. Nun müssen Budapest und Bratislava Asylbewerber aufnehmen, die sie nicht wollen und die auch dorthin nicht wollen, im Namen der Gerechtigkeit und der Solidarität.
Worum geht es? Formal befinden wir uns auf einem Nebenschauplatz, denn die 120.000 Hilfe Suchenden, von denen die Rede ist, stellen nur einen Bruchteil des angebrandeten Elends dar, das im vergangenen Jahr aus Syrien, Afghanistan oder afrikanischen Staaten die Grenzbalken zur Europäischen Union überqueren konnte. Für Ungarn sieht die EU-Quote 1294, für die Slowakei 904 und für Polen 5080 Flüchtlinge vor. Das würde weder das Ungartum, noch den polnischen oder den slowakischen Nationalcharakter gefährden. Die Ablehnung wurzelt tiefer als in zweifellos vorhandenen rassistischen Ressentiments. Budapest, Warschau und Bratislava fühlen sich schlicht nicht zuständig für die Verzweifelten aus den Kriegen und Krisen. Sie sehen sich nicht in der Verantwortung.
An dieser Stelle muss man einwenden, dass es sich die osteuropäischen Staatskanzleien doch etwas zu leicht machen, wenn sie sich für unzuständig erklären. Immerhin gehören alle diese Länder der NATO an und bis auf die Slowakei unter Valdimír Mećiar ist mir auch keine Ost-Regierung seit der Systemwende bekannt, die sich gegen einen Beitritt zur Militärallianz ausgesprochen hätte. So einfach geht das also nicht, sich aus der Verantwortung für Kriege zu stehlen, in die man selbst – zugegeben kleine – Kontingente schickt. Ungarns Justizminister László Trócsányi streitet das nicht ab, will aber die Relationen herstellen, wenn er sein mitteleuropäisches Land von westeuropäischer Denkungsart abgrenzt. In der Wiener "Presse" vom 21. September 2017 hört sich diese Distanzierung folgendermaßen an: "Wir hatten keine Kolonien, wir begannen keine Kriege, unsere Soldaten sind nur in Friedenssicherung tätig und wir möchten an einem Demokratieexport ohne Beachtung der Realitäten nicht teilnehmen."
Eine klare Aussage wie diese führt uns wieder zum Thema der Verantwortung für die Flüchtlingsfrage zurück. Jenseits der aufrechten Kritik an Ausländerfeindlichkeit, die freilich auch in Westeuropa existiert, muss die Frage erlaubt sein, um wessen Flüchtlinge es sich handelt, die EU-weit nun verhandelt werden sollten.
Wir orten drei wesentliche Push-Regionen, aus denen die überwiegende Mehrzahl der nach Europa strömenden Flüchtlinge kommt: Syrien, Afghanistan und das nördliche bzw. auch das subsaharische Afrika.
Für die syrische Katastrophe, die zur Vertreibung von mehr als elf Millionen SyrerInnen geführt hat, von denen 4,2 Millionen ins Ausland flohen, tragen unterschiedliche Kräfte die Verantwortung. Da ist zuallererst das Regime des Baschar al-Assad, dessen Vater in Reaktion auf einen Aufstand der Muslimbrüder bereits im Jahr 1982 ein Massaker in der Stadt Hama angerichtet hatte. Mehr als 20.000 Menschen fielen damals Luftangriffen und heftigem Granatbeschuss zum Opfer. Dieses Trauma ist im kollektiven Gedächtnis der Gläubigen bis heute verankert. Als dann Baschar al-Assad im März 2011 Sondereinsatztruppen gegen Protestierende in Daraa freie Hand ließ, kamen Dutzende Menschen ums Leben. Die Wut darüber eskalierte landesweit, schwere Ausschreitungen mündeten in einen Bürgerkrieg. Neben der syrischen Regierung tragen radikale muslimische Gruppen gehörige Verantwortung für die Militarisierung des Konflikts. Unter verschiedensten Namen zogen sie gegen die von ihnen als ungläubig beschimpften Alawiten in den Krieg und begannen bald, sich auch gegenseitig niederzumetzeln. Den entscheidenden Funken, der den Religions- und Bürgerkrieg zum Weltenbrand dynamisierte, steuerten dann Interventionen von außen bei. Da sind in erster Linie die beiden Atommächte Frankreich und die USA zu nennen, auch die Türkei, Saudi-Arabien, Katar und Israel fliegen Einsätze in Syrien. Der Iran wiederum stellt ebenso wie die libanesische Hizbolla Elitetruppen, die dem Regime zu Hilfe kommen. Ab September 2015 griff auch noch Russland in das Kriegsgeschehen ein. Innerhalb von sechs Jahren ist aus dem wohlhabendsten Land des Nahen Ostens ein Trümmerfeld geworden. Und Deutschland beschloss Ende Dezember 2015 einen Bundeswehreinsatz.
Die zweite Region, aus der sich Millionen in die Zentren aufmachen, um Krieg und Elend hinter sich zu lassen, ist Afghanistan/Pakistan. Viele bleiben im Iran oder in anderen westasiatischen Ländern hängen. Diese Flüchtlinge gehen in der Hauptsache auf das Konto der USA und ihrer Kriegsallianz, die sich als Antwort auf die Terroranschläge in New York und Washington vom September 2001 gebildet hatte. Warum ausgerechnet Afghanistan ins Visier der stärksten Militärmacht der Welt gekommen ist, wird dort mit einem Versteck des mutmaßlichen Drahtziehers von Nine-Eleven erklärt. Die Wahrheit dahinter harrt noch einer Veröffentlichung. Seit Anfang 2002 laden Woche für Woche Kampfbomber, Cruise Missiles und Drohnen der Westallianz über moslemischen Dörfern und Städten in Afghanistan und Pakistan, dessen nördliche Regionen als Rückzugsgebiete der Taliban gelten, ihre tödliche Last ab; ungezählte Tote und Vertriebene sind die Folge.
Die dritte Hauptquelle der nach Norden ziehenden Flüchtlingsströme ist die sich aus Afrika auf en Weg Richtung Norden aufmachende Armut. Sie hat klimatische, wirtschaftliche und militärische Ursachen. Die sich verschärfende Desertifikation weiter Teile der Subsahara wird zusätzlich von um sich greifenden landwirtschaftlichen Anbauflächen vorangetrieben, auf denen Großkonzerne sogenannte Cash-Crops für den Weltmarkt anbauen. Auch das Leerfischen küstennaher Gewässer durch EU-europäische und japanische Trawler-Flotten beraubt Millionen afrikanischer Familien ihrer Subsistenzgrundlage. Dazu kommt der von Frankreich provozierte und den USA, Katar und Ägypten mitgetragene Krieg gegen Libyen, der zum völligen Zusammenbruch der Staatlichkeit geführt und – ganz nebenbei – die 1700 Kilometer lange libysche Küste zum idealen Ausgangspunkt für afrikanische Migranten gemacht hat.
Als wesentlicher Pull-Faktor meldete sich dann am 31. August 2015 die deutsche Kanzlerin Angelika Merkel zu Wort und setzte mit ihrem "Wir schaffen das" de facto – freilich nicht de jure – das Schengen-System und die Dublin-Verordnung außer Kraft. Hunderttausende aus oben beschriebenen Push-Regionen verstanden dies als Aufforderung, ins gelobte Land zu kommen. Die auf dem Weg dorthin liegenden "Zwischenländer" galt es für sie zu überwinden. Ungarn fand sich in einer besonders prekären Situation wieder, weil ihm von den Dublin-Regeln, nach denen ein Asylantrag in jenem Land behandelt werden muss, in dem der Flüchtling erstmals EU-europäischen Boden betritt, die Rolle als Frontstaat zugewiesen wurde. Griechenland war nach einem Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wegen "systemischer Mängel im Asylwesen" von den Dublin-Regeln befreit.
Die Struktur der Europäischen Union bringt es mit sich, dass die osteuropäische Peripherie als Vorposten des Schengen-Raumes fungiert. Die Dublin-Ordnung macht aus Polen, der Slowakei und vor allem Ungarn Wächterstaaten an der Außengrenze. Als solche müssen sie sich – ausgestattet mit hochmodernem Equipment wie Wärmebildkameras, Hubschrauberstaffeln und Drohnen – verhalten, wollen sie nicht automatisch zum Aufnahmeland sämtlicher Asylsuchender werden, die über den südöstlichen Landweg in Richtung Nordwesten streben. Mit dem Dubliner Regelwerk ist es Deutschland gelungen, die Last der vor Krieg und Elend Fliehenden den Randstaaten der EU aufzubürden, wie die Statistik – für manche überraschend – belegt. Denn Ungarn war jenes Land in der Europäischen Union, das pro Kopf gerechnet im ersten Halbjahr 2015 mit 3300 Anträgen auf eine Million EinwohnerInnen die meisten Asylanträge zu bearbeiten hatte, mehr als Österreich oder Deutschland. Budapest sah sich nach dem Willkommen der deutschen Kanzlerin förmlich dazu gezwungen, die Schmutzarbeit der Flüchtlingsabwehr zu übernehmen. Dies fiel der rechten Regierung Orbán umso leichter, als dass die überwiegende Mehrheit der UngarInnen keine Asylbewerber im Land wollte, wie auch umgekehrt es kaum einen Asylbewerber gab, der in Ungarn bleiben wollte.
Nun sollen also Ungarn und die Slowakei (ebenso wie Polen, Tschechien und alle anderen osteuropäischen Länder) laut Spruch des Europäischen Gerichtshofs die quotierten Flüchtlinge aufnehmen; im Namen der Solidarität, wie Berlin nicht müde wird, hinzuzufügen. Welcher Solidarität? Mit Griechenland und Italien, wo täglich Hilfesuchende stranden, die Merkels Diktum im Ohr und das Zielland Deutschland vor sich haben? Wohl eher mit Deutschland, das schon lange und wiederum ohne Absprache mit anderen dazu übergegangen ist, Asylanträge massenhaft abzulehnen und Flüchtlinge zurückzuschieben. Dafür ist Solidarität allerdings der falsche Begriff. Es müsste wohl eher Ostabschiebung heißen. Viktor Orbán meinte dazu bereits Anfang September 2015, dass die Lösung der Flüchtlingskrise kein ungarisches Problem, sondern ein deutsches sei. Er hätte hinzufügen müssen: auch eines der gesamten westlichen Allianz, allen voran der USA und Frankreichs.