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Wenn die Linke fehlt…

Wenn die Linke fehlt…

Überall Krieg — doch wo ist die Linke? Exklusivabdruck aus „Wenn die Linke fehlt“ von Domenico Losurdo.

Über die Radikalität der historischen Wende, die sich ereignet hat und noch andauert, gibt es keine Zweifel.

Die Dritte Welt, die Gesamtheit der Länder, die eine mehr oder weniger lange Periode der kolonialen oder halbkolonialen Herrschaft hinter sich haben, ist vom politisch-militärischen Stadium des nationalen Befreiungskampfes zum politisch-ökonomischen übergegangen. Was Lenin die „politische Annexion“ nannte, d. h. die direkte über ein Volk ausgeübte Kolonialherrschaft, dem das Recht verweigert wurde, sich als unabhängiger Nationalstaat zu konstituieren, ist weitgehend Vergangenheit. Was es noch gibt, ist die „ökonomische Annexion“, heute potenziert durch die militärische Bedrohung (in Form eines gigantischen Militärapparats, der auch ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat in Aktion treten kann) und die juristische (die von einem weitgehend vom Westen kontrollierten und benutzten „Internationalem Strafgerichtshof“ ausgeht). Doch das, was ich als ökonomisch-technologisch-juristischen Neokolonialismus definiert habe, wird heutzutage mit anderen Methoden als früher attackiert.

Trotz der inzwischen eingeleiteten und zum Teil erfolgreichen imperialistischen Gegenoffensive ist kein anderer Kontinent besser geeignet als Lateinamerika, plastisch für die eingetretene Veränderung zu stehen: In den 60er- und 70er-Jahren gab es zahllose Guerilla-Krisenherde, die heute quasi ganz erloschen sind. Aber das bedeutet keine Niederlage der Linken: Die zumeist von den USA eingesetzten Militärdiktaturen sind gestürzt, und die Regime, die sie ersetzt haben, betreiben mehr denn je den Kampf gegen die Monroe-Doktrin, die heute unter gewaltigem Druck steht. Wer die erfolgte Wende 2006 treffend zusammengefasst hat, war der damalige Vizepräsident Boliviens (García Linera) mit zwei gut formulierten Parolen: „Fortschreitender Abbau der kolonialen ökonomischen Abhängigkeit“ und „Industrialisierung oder Tod“!

Ohne dass es abgelehnt oder in Frage gestellt worden wäre, nahm das Motto „Vaterland oder Tod“, das Fidel Castro und Che Guevara im Lauf des bewaffneten Kampfes gegen die US-freundliche Diktatur lanciert hatten, während noch die militärische Aggression Kuba bedrohte, eine neue Form an (Losurdo, 2016, 12.3). Im Bemühen, eine wirkliche nationale Unabhängigkeit zu erreichen, besetzte der Kampf für autonome ökonomische und technologische Entwicklung den Platz der Guerilla oder des „Volkskriegs“. Aber das von García Linera verkündete Programm beinhaltet nicht nur das Bemühen, die Produktivkräfte autonom zu entwickeln; jene Länder Lateinamerikas, die der neokolonialen Unterwerfung weiterhin trotzen, sind auch dabei, die ökonomischen, geschäftlichen und schließlich politischen Beziehungen untereinander zu verstärken mit dem Ziel, die Abhängigkeit von den USA loszuwerden. Und gestärkt durch die bereits erreichten Ergebnisse haben sie sich manches Mal von der Kriegspolitik Washingtons distanziert.

Während die Dritte Welt sich in radikaler Weise geändert hat, ist die Zweite Welt buchstäblich verschwunden.

Mit diesem Ausdruck belegte man traditionell die Länder sozialistischer Orientierung, die eine Zeit lang in einem „sozialistischen Lager“ ökonomischer und politisch-militärischer Art zusammengeschlossen waren. Der Kapitalismus ist nach Osteuropa, heute zu einem großen Teil in die NATO eingegliedert, zurückgekehrt. Auf der anderen Seite stellen sich China, Vietnam und in letzter Zeit auch Kuba auf internationaler Ebene nicht mehr als alternatives Gesellschaftsmodell gegen das herrschende dar, beanspruchen nicht mehr, der „Leuchtturm des Sozialismus" im einen oder anderen Teil der Welt zu sein.

An erster Stelle engagieren sie sich, zu den industriell und technologisch weiter entwickelten Ländern aufzuschließen, um den Lebensstandard der Bevölkerung anzuheben, mit dem Ziel auch, für die regierende kommunistische Partei die gesellschaftliche Konsensbasis zu verbreitern und zu konsolidieren sowie vom Westen und insbesondere seiner Führungsmacht inszenierte Destabilisierungsversuche zu vereiteln. Nicht weil die sozialistische Orientierung aufgegeben würde, sondern aufgrund der neuen Prioritätenskala tendieren China, Vietnam und Kuba dazu, Teil der Dritten Welt zu werden. Eine besonders wichtige Rolle kommt dabei dem ersten Land zu: Wenn es mit Mao und seiner Theorie des „Volkskriegs“ der Hauptideengeber der ersten Etappe (der politisch-militärischen) der antikolonialen Weltrevolution gewesen ist, ist es mit Deng Inspirator der zweiten, noch in Gang befindlichen Phase geworden.

Bis zum Schluss hat Mao seine Überzeugung betont, dass „entweder die Revolution den Krieg verhindert oder der Krieg die Revolution hervorruft“.

Es war ein Slogan, der deutlich auf die historische Erfahrung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgeht: Die Entwicklung der sozialistischen und kommunistischen Bewegung hatte es nicht geschafft, den Ausbruch zweier Weltkriege zu verhindern, die aber zum Sturz des kapitalistischen Systems zuerst in Russland und dann in einer Reihe anderer Länder beigetragen hatten. Hingegen war es an Deng zu erklären, was der Hauptinhalt der letzten Jahrzehnte des 20. und der ersten des 21. Jahrhunderts war: Die ökonomische und technologische Entwicklung der Länder, die die antikoloniale Weltrevolution oder genauer deren erste, politisch-militärische Etappe überstanden hatten. Zu dieser erweiterten Dritten Welt, die auch die Schwellenländer umfasst, ist in gewisser Weise auch Russland hinzugekommen. Natürlich handelt es sich um ein Land, das eine mit imperialistischem Expansionismus durchsetzte Geschichte hinter sich hat, das aber aufgrund seiner ökonomisch-sozialen Fragilität und seiner ethnischen Heterogenität schnell in eine halbabhängige Lage geraten kann.

Nachdem es fast zwei Jahrhunderte durch die Mongolenherrschaft ertragen und lange den Albtraum der Ordensritter erlebt hatte, sah Russland Anfang 1600 seine Hauptstadt von den Polen besetzt; ca. hundert Jahre später erfolgte die Invasion durch Karl XII. von Schweden und wieder ein Jahrhundert später diejenige Napoleons; am Ende des Ersten Weltkriegs hatte Russland nicht nur die Intervention der Westmächte zu ertragen, sondern auch einen Balkanisierungsprozess, der nicht aufzuhalten schien. Von diesem Prozess ging Hitler aus, um den später mit der Operation Barbarossa umgesetzten Plan zu hegen, der das riesige eurasische Land in eine immense Kolonie und einen immensen Pool an Sklavenarbeitskraft verwandeln sollte.

Am Ende der im Kalten Krieg erlittenen Niederlage fiel Russland für einige Zeit zurück in eine Lage, die derjenigen, die auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg folgte, ziemlich ähnlich war; noch heute schafft das unerbittliche Vordringen der NATO in Osteuropa eine gefahrenreiche Situation.

Wir haben damit eine erweiterte Dritte Welt vor uns, die die Schwellenländer und die sozialistisch orientierten Länder umfasst und insgesamt vom Kampf um die Realisierung oder die endgültige Durchsetzung zweier Menschenrechte charakterisiert ist, nämlich der „Freiheit von Not“ und der „Freiheit von Angst“.

Diese größere Dritte Welt, die natürlich reich an Widersprüchen in ihrem Inneren und gewiss nicht frei von Herausforderungen und Schwierigkeiten ist, stellt trotzdem eine Alternative zur herrschenden Weltordnung dar, aber weniger auf der internen Ebene der einzelnen Länder als bezüglich der internationalen Arbeitsteilung, die so lang dadurch gekennzeichnet war, dass der Westen die Hochtechnologie monopolisiert und den Rest der Welt auf einen Lieferanten von Rohstoffen, von Niedriglohnarbeit und nicht zuletzt auf einen Absatzmarkt für anspruchsvollere Waren aus den entwickelten kapitalistischen Ländern reduziert hat.

Nun zur Ersten Welt. Auch sie ist gewiss nicht von den aktuellen Erschütterungen verschont geblieben. Und ich spiele nicht nur auf die Globalisierung an. Wichtiger ist es, zwei gegensätzliche Entwicklungen zu untersuchen. Der über die Zweite Welt am Ende des Kalten Kriegs errungene Sieg hat das stolze Selbstbewusstsein des Westens noch weiter gesteigert. Damit einhergehend flammt erneut der Neokolonialismus auf, und zwar umso mehr, als es die Revolution in Military Affairs, deren integrierenden Bestandteil auch die Nutzung der neuen Medien unter geopolitischem Aspekt ausmacht, den USA und der NATO erlaubt, praktisch ungestört kleine Länder, die bald mit tatsächlichem Angriff, bald mit Destabilisierungsmanövern ins Visier genommen werden, mit echter Bombardierung oder multimedialem Bombardement zu überziehen.

Gleichzeitig befindet sich die Erste Welt in einer schwierigen Lage gegenüber einer Dritten Welt, die heute auch die Länder mit sozialistischer Ausrichtung umfasst und dabei ist, große Erfolge in der zweiten Etappe der antikolonialen Revolution (der politisch-ökonomischen nämlich) zu erreichen. Der (auch technologisch) rasante Aufstieg Chinas ist der spektakulärste Beweis für die epochale Veränderung der Kräfteverhältnisse, die sich derzeit weltweit vollzieht.

Es ist aber eine Veränderung, die, weitab davon, zu Vorsicht zu mahnen, die abenteuerlichsten Kreise des Westens, vor allem seiner Führungsmacht, zu einem gereizten geopolitischen und militärischen Aktivismus treibt: Man muss sich beeilen, ehe es zu spät ist, um für Jahrzehnte den Vorsprung zu konsolidieren und zu stabilisieren, den weiterhin die Erste kapitalistisch-imperialistische Welt und vor allem jene Nation genießen, die sich als von Gott „erwählt“ und als einzige „unverzichtbare“ betrachtet. Die diversen lokalen Kriege, die als unterschiedlich eingefärbte „Farbenrevolutionen“ verkleideten Staatsstreiche, die gegen das eine oder andere Land in Gang gesetzten Destabilisierungsversuche, die gravierenderen Initiativen militärischer, politischer bis hin zu ökonomischer Strategie (man erinnere sich an die „ökonomische NATO“) – all diese Prozesse und Spielzüge enthüllen, trotz ihrer extremen Unterschiedlichkeit, einem genaueren Blick ein gemeinsames Merkmal: Die Absicht nämlich, Russland und besonders China in immer größere Schwierigkeiten zu bringen

Was das letztere angeht, haben die US-amerikanischen Analysten und Strategen kein Problem damit, ihren Plan offen darzulegen: Man muss so vorgehen, dass die Energieversorgung des großen asiatischen Landes, das nicht über Rohstoffe wie Öl und Gas verfügt, möglichst massiv Gewaltmaßnahmen seitens der übermächtigen Kriegsmarine der USA ausgesetzt ist, die so grundsätzlich die Macht über Leben oder Tod von mehr als 1,3 Milliarden Menschen ausüben könnte. Es gibt auch Analysten und Strategen, die von Krieg sprechen und deshalb schon mögliche Szenarien eines großen Krieges, ja eines Dritten Weltkriegs untersuchen.

Die Ideologie, die ihn legitimieren und absegnen soll, ist schon fertig, wird seit kurzem bereits obsessiv vertreten und flächendeckend verbreitet dank des noch vom Westen gehaltenen Monopols der Ideen und vor allem der Emotionen und mit Hilfe unbewusster Techniken, die Empörungsterror erregen und in vielen Fällen das kritische Denken unterbinden können. Es ist die Ideologie, die von Anfang an die Geschichte der USA begleitet hat, die sich schon in den Jahrzehnten als „Reich der Freiheit“ brüsteten, in denen quasi all ihre Präsidenten Sklavenhalter waren und das Land auf dem amerikanischen Kontinent den Befürwortern des Instituts der Sklaverei als Maßstab galt. Zu einem großen Teil ist auch die westliche Linke Opfer oder Träger dieser Ideologie, die den Tauglichkeitstest von Jahrhunderten Geschichte und Krieg siegreich überstanden hat.

Diese Linke hält sich für kritisch und vorurteilsfrei, ist aber in Wirklichkeit chauvinistisch und macht sich den Chauvinismus der Ersten Welt zueigen.

Ich habe von der Linken gesprochen, ohne zwischen „gemäßigter Linker“ und „radikaler Linker“ zu unterscheiden. Der Grund für mein Vorgehen ist einfach. Nehmen wir den Libyenkrieg. Sein neokolonialer Charakter, seine Wiederholung eines wohlbekannten Kapitels des Kolonialismus (das Sykes-Picot-Abkommen von 1916) haben sich in Stellungnahmen der unbefangeneren Analysten des Westens und in Artikeln der wichtigsten Presseorgane niedergeschlagen. In Italien jedoch haben zwei berühmte Persönlichkeiten wie Camusso und Rossanda, die Generalsekretärin der CGIL und eine der Gründer(innen) der „kommunistischen Tageszeitung“ Il manifesto, Stellung genommen zugunsten eines infamen Kolonialkriegs, der Zehntausende Tote gekostet und ein Land auch auf politischer Ebene zerstört hat! Wollen wir Rossanda eine Neigung zum Moderaten unterstellen? Wir haben ja gesehen, wie Hardt, der neben Negri weltweit einer der am meisten gefeierten Vertreter der „radikalen Linken“ ist, 1999 den Jugoslawienkrieg legitimiert hat, dessen alles andere als humanitärer Charakter von einem konservativen Historiker wie Ferguson stillschweigend anerkannt worden ist.

Hardt (und Negri) aus der „authentischen“ radikalen Linken ausschließen zu wollen, hätte wenig Sinn: Es gibt schließlich auch trotzkistische Bewegungen, die sich zugunsten der Rebellen in Libyen und Syrien geäußert haben. Sollte jemand gerade die Trotzkisten als der „authentischen“ kommunistischen Bewegung fremd betrachten, sollte er sich bewusst sein, dass die, die gegen China die Gemeinplätze der herrschenden Ideologie und Macht wiederkäuen, bisweilen kommunistische Organisationen und Parteien sind, die Stalin verehren. Auf der anderen Seite hat auch das breite Lager jener, die die versteckten Staatsstreiche der „Farbenrevolutionen“ als Volksaufstände begrüßt haben, sich nicht an die Grenzen zwischen „gemäßigter“ und „radikaler Linker“ gehalten.

Unabhängig von den Stellungnahmen zu diesem oder jenem aktuellen Problem gibt die Tatsache zu denken, dass es der Linken, häufig auch der „radikalen“, anzumerken ist, dass sie unkritisch den vom Westen eingerichteten heiligen Kalender verinnerlicht hat: Jedes Jahr wird feierlich der Tragödie vom Tienanmen-Platz gedacht, nicht jedoch der von Kwangju, die sich in Südkorea in ähnlicher Weise und mit einer weit höheren Zahl an Opfern ereignet hat. Neben dem heiligen Kalender lässt sich die Linke, manchmal auch die „radikale“, von der herrschenden Ideologie und Macht auch die Erklärung der Menschenrechte diktieren: Die Äußerungen zu diesem Thema und die diesbezüglich über diverse Akteure der internationalen Politik gefällten Urteile ignorieren oft die sozialen und ökonomischen Rechte und die „Freiheit von Not“ wie die „Freiheit von Angst“. Auch wenn sie zugunsten jener Rechte und Freiheiten Stellung bezieht, zeigt oder vertritt die Linke (bis hin zur „radikalen“) eine Kultur, die nicht selten in mehr oder weniger scharfem Widerspruch zu dem Ziel steht, das sie verfolgen zu wollen erklärt.

Deshalb sind aber die Unterschiede im Rahmen der Linken nicht unbedeutend geworden. Was die internationale Politik angeht, muss man zu unterscheiden wissen zwischen der imperialen Linken, die sich dieser unterordnet, und jener Linken, die sich tatsächlich gegen die imperiale Linke stellt. Entsprechend muss man zu unterscheiden wissen zwischen jener Linken, die sich inzwischen neoliberalen Positionen angeglichen hat, und derjenigen, die (auf politischer und kultureller Ebene) mehr oder weniger konsequent und mehr oder weniger klarsichtig an der Verteidigung der sozialen und ökonomischen Rechte arbeitet. Natürlich ist die Lage von Land zu Land auch ganz unterschiedlich.

Doch trotz der hier und da erkennbaren Zeichen für einen erneuten Aufschwung der kommunistischen, und allgemeiner einer der herrschenden Ordnung innenpolitisch und international wirklich entgegenstehenden, Bewegung scheint die Linke im Westen sich insgesamt durch Konfusion und Zerfall auszuzeichnen.

Das ist eine besorgniserregende Situation, die nicht allein durch das Anprangern des Opportunismus oder mittels Appellen an revolutionäre Zielstrebigkeit überwunden werden kann. Zuallererst wird eine Analyse der weltweiten neuen Lage gebraucht, die entstanden ist: Wenn dieses Buch dazu dient, eine Debatte über dies so entscheidende Thema zu eröffnen, hat es sein Ziel erreicht.

Domenico Losurdo, Prof. Dr. phil., * 1941. Lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Universität Urbino. Zahlreiche Bücher, so über Hegel, Nietzsche, Gramsci oder Stalin, begründen sein internationales Renommee. (Quelle: PapyRossa Verlag)

Wir danken dem PapyRossa Verlag für die Genehmigung zum Abdruck.


Wenn die Linke fehlt