Weniger Ökonomie wagen!
Wenn wir eine menschlichere Gesellschaft schaffen wollen, muss die Ideologie einer Welt als Ware auf den Prüfstand.
„Ein bisschen Ethik nützt dem Betriebsklima und damit langfristig auch dem unternehmerischen Erfolg.“ „Wenn wir die Arbeitnehmer ein bisschen besser bezahlen, stärkt das die Kaufkraft und kurbelt die Wirtschaft an.“ Wer so argumentiert, versucht human zu wirken, tanzt aber noch immer nach der Melodie des kapitalistischen Paradigmas. Wenn wir eine bessere Welt schaffen wollen, dürfen wir uns also nicht damit begnügen, innerhalb der ökonomistischen Logik Verbesserungen vorzunehmen; wir müssen dieser Logik selbst den Kampf ansagen, die sich in weiten Teilen der Gesellschaft als die einzig erlaubte Logik gebärdet. Dazu bedarf es zunächst einer „Gegenlogik“, eines umfassenden philosophischen Gegenentwurfs, dessen Hauptbestandteile man keineswegs neu erfinden müsste. Wir müssen für das, was wir sagen und kritisieren wollen, eine eigene Sprache (wieder)finden und die uns vorgegebenen Sprach- und Denkmuster abschütteln wie ein Netz, in dem man uns zu fangen versucht. Der Mensch ist Zweck, nicht Mittel gesellschaftlicher Strukturen. Würdevolle Arbeitsbedingungen wollen wir nicht, um „der Wirtschaft“ in der Funktion als Produzenten und Konsumenten zu dienen, sondern damit wir alle ein glücklicheres Leben führen können.
Pater Lukas besitzt kein Portemonnaie. Der fast 80-Jährige lebt ohne Geld. Sein Priestergehalt, das ihm für seine Dienste in einer kleinen Landgemeinde zusteht, gibt er an einen Mönchsorden weiter, bei dem er ordiniert ist. Dafür stellt der Orden für ihn Unterkunft, ein Auto, Benzin und ein kleines Taschengeld. Letzteres gibt Pater Lukas allerdings vollständig an die von ihm aus der Ferne betreute Waisenkindermission in Namibia (Südwest-Afrika) weiter. Für ihn selbst bleibt nichts.
Wovon Pater Lukas lebt? Jeden Werktag nimmt er die Reste mit nach Hause, die von der Mittagsverpflegung des Kindergartens übrigbleiben, den er als Seelsorger betreut. Am Wochenende, wenn er nicht von einem seiner Gemeindemitglieder zum Essen eingeladen wird, kann es schon mal knapp werden. Doch Pater Lukas ist nicht anspruchsvoll. Sein Lebensantrieb liegt auf einer anderen, einer geistig-spirituellen Ebene, sie ist konsequent anti-ökonomisch. „In den Mönchsorden wird der eigentliche Kommunismus gelebt“, sagt er.
Der „eigentliche Kommunismus“
Ist Pater Lukas ein Exot, ein Ausbund haarsträubender ökonomischer Ignoranz, dessen Beispiel nicht verallgemeinert werden kann? Es gibt mehr Menschen wie Pater Lukas, als man meinen sollte. Die meisten von ihnen leben unfreiwillig in Not und Knappheit, doch um die geht es mir hier nicht.
Heidemarie Schwermer wurde vor 20 Jahren bekannt durch ihr Buch „Das Sterntaler-Experiment“. Sie schildert darin, wie sie seit 1996 buchstäblich ohne Geld lebte, überwiegend durch Arrangements, die es ihr ermöglichen, das Haus von Fremden zu hüten und dabei deren reich gefüllte Speisekammer nutzen zu können. Von Ort zu Ort bewegte sie sich, indem sie Leute am Bahnsteig ansprach, die sie auf ihren Mehrpersonen-Karten umsonst mitfahren ließen. Heidemarie Schwermer wollte mit ihrem Selbstversuch auch darauf hinweisen, wie selbstverständlich wir Geld als allgegenwärtige und unverzichtbare Daseinsgrundlage betrachten.
Die Kutte des Heiligen Franz
Dabei gibt es „Sterntaler-Experimente“ nicht erst seit 1996. Franz von Assisi, Sohn eines reichen Kaufmanns, verschenkte seinen ganzen persönlichen Besitz an die Armen. Als ihn sein Vater dafür öffentlich zur Rede stellte, entkleidete er sich vor versammelter Bürgerschaft auf offener Straße und gelobte, von nun an nur noch Gott anzugehören. In Assisi ist noch die Kutte des Heiligen Franziskus zu besichtigen, aus graubraunem, grob gewebtem Stoff, mehrfach geflickt und zerrissen, eher einem Kartoffelsack als einem Kleidungsstück ähnlich. Franz von Assisi war als außergewöhnlich heiterer Mensch mit großem Gottvertrauen bekannt.
Außer seiner Kutte hat sich mir ein anderes Bild unauslöschlich eingeprägt, jenes von Mahatma Gandhis ganzem Besitz. Das Foto zeigt zwei paar alte Sandalen, eine Brille mit runden Gläsern, ein Buch, eine Reisschale, eine Teeschale, nicht wesentlich mehr als das.
Nun sind Gandhi und Franz von Assisi sicher Ausnahmemenschen, ihnen nachzueifern würde die meisten von uns überfordern. Und doch gibt es eine Fülle weniger spektakulärer „Fälle“, die bestens belegen, dass die scheinbar undurchdringliche Asphaltdecke des ökonomischen Nutzendenkens an der einen oder anderen Stelle Risse bekommt, aus denen schöne Blüten der Güte und geistigen Freiheit hervorlugen können. So die Geschichte von einem Musiker, der sich bereit erklärte, der Tochter seines Freundes Klavierunterricht zu geben — unter einer Bedingung: dass er keine Bezahlung dafür bekäme. Oder die Geschichte einer Frau, die ehrenamtlich einsame alte Menschen besucht, sich ebenso ehrenamtlich für die Einführung einer Regionalwährung einsetzt und dafür ihre „Einkommen generierenden“ Tätigkeiten sträflich vernachlässigt.
Wenn wir nur genau hinsehen, finden wir unzählige solcher kleinen Geschichten. Die weniger „Edlen“ können durchaus begründen, warum sie ökonomisch, gewinnorientiert und eigennützig handeln. Nur soll bitte niemand so tun, als sei die Entscheidung, die er zugunsten des Eigennutzes getroffen hat, alternativlos — als entspräche sie einem unumstößlichen Lebensgesetz.
Was ist Ökonomie?
Was ist eigentlich Ökonomie? Sie beruht auf zwei Grundprinzipien:
1. Verkaufe umso teurer, je knapper und daher begehrter ein Wirtschaftsgut ist.
Zu diesem Thema schrieb Silvio Gesell (1862 bis 1930), der Begründer der Freiwirtschaftslehre:
„Mit der Inbesitznahme oder Aneignung eines Gegenstandes, den man nicht selbst gebrauchen kann, der aber, wie wir annehmen oder wissen, von anderen gesucht wird, können wir nur einen Zweck verfolgen: wir wollen diesen anderen Verlegenheiten bereiten und diese Verlegenheiten ausbeuten.“
Besonders perfide wirkt dieses ökonomische „Gesetz“, wenn Pharmakonzerne den Kranken in der Dritten Welt lebenswichtige Medikamente nur zu extrem hohen Preisen abgeben oder wenn sie die Eigenproduktion identischer Medikamente unter Hinweis auf das Patentrecht verbieten.
2. Kaufe billig ein und verkaufe teuer.
Beide Grundsätze sind heute so allgegenwärtig, dass man sie nicht einmal mehr als Meinungen neben anderen Meinungen wahrnimmt, sondern als pure Selbstverständlichkeit. „Wenn jeder für sich selber sorgt, dann ist für alle gesorgt“, lautet ein wohlfeiles Sprichwort. Die klassische Ökonomie gründet seit Adam Smith (1723 bis 1790) auf dem Egoismus, der sich — wenn ihm alle nun konsequent genug frönen — angeblich zum Wohle Aller auswirkt. Das Geschäftsleben wird so zu einem Hahnenkampf zweier Akteure mit gleicher egoistischer Gesinnung. Dem Geschäftskrieg vorangegangen ist oft ein „Wettrüsten“, bei dem sich jeder Kontrahent mit neuesten Manipulations-, Verkaufs- und Marketingtaktiken ausgestattet hat.
Auch eine noch so ausgefeilte Theorie kann aber das hässliche Gesicht des Egoismus nicht schön schminken.
Die Behauptung, dass eine Ansammlung profitgieriger Menschen eine gute Welt erschaffen könnte, wäre gleichbedeutend mit der Annahme, lauter kranke Bäume ergäben einen gesunden Wald.
Der schlimmste Tyrann
Die französische Schriftstellerin Viviane Forrester schreibt über das derzeit herrschende neoliberale System:
„Es ist streng, tyrannisch und überall verbreitet, aber konturlos, und daher schwer ausfindig zu machen. Es wurde nie als politisches System proklamiert und hält doch alle Fäden der Wirtschaft, die es auf das Geschäftemachen reduziert, in der Hand. Das Geschäftemachen ist darauf gerichtet, sich alles einzuverleiben, was noch nicht zu seiner Sphäre gehört.“
Mit dem Slogan vom „Terror der Ökonomie“ (im Original eigentlich: „L’horreur économique“ = Schrecken der Ökonomie) hat Forrester die Grundzüge der neuen Weltordnung sehr pointiert beschrieben.
Zur herrschenden einseitigen Profitlogik schreibt sie:
„In Wirklichkeit beschäftigen sich die Texte und Reden, die die Probleme der Arbeit und damit der Arbeitslosigkeit analysieren, allein mit dem Profit, er bildet ihre Grundlage, ihre Matrix, ohne dabei jemals genannt zu werden. (…) Er steht ganz oben und bildet so offensichtlich die Grundlage für alles, dass man ihm verschweigt. Alles ist von ihm abhängig, ist auf ihn ausgerichtet, wird in Abhängigkeit von ihm geplant, verhindert oder verursacht, er erscheint so unausweichlich, als wäre er mit dem Wesen des Lebens verschmolzen.“
Geld für Werbung, statt Geld für Menschen
Neben Viviane Forrester ist es vor allem die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein, die die Durchdringung aller Lebensbereiche der modernen Welt mit Werbe- und Verkaufsinteressen scharf kritisiert. Insbesondere nimmt sie Markenfirmen wie Shell, Nike, McDonald‘s oder Starbucks aufs Korn, die den öffentlichen Raum — der ja eigentlich allen Bürgern zur Verfügung stehen sollte — zur Werbefläche verkommen lassen:
„Sie versahen nicht mehr nur ihre eigenen Produkte mit Markenzeichen, sondern drückten auch der Kultur, die nichts mit ihren Produkten zu tun hatte, ihre Markenzeichen auf. So gingen sie hinaus in die Welt, sponserten kulturelle Veranstaltungen und beanspruchten damit Teile dieser Welt als Brückenköpfe für ihren Markennamen. Für diese Unternehmen war Markenpolitik nicht nur ein Mittel, bei einem Produkt einen Wertzuwachs zu erzeugen. Sie war vielmehr von einem unbändigen Hunger nach kulturellen Ideen und Metaphern geprägt, die regelrecht aufgesogen und als ‚Markenerweiterung’ wieder in die Kultur zurückgespien wurden.“
So wird, da ja jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann, der Wahn der teuren und aufdringlichen Werbekampagnen zu einer zusätzlichen Gefahr für die soziale Gerechtigkeit. Naomi Klein schreibt dazu:
„Wenn die millionenschweren Sponsoringverträge unterzeichnet sind und die Coolness-Jäger und Marketingexperten ihre Schecks bekommen haben, dann ist vielleicht nicht mehr allzu viel Geld übrig.“
Der Anspruch der Arbeitnehmer auf angemessene Bezahlung konkurriert so nicht nur mit der Renditegier der Anleger und dem dreisten Zugriff der Topmanager auf obszön hohe Gehälter, sondern auch mit dem überzogenen Selbstdarstellungsbedürfnis der Markenfirmen.
„Mit den verschwenderischen Ausgaben für Marketing, Fusionen und Markenerweiterungen in den Neuzigerjahren ging ein historisch beispielloser Widerwille einher, in Produktionseinrichtungen und Arbeitskräfte zu investieren (…) Wenn der eigentliche Produktionsprozess so abgewertet wird, steht zu vermuten, dass es den Menschen, die die produktive Arbeit leisten, ebenso ergeht.“
Der verwertbare Mensch
So ist es in der Tat. Das Wesen des ökonomischen Denkens, das zu einer Menschenverwertungs-Mentalität verkommen ist, kann man sehr drastisch aus einem historischen Beispiel belegen: den Sklaventransporten von Afrika nach Amerika im 18. Jahrhundert. Ein Augenzeuge, Pfarrer John Newton berichtet über die Zustände auf den Sklavenschiffen:
„Die Sklaven liegen in zwei Schichten übereinander (…) so dicht beieinander wie Bücher in einem Regal. Ich habe es erlebt, dass sie so eng zusammengepfercht waren, dass man wirklich keinen mehr hätte hineinpressen könnten. Die armen Kreaturen sind zudem noch mit Ketten gefesselt (…) Jeden Morgen fand ich in mehr als nur einem Fall, dass da ein Toter an einen Lebendigen gefesselt lag.“
Es gab damals unter den Kapitänen von Sklavenschiffen zwei Typen, die man „loose packers“ und „tight packers“ nannte. Die „loose packers“ gaben den Afrikanern etwas mehr Raum, damit eine ausreichende Anzahl von ihnen gesund und arbeitsfähig am Bestimmungsort ankam. Die „tight packers“ kalkulierten dagegen hauptsächlich mit einer extrem hohen „Stückzahl“. Dafür nahmen sie eine höhere Verlustrate durch Tod und Krankheit in Kauf. Man kann von einem moralischen Standpunkt aus über die „tight packers“ sagen, was man will — sie waren in jedem Fall ausgezeichnete Geschäftsleute.
Das Beispiel beweist natürlich nicht, dass „Die Wirtschaft“ pauschal das Reich des Bösen ist, es zeigt lediglich, was geschehen kann, wenn man ein Denkprinzip von jeglicher humaner Rücksichtnahme „befreit“. Wenn man aufhört, den Einzelmenschen als fühlendes, leidendes und nach Glück verlangendes Wesen wahrzunehmen, und ihn im Sinne Immanuel Kants als „Mittel“, nicht als „Zweck“ allen Handels betrachtet.
Die Sklaverei im engeren Sinn ist zumindest in Deutschlands heute überwunden. Menschen müssen aber unter Bedingungen leben und arbeiten, die denen in Harriet Beecher-Stowes berühmtem Roman „Onkel Toms Hütte“ nicht unähnlich sind. Bei Vollzeitarbeit reicht es gerade für eine bescheidene Unterkunft und so viel Verpflegung, dass die für die Arbeitsfähigkeit nötigen körperlichen Grundfunktionen aufrechterhalten werden können. Der „Ein-Euro-Job“ ist nichts weiter als das Feigenblatt, das nackte Ausbeutung zu verhüllen sucht.
Kapitalismus ist in seinen historischen wie seinen gegenwärtigen Ausprägungen nichts weiter als Nutzmenschenhaltung.
Der Mensch hat bei Interessengegensätzen drei grundsätzliche Alternativen: 1. Er nimmt seinen eigenen Nachteil für den Vorteil des Anderen in Kauf. 2. Er gewichtet beide Interessen gleich stark und sorgt für einen gerechten Ausgleich. 3. Er sucht seinen eigenen Vorteil auf Kosten der Interessen des Anderen. Der herrschende Geist des Ökonomismus favorisiert fast ausschließlich Variante 3. Darüber kann auch modisches Gerede über „Win-Win-Strategien“ — bei denen beide Teilnehmer gewinnen — nicht hinwegtäuschen.
Rücksichtnahme auf den Geschäftspartner ist im Rahmen einer ökonomistischen Ideologie entweder eine Ausnahme von der Regel oder sie betrachtet das Wohl des Partners als Voraussetzung für das eigene Wohl, macht Rücksichtnahme also quasi zum Produktionsfaktor. Damit stellt sich die Ökonomie im Übrigen quer zur Ethik beinahe aller religiösen Bekenntnisse. So sagte der Buddha: „Schlecht ist, was du aus der Kraft und dem Gut anderer erzwingst oder erschleichst, ohne dass es dir gewährt wurde.“
Den Vorwurf, der Kapitalismus degradiere die Welt, insbesondere die menschliche Arbeitskraft zur Ware, hat schon Karl Marx erhoben. So heißt es in den „Ökononisch-philosophischen Manuskripten“:
„Der Arbeiter wird eine umso wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware.“
Verfolgt man dagegen die Argumente der Linken in den aktuellen politischen Debatten, so fällt auf, dass sie kaum jemals die „Entwertung der Menschenwelt“ und damit den anti-humanen Charakter des Ökonomismus kritisieren. Vielmehr beklagen sie im Hinblick auf die zunehmende Verarmung der Arbeitnehmer hauptsächlich der Verlust von „Kaufkraft“ und „Binnennachfrage“.
Dieses Argumentationsschema belegt, wie tief das Denken in Kategorien von Wirtschaftlichkeit und Effizienz schon in den Köpfen der Menschen, selbst der Linken verankert ist. Kaum einer traut sich, höhere Löhne und Gehälter einfach deshalb zu fordern, weil etwas mehr finanzieller Spielraum die Menschen freier und glücklicher machen würde. Es geht eben nicht um das Glück der Menschen, sondern darum, inwieweit wir in der Lage sind, der Wirtschaft in unserer Funktion als Konsumenten zu dienen.
Kapitalismus und Marxismus sind einander insofern nicht völlig wesensfremd, sondern gleichen eher feindlichen Brüdern. Beiden Ideologien gemeinsam ist der Grundsatz: „Alles wird von der Ökonomie bestimmt und ist auf sie zurückzuführen. Daher kann auch die Befreiung nur von der ökonomischen Ebene ausgehen.“
Linke und neoliberale Ideologien sind wie zwei Äste ein und desselben Baumes. Es käme aber darauf an, einen ganz neuen Baum zu pflanzen.
Die Logik des Kapitalismus
Im Rahmen seiner eigenen Begrifflichkeiten hat der Ökonomismus fast immer „Recht“ und ist schwer widerlegbar. Drastisch ausgedrückt kann man die schrittweise Umstellung eines Betriebs auf Sklavenarbeit immer mit der Sorge um Arbeitsplätze begründen. Innerhalb des ökonomischen Denkrahmens könnte man dann bestenfalls argumentieren, Sklaven verfügten über eine zu geringe Kaufkraft. Man solle ihnen also ein bisschen Geld geben, das kurble die Wirtschaft an und sei im Interesse aller. Was nötig ist ein entschlossenes „Nein“ zur Sklaverei, zur ökonomischen Verwertungslogik, zur Vereinnahmung der nichtökonomischen durch die ökonomische Sphäre — sowohl in den Entwicklungsländern als auch bei uns.
Ökonomie ist ein nützliches Werkzeug, wenn sie vernünftig gehandhabt wird. Sie dient dann dazu, Güter so zu organisieren und zu verteilen, dass möglichst viele Menschen Zugang zu ihnen haben — die neuseeländische Kiwi im oberbayerischen Obstkorb — und sichert gleichzeitig den Lebensunterhalt aller am Produktions- und Verteilungsprozess Beteiligten. So verstanden hat die Ökonomie eine sinnvolle, dienende Rolle. Als Herrin oder gar Göttin des Menschen ist sie eine glatte Fehlbesetzung.
Jede Denkdisziplin ist sinnvoll und in sich stimmig an ihrem eigenen Platz und solange sie sich mit den Anwendungsgebieten zufriedengibt, die ihr angemessen sind. Die Ökonomie aber denkt gar nicht daran, sich zu bescheiden. Sie besteht darauf, auch die Literatur, die Kunst, die Erziehung, die Naturwissenschaft, die Nahrungsversorgung, den Medizinbetrieb, den Strafvollzug, ja sogar die Therapie zu beeinflussen.
In Carl Zuckmayers Stück „Der Hauptmann von Köpenick“ wird der Titelheld bei Arbeitsbeginn in einer Fabrik vom Vorarbeiter gefragt: „Hamse jedient?“ (Waren Sie beim Militär?). Schlagfertig antwortet er, er hätte nicht gewusst, dass das hier ein Kasernenhof sei. Hier erobert die militärische Logik auch gesellschaftliche Bereiche, wo sie eigentlich nichts zu suchen hätte.
Heute ist fast alles ein „Betrieb“ oder ein „Geschäft“. Fast jeder ist „Kunde“. Und beim Eintritt in eine Firma kann es passieren, dass man gefragt wird: „Sindse jeimpft“, als sei man auf einer Krankenstation.
Die Ebenen vermischen sich zusehends.
Es ist unübersehbar, dass überall, wo ein Lebensbereich mit wirtschaftlichem Denken infiziert wird, eben diese Sphäre fortschreitend vergiftet wird. Dies will ich kurz an ein paar Beispielen verdeutlichen:
Gesundheit als ökonomisches Risiko
Ein Beispiel, das uns derzeit besonders schmerzlich betrifft: Es muss immer genügend Patienten geben, um alle am Gesundheitssystem Beteiligten zu ernähren. Profitabel ist nicht die Heilung für alle, sondern die Schaffung langfristiger Abhängigkeitsverhältnisse zu Ärzten, Medikamenten und Apparaten. Vorbeugung und tatsächlich wirksame Therapien sind schon deshalb verdächtig, weil sie dem System ihren wichtigsten Rohstoff abspenstig zu machen drohen: den kranken Menschen. Angesichts der Bedeutung, die eine ausreichende Bettenbelegung für den „Betrieb“ Krankenhaus und ausreichende Renditen für die Hersteller von Medikamenten und medizinisch-technischem Gerät haben, wäre es betriebswirtschaftlich unverantwortlich, den Krankenstand der Bevölkerung lediglich dem Zufall zu überlassen.
Ein Sonderfall ist noch der Handel mit Medikamenten. Das Wissen um ein Heilungsmittel wird als „Patent“ geschützt. Nach dem Grundsatz von Silvio Gesell bedeutet Ökonomie, dass dem Menschen immer genau das vorenthalten und dann teuer verkauft wird, was er am nötigsten braucht. Das Recht auf Patentschutz steht nicht nur theoretisch, sondern auch in vielen konkreten Fällen im globalen Süden höher als das Recht auf Leben.
Gesunden-Medikation — der Megatrend
Als neuer, äußerst lukrativer Geschäftstrend wurde in jüngerer Zeit vor allem die Gesunden-Medikation entdeckt — vergleichbar ungefähr dem Verkauf von Nahrung an Menschen, die keinen Hunger haben. Impfungen bewirtschaften die Körper von Millionen Gesunden — heute auch definiert als asymptomatisch oder potenziell Erkrankte. Es gibt somit niemanden mehr, mag er oder sie auch ein wahres Genie der Gesundheitsvorsorge sein, der sich noch der präventiven Gabe synthetischer Substanzen entziehen kann, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, ein rücksichtsloser Gefährder von Menschenleben zu sein. So wie alle Bürger für ein kostenpflichtiges Abonnement von ARD und ZDF zwangsrekrutiert werden, wird man der Impfung, wenn einmal „alle ein Impfangebot erhalten haben“, nur noch schwer entfliehen können.
Und auch wenn man neben Profiten noch andere Gründe für das Corona-Theater vermuten kann — pure Machtgier und die Absicht der Bevölkerungsdressur zum Beispiel: Es ist unwahrscheinlich, dass es so schlimm gekommen wäre, hätten nicht kommerzielle Absichten von verschiedener Seite die Hysterie angeheizt. Allein schon das Geschäft mit Masken und Tests ist ein abstoßendes Schauspiel, bei dem sich Tausende von Ordnungskräften, Zugführern, Apotheker und Geschäftsinhaber als Interessenvertreter der Hersteller einspannen lassen. Und das, obwohl sich die Corona-Maßnahmen auch auf deren eigenes Geschäft teilweise verheerend ausgewirkt haben. Gekauft und geglotzt wird ja dann verstärkt online, so als seien Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, in denen sich Menschen offline unterhielten und versorgten, nur ein langer Irrweg gewesen.
Corona ist auch ein riesengroßer Business-Plan, unterstützt durch einen Staats- und Medienapparat, der mit allen Mitteln propagandistischer und notfalls physischer Gewalt agiert und Menschen wie eine Viehherde in Richtung der Impfzentren treibt.
Eine für die Pharmaunternehmen einzigartig komfortable Ausgangssituation.
Die erste Freiheit der Presse
Denn auch die Medien sind — natürlich — vor allem eines: ein Geschäft. Karl Marx sagte richtig: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein.“ Zeitschriftenverlage, Buchverlage, Radio- und Fernsehanstalten und andere Medienunternehmen werden, wenn sie sich als Wirtschaftsunternehmen verstehen, etwas Ähnliches tun wie ein effizienter Krankenhausbetrieb: Sie werden versuchen, ihre Konsumenten von geistig niedrigschwelligen Unterhaltungsangeboten abhängig zu machen. Sie fördern eher die Sucht — zum Beispiel nach dem Sensationellen, Reißerischen — als emotionale Gesundheit, innere Unabhängigkeit und eigenständiges Urteilsvermögen. Kritikfähigkeit und die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu begreifen, werden von Medieninhalten kaum gefördert, weil sie nicht im Interesse der Medienbetreiber selbst liegen.
Das Ergebnis kann man gerade in jüngster Zeit beobachten. Das „niedrige Niveau“ des Publikums, vorgeblich die Ursache für die intellektuelle Selbstbeschneidung der Medienschaffenden, wird zugleich als deren Folge immer weiter verstärkt. Außerdem ist in einem betriebswirtschaftlich geführten Medienunternehmen der Kunde — sprich: der Anzeigenkunde — König. Die Redaktionen werden bemüht sein, um die Anzeigen herum ein ansprechendes „redaktionelles Umfeld“ zu schaffen. Allzu Subtiles kann sich da allzu schnell als „Kassengift“ erweisen. Jedoch: „Fear sells“ — wie Sex und Gewalt.
Ökonomische „Intelligenz“
Intelligenz beinhaltet per definitionem „die Fähigkeit zum Erkennen von Zusammenhängen und zum Finden optimaler Problemlösungen“. Insofern würde eine intelligente Ökonomie zumindest das grundlegendste aller menschlichen Probleme zu lösen versuchen: die Bedrohung seines Überlebens durch Mangel an lebensnotwendigen Gütern. Dazu gehört auch das Vermeiden unnötiger Ausgaben, damit es nicht an Mitteln fehlt, um sich die nötigen leisten zu können. Diese ökonomische Intelligenz ist allerdings im heute weltweit vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftssystem nicht gegeben. Sie leistet es sich, dass Geld in großen Mengen dorthin fließt, wo es nicht gebraucht wird, und dort fehlt, wo es gebraucht wird. Es leistet sich Entwicklungshilfe für die Reichen, die finanzielle Unterstützung einer Absahner-Kaste, der es längst nicht mehr um die Sicherung des Existenzminimums, sondern vielmehr um eine immer weitere Überdehnung des Existenzmaximums geht.
Willy Brandt machte 1974 Wahlkampf mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“. Die Ökonomie allerdings ist in ihrem jetzigen Zuschnitt zutiefst antidemokratisch. Das gilt nicht nur für die innerbetrieblichen Strukturen, wo Ansätze von Mitbestimmung eher auf dem Rückzug sind; es gilt vor allem für die Tendenz der Ökonomie, nicht nur Besitz, sondern auch Macht zu konzentrieren, sie also den Vielen zu nehmen und sie den Wenigen zuzuschanzen.
Ein Machtgewinn der ökonomischen gegenüber der politischen Sphäre bedeutet auch: weniger Einfluss für Institutionen, die wir mittels Wahlen wenigstens ein bisschen beeinflussen können, mehr Einfluss für antidemokratisch gesinnte Oligarchien, regiert von Vorständen und Aktionärsversammlung, denen bei aller Unterschiedlichkeit eines gemein ist: Wir haben sie nicht gewählt.
„Mehr Demokratie wagen“ kann also in unseren Zeiten nur eines bedeuten:
Weniger Ökonomie wagen!