Die radikale Demokratietheorie besagt, dass das Volk ein Monopol auf die Setzung allen Rechts besitzt, mit dem es Exekutive und Judikative vollständig kontrolliert. Obgleich die radikale Demokratietheorie attraktive Eigenschaften besitzt, hat sie einen schlechten Stand in der politischen Philosophie und sogar in der machtkritischen Öffentlichkeit. Ein Hauptgrund für die ablehnende Haltung vieler Demokratietheoretiker und Machtkritiker ist in dem Umstand zu suchen, dass sie eine Reihe von Argumenten für zwingend halten, die zu zeigen scheinen, dass die radikale Demokratietheorie mit grundlegenden demokratischen Prinzipien unvereinbar ist.
In diesem Text sollen zwei zentrale Argumente dieser Art dargestellt und diskutiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass alle beide Argumente zu verwerfen sind, da sie jeweils eine ungerechtfertigte Prämisse enthalten. Alle diese Argumente nehmen dabei Bezug auf das Konzept der Volkssouveränität, das den Kern der radikalen Demokratietheorie bildet. Der Text gliedert sich wie folgt: Im ersten Abschnitt wird die radikale Demokratietheorie dargestellt und erläutert. In den darauffolgenden zwei Abschnitten wird sodann jeweils eines der fraglichen Argumente rekonstruiert und diskutiert.
Die radikale Demokratietheorie
Im Folgenden sollen die Hauptthesen der radikalen Demokratietheorie formuliert und erläutert werden. Hierzu ist es nützlich, zunächst kurz zu klären, was eine Demokratietheorie im Allgemeinen ausmacht.
Die Demokratietheorie als Disziplin der politischen Philosophie ist durch die Frage charakterisiert, was die Natur von Demokratien ist. Genauer formuliert fragt sie danach, was notwendige und hinreichende Bedingungen dafür sind, dass eine beliebige Form gesellschaftlicher Machtorganisation eine Demokratie ist. Jede philosophische Theorie, die diese Frage beantwortet, sei ebenfalls als „Demokratietheorie" bezeichnet. Wenn im Weiteren das Wort „Demokratietheorie" verwendet wird, so meinen wir in den meisten Fällen Demokratietheorie als Theorie und nicht als Disziplin. Falls mit dem Wort die Disziplin bezeichnet werden soll, werden wir dies explizit kenntlich machen.
Alle Demokratietheorien beantworten die Frage nach der Natur von Demokratien mit der These, dass Demokratie genau jenen Typus von sozialer Machtorganisation bezeichnet, in dem das Volk die Macht beziehungsweise Herrschaft ausübt ― die Wörter „Macht" und „Herrschaft" werden im gesamten Text synonym gebraucht. Genauer besagt die These: Demokratie besteht darin, dass ein kollektives, soziales Etwas, üblicherweise als „das Volk" bezeichnet, die Macht über ein Objekt X ausübt. Uneinig ist man sich unter Demokratietheoretikern hinsichtlich aller drei Dinge, auf die diese These Bezug nimmt, nämlich hinsichtlich des Volkes, des Objektes X und der Relation der Machtausübung durch das Volk über X. Verschiedene Demokratietheorien geben verschiedene Auskünfte zu den folgenden drei Fragen (2):
- Was ist das Volk?
- Was ist das Objekt X, über das das Volk Macht ausübt?
- Wie übt ein Volk Herrschaft über das Objekt X aus?
Die radikale Demokratietheorie ist nun jene Demokratietheorie, die diese Fragen in nachstehender Weise beantwortet:
- Ad 1. Das Volk ist funktional bestimmt als die Gesamtheit der Nicht-Funktionäre, das heißt, der Personen, die kein politisches Amt bekleiden.
- Ad 2. Das Objekt X besteht aus der ausführenden Gewalt (Exekutive) und der rechtssprechenden Gewalt (Judikative).
- Ad 3. Das Volk übt Macht über Exekutive und Judikative dadurch aus, dass der Sachverhalt der Volkssouveränität besteht.
Der Sachverhalt der Volkssouveränität muss freilich erklärt werden.
Kurz zusammengefasst meint Souveränität die Eigenschaft einer politischen Instanz, die gesetz- und verfassungsgebende Gewaltfunktion (Legislative) ungeteilt auszuüben. Dies besagt, dass diese Instanz der alleinige Träger der Kompetenz ist, Gesetze beziehungsweise Verfassungen zu beschließen oder zu annullieren.
Volkssouveränität meint sodann den Sachverhalt, dass die Eigenschaft der Souveränität dem Volk zukommt.
Im Detail ist das Konzept der Volkssouveränität ein komplexes Gebilde, dessen Struktur hier nicht in der gebotenen Ausführlichkeit nachgezeichnet werden kann. Für das Weitere reicht die Auskunft, dass der Sachverhalt der Volkssouveränität eine spezifische Gegensatzbeziehung zwischen Volk und den Staatsapparaten der Exekutive und der Judikative bestimmt. Diese Relation kann umrisshaft in fünf Punkten dargestellt werden (3, 4, 5, 6):
- Funktionale Gewaltenteilung. Das Volk ist der alleinige Träger der Souveränität, aber seine Gewaltkompetenz ist auf die Legislativfunktion eingeschränkt. Im Gegensatz dazu kommt Exekutive wie Judikative das Gewaltmonopol zu, aber ansonsten üben beide keine weitere Gewaltfunktion aus. Die jeweiligen Gewaltfunktionen werden somit von den Gewalten jeweils ungeteilt ausgeübt.
- Vertikale Gewaltenteilung. Volkssouveränität beinhaltet ein striktes Rechtsstaatsprinzip. Demnach sind alle Entscheidungen von Exekutive wie Judikative nur dann legitim, wenn sie Einzelfallanwendungen von Gesetzen darstellen, die das Volk als Souverän hervorbringt. Insofern stellen Gesetze unter den Bedingungen von Volkssouveränität eine vollständige Programmierung der gewalthabenden Staatsapparate dar.
- Vollpositivierung von Gesetz und Verfassung. Da das Volk voll und ganz über die Verfassungs- und Gesetzgebung gebietet, kann es jederzeit, ohne Rechtfertigungszwang, jedes beliebige einmal beschlossene Gesetz und jede einmal beschlossene Verfassung vollständig zurücknehmen und durch andere Rechtsprodukte ersetzen. Ein Gesetz oder eine Verfassung hat danach nur solange Gültigkeit, wie es oder sie noch nicht vom Gesetzgeber, dem Volk, suspendiert worden ist. Die jeweils geltende Verfassung und das jeweils geltende Gesetz binden nicht den Gesetzgeber, sondern Exekutive und Judikative.
- Prozesscharakter von Verfassung und Gesetz. Normen gewinnen dadurch Gesetzes- oder Verfassungscharakter, dass sie im Rahmen bestimmter formaler Prozesse durch die Legislative erzeugt werden. Diese Prozesse unterliegen dabei dem Prinzip der reflexiven Legitimation: Ihr Endergebnis ist nur dann ein demokratisch legitimes Rechtsprodukt, wenn die Prozesse selber jene Eigenschaften exemplifizieren, die dem Produkt zukommen sollen. Dazu gehören etwa die Freiheit der Prozessbeteiligten von illegitimer Gewaltausübung wie auch die Gleichheit aller Beteiligten, was die Verfügbarkeit von prozessrelevanten Informationen betrifft.
- Doppelcharakter der Grundrechte. Den Prozessbedingungen ist eine Doppelnatur zu eigen. Einerseits bilden sie partiell unbestimmte, vorpositive Grund- beziehungsweise Freiheitsrechte aller Bürger, die vor aller Verfassungsbildung liegen und den Bürgern als Naturrechte zukommen ― die Wörter „Grundrecht" und „Freiheitsrecht" werden im Weiteren bedeutungsgleich verwendet. Andererseits reichert der Souverän im Rahmen von Verfassungsgebungen oder -änderungen diese teilweise unartikulierten Grundrechte in einer bestimmten sozialhistorischen Situation mit inhaltlichen Bestimmungen interpretatorisch an. Sodann gibt er diesen Anreicherungen eine präzise Formulierung in der Gestalt von positiven Verfassungsgrundsätzen, die in die neue Verfassung eingehen. Diese Verfassungsgrundsätze haben die Hauptfunktion, dem Souverän den für die ständige Reinterpretation seiner vorpositiven Grundrechte nötigen Freiheitsraum gegenüber dem Gewaltmonopol von Exekutive und Judikative zu sichern.
Einiges scheint für die radikale Demokratietheorie zu sprechen. So lässt sich plausibel dafür argumentieren, dass sie es erlaubt, einen sehr anspruchsvollen Begriff von Freiheit mit der Existenz eines Gewaltmonopols zu vereinbaren (7): Die Exekutive hat unter radikaldemokratischen Vorzeichen die alleinige Aufgabe, die Freiheitsräume der Bürger gegeneinander abzugrenzen. Die Umsetzung dieser Aufgabe erfordert es, dass ein Gewaltmonopol existiert. Andererseits ist Gestalt und Umfang der exekutivischen Interventionen voll und ganz durch das jeweils geltende Gesetz und die jeweils geltende Verfassung bestimmt, die der Souverän unter Rückgriff auf seine vorpositiven Grund- und Freiheitsrechte produziert hat.
Zudem sind überzeugende Argumente dafür vorgebracht worden, dass gerade der abstrakte Charakter der radikaldemokratischen Verfassungs- und Gesetzgebungsverfahren geeignet ist, den Problemen moderner Gesellschaften bei der demokratischen Konsensbildung Rechnung zu tragen. Dies sei kurz erläutert (8):
In Gesellschaften moderner Prägung können wegen der Pluralität an Wertüberzeugungen immer schwerer genügend inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern gefunden werden, um demokratische Konsensbildung auf primär inhaltlicher Basis aussichtsreich erscheinen zu lassen. Demgegenüber scheint auch in solchen ideologisch zersplitterten Gemeinschaften Einigung auf formale Prozesse für die Entscheidungsfindung aussichtsreich zu sein. Solche Prozesse sind es eben, die die radikale Demokratietheorie als Dreh- und Angelpunkt für die Genese demokratisch legitimer Gesetze und Verfassungsgrundsätze ansieht.
Trotz dieser vorgeblich vorteilhaften Eigenschaften wird die radikale Demokratietheorie in der Demokratietheorie als Disziplin eher abschätzig betrachtet. Der Hauptgrund für diese reservierte Haltung seitens vieler Demokratietheoretiker ist vorrangig dem Umstand geschuldet, dass sie eine Reihe von Einwänden gegen die radikale Demokratietheorie für triftig halten, die zu zeigen scheinen, dass diese Theorie mit demokratischen Prinzipien wie Gewaltenteilung oder Grundrechtssicherung nicht vereinbar ist.
Im nächsten Abschnitt werden drei der einflussreichsten Argumente dieser Art einer näheren Prüfung unterzogen. Das erste Argument versucht zu zeigen, dass Volkssouveränität nicht mit Gewaltenteilung verträglich ist. Die letzten beiden Argumente wollen den Nachweis dafür erbringen, dass unter Bedingungen der Volkssouveränität die Grundrechte von Bürgern nicht gesichert werden können.
Vom Teilen und Herrschen
Das erste Argument findet sich in der einen oder anderen Form bei Carl Schmitt (9). Es besagt, dass es unmöglich ist, dass sowohl Volkssouveränität als auch Gewaltenteilung realisiert sind. Da aber Gewaltenteilung notwendig für Demokratie sei, so geht das Argument weiter, sei Volkssouveränität mit Demokratie unvereinbar. Halten wir dieses Argument wie folgt fest:
- Erste Prämisse. Volkssouveränität impliziert, dass es keine Gewaltenteilung gibt.
- Zweite Prämisse. Wenn es keine Gewaltenteilung gibt, dann gibt es keine Demokratie.
- Konklusion. Volkssouveränität ist mit Demokratie unverträglich.
Das Argument ist logisch gültig und die zweite Prämisse ist wahr. Allerdings stellt die erste Prämisse keinesfalls eine offensichtliche Wahrheit dar. Der Gegner der Volkssouveränität muss eine Begründung für die erste Prämisse liefern, da andernfalls sein Argument keine rechtfertigende Funktion für seine Position zugebilligt werden kann.
Ein erster Begründungsversuch seinerseits könnte wie folgt aussehen: Gemäß dem Konzept der Volkssouveränität übt das Volk sowohl die ungeteilte Legislativfunktion als auch die ungeteilte Exekutivfunktion aus. Aber wenn das Volk sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsdurchsetzung auf sich vereint, gibt es keine Gewaltenteilung. So weit der erste Begründungsversuch.
Allerdings ist dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn aus dem Konzept der Volkssouveränität, so wie es in der radikalen Demokratietheorie Verwendung findet, folgt ja gerade, dass das Volk nur die Legislativfunktion ungeteilt ausübt. Damit schließt Volkssouveränität gerade den Fall aus, dass das Volk ungeteilter Träger sowohl der Gesetzgebung als auch der Rechtsdurchsetzung ist.
Die problematische Behauptung, dass Volkssouveränität beinhalte, dass das Volk auch die ungeteilte Exekutivfunktion ausübt, findet sich dabei interessanterweise nicht nur bei Carl Schmitt (11), sondern auch bei machtkritischen Politikwissenschaftlern wie Johannes Agnoli. Agnoli sieht in Volkssouveränität das Kernelement echter Demokratie. Allerdings spricht er von Demokratie als Selbstregierung durch das Volk. Diese Charakterisierung von Demokratie legt es zumindest nahe, dass unter volkssouveränen Bedingungen das Volk die ungeteilte Exekutivfunktion ausübt (12). Nichts könnte der radikaldemokratischen Realität ferner stehen.
Der Gegner der Volkssouveränität kann versuchen, die folgende alternative Begründung für die erste Prämisse vorzubringen: Volkssouveränität hat zur Konsequenz, dass die Legislativfunktion nicht auf verschiedene Gewalten verteilt wird. Wenn aber die Gesetzgebung ungeteilt ist, dann gibt es keine Gewaltenteilung.
Dieser Begründungsversuch hat gegenüber dem ersten den Vorteil, dass er keine offensichtlich falschen Behauptungen über Volkssouveränität verwendet, was seine mögliche Stärke erhöht. Denn es ist natürlich korrekt, dass die Ungeteiltheit der Gesetzgebung aus Volkssouveränität folgt. Allerdings hängt die Wahrheit der Behauptung, dass die Ungeteiltheit der Legislative Gewaltenteilung verhindert, davon ab, wie Gewaltenteilung aufgefasst wird. Wir können eine radikaldemokratische von einer konstitutionalistischen Konzeption unterscheiden. Die radikaldemokratische Auffassung besagt, dass Gewaltenteilung vorliegt, wenn alle und nur die Legislativfunktion ungeteilt dem Volk zukommt, während das Gewaltmonopol ungeteilt Exekutive wie Judikative zusteht. Die konstitutionalistische Konzeption meint dagegen, dass die Legislativfunktion partiell auch von den Gewalten ausgeübt wird, die das Gewaltmonopol ungeteilt innehaben.
Nun ist es offenbar, dass die Behauptung, dass eine ungeteilte Legislative Gewaltenteilung ausschließt, nur dann wahr ist, wenn mit dem Wort „Gewaltenteilung" die konstitutionalistische Auffassung von Gewaltenteilung gemeint ist. Somit verschiebt sich die Debatte mit dem Gegner der Volkssouveränität auf die Frage, ob die konstitutionalistische Auffassung von Gewaltenteilung akzeptabel ist. Falls ja, hat die Meinung, dass Gewaltenteilung die Zerteilung der Legislative erfordert, zumindest Aussicht darauf, wahr zu sein.
Obgleich die konstitutionalistische Auffassung den rechtswissenschaftlichen Diskurs dominiert, muss gesagt werden, dass sie nicht akzeptabel ist. Dies lässt sich deutlich machen, indem man sich vergegenwärtigt, was der Anspruch einer jeden minimal demokratischen Gewaltenteilungskonzeption ist. An dessen Einlösung oder Nichteinlösung kann nämlich eine solche Konzeption gemessen werden. Der Anspruch einer jeden minimal demokratischen Auffassung von Gewaltenteilung besteht darin, die Freiheitsrechte von Bürgern zu sichern.
Die konstitutionalistische Konzeption kann diesen freiheitssichernden Anspruch aber nicht einlösen. Dies lässt sich wie folgt begründen: Gemäß dieser Konzeption wird die rechtssetzende Funktion nicht nur von der Legislative (dem Volk oder seiner Vertretung) ausgeübt. sondern auch von den das Gewaltmonopol innehabenden Gewalten der Exekutive und Judikative.
Die Rechtssetzung hat aber in einer Demokratie als eine ihrer Hauptfunktionen, den Eingriffsraum der das Gewaltmonopol innehabenden Gewalten strikt an den Volkswillen zu binden. Dies soll es ausschließen, dass der Staat sein Gewaltmonopol missbraucht, um die Freiheitsrechte der Bürger zu beschädigen.
Diese zentrale Funktion der Rechtssetzung kann aber nicht realisiert werden, wenn die gewalthabenden Staatsapparate an der Rechtsproduktion beteiligt werden. Denn dann können diese Apparate ja die rechtlichen Beschränkungen selber mitbestimmen, die ihren Zugriffsmöglichkeiten auferlegt sind. Mit anderen Worten: Dann können Exekutive wie Judikative potenziell sich einer Programmierung durch den Volkswillen entziehen, da sie das Programm teilweise mitschreiben.
Wenn also die konstitutionalistische Konzeption von Gewaltenteilung realisiert ist, kann der Volkswille nicht mehr das Gewaltmonopol bestimmen. Das öffnet der Verletzung von Freiheitsrechten durch die gewalthabenden Staatsapparate Tür und Tor.
Diese Gedanken sind nicht neu, sondern Kern der aufklärerischen Gewaltenteilungskonzeptionen des 18. Jahrhunderts, wie sie sich etwa bei dem großen Verfassungstheoretiker der Französischen Revolution, Emmanuel Joseph Sieyes finden. Nach Sieyes stellen die gewalthabenden Staatsapparate lediglich verfassungsgemäße, das heißt, per Verfassung eingesetzte Entitäten dar, die eben deshalb nicht über Verfassungs- oder Gesetzesrecht bestimmen dürfen. Dies sei lediglich der verfassungsgebenden Gewalt vorbehalten, die Sieyes mit einer bestimmten Form von Volksvertretung identifiziert. Konsequenterweise formuliert Sieyes, dass das Volk als mittelbar rechtssetzende Instanz nicht an die Verfassung gebunden ist, sondern nur die Regierung (12).
Solche Gedanken sind in den Verwerfungen des rechtswissenschaftlichen Denkens, aber auch in den Verirrungen des machtkritischen Diskurses von dissidenter Seite nahezu verloren gegangen. Sie wieder zu entdecken und für effektiven demokratischen Widerstand fruchtbar zu machen, ist angesichts der immer bedrohlicher sich zeigenden autoritären Entwicklungen in der BRD dringlicher denn je. Dabei reicht es nicht aus, diese Überlegungen zur bloßen kontemplativen Analyse der heraufziehenden Autokratie in Anwendung zu bringen. Die Verfassungs- und Demokratietheorie der radikalen Aufklärung war als Theorie einer Praxis gedacht. Das praktische Ziel bestand in nichts Geringerem als einer Revolution im Sinne Immanuel Kants: der Herstellung von Volkssouveränität.
Die Verfassung der Grundrechte
Das zweite Argument gegen Volkssouveränität versucht zu zeigen, dass unter den Bedingungen von Volkssouveränität die Grundrechte der einzelnen Bürger nicht gesichert sind. Das Argument wurde in gewissen Varianten von altkonservativen Weimarer Rechtswissenschaftlern wie Erich Kaufmann vertreten und findet sich auch in der Lehrbuchliteratur (13, 14).
Das zweite Argument startet mit der Behauptung, dass gemäß dem Konzept der Volkssouveränität positive Grundrechte von Bürgern nicht in Verfassungen niedergelegt sein dürfen. Dabei sind mit positiven Grundrechten solche Grundrechte gemeint, die bestimmte Handlungen explizit erlauben. Ein Beispiel wäre etwa der Art 20, Abs. 4 GG der BRD, der ein Widerstandsrecht zum Zwecke der Verteidigung der bestehenden Verfassung vorsieht. Allerdings, so fährt das Argument fort, könnten Verfassungen, die keine positiven Grundrechte von Bürgern enthalten, die Grundrechte nicht sichern. Somit habe Volkssouveränität zur Konsequenz, dass Grundrechte nicht gesichert werden können. Das Argument sei wie folgt festgehalten:
- Erste Prämisse. Wenn in Verfassungen die positiven Grundrechte von Bürgern nicht enthalten sind, sind die Grundrechte von Bürgern nicht gesichert.
- Zweite Prämisse. Volkssouveränität impliziert, dass in Verfassungen die positiven Grundrechte von Bürgern nicht enthalten sein dürfen.
- Konklusion. Volkssouveränität impliziert, dass die Grundrechte von Bürgern nicht gesichert sind.
Die zweite Prämisse ist wahr. Die erste Prämisse ist allerdings nicht korrekt. Die Begründung dieser letzteren Behauptung wird auch zeigen, warum die zweite Prämisse den Tatsachen entspricht. Bevor aber ein Argument für die Falschheit der ersten Prämisse geführt wird, soll auf den inadäquaten Verfassungsbegriff kurz eingegangen werden, den die erste Prämisse voraussetzt. Denn dieses problematische Verfassungskonzept ist sehr verbreitet und lässt sich selbst aus dissidenten Kreisen immer wieder vernehmen.
Dieses Konzept von Verfassung ist im Kontext einer umfassenderen justizstaatlichen Entwicklung zu sehen, die in Deutschland spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg durchschlägt und die Ingeborg Maus als „Refeudalisierung des Rechts" bezeichnet. Die Grundtendenz dieser Entwicklung bildet sich sowohl in der eigentlichen Rechtssprechungspraxis als auch im verfassungstheoretischen Diskurs der Rechtswissenschaft ab. Sie besteht darin, dass die Legitimität von Recht abgekoppelt wird von den Prozessen der Rechtserzeugung.
Diese Abtrennung von Rechtsprodukt und den Prozessen, die dieses Produkt in radikaldemokratischer Perspektive allein rechtfertigen können, spiegelt sich besonders deutlich auf Verfassungsebene wieder: Im Lichte der refeudalisierten Rechtsidee stellt eine Verfassung nicht eine Kollektion von Spielregeln dar, die die Beschränkungen für die Hervorbringung von Gesetzesinhalten markieren. Vielmehr bildet eine Verfassung einen Katalog von inhaltlichen Normen, deren Legitimität sich aus ihrer Übereinstimmung mit einer für das Volk unverfügbaren, objektiven Rechtsordnung herleitet. Aus diesem Katalog an von vornherein als „richtig" geltenden Verfassungsinhalten können gemäß der refeudalisierten Rechtsvorstellung, bestimmte richterliche Expertengruppen für jede sich ergebende Grundrechtsfrage eine korrekte Rechtsentscheidung ableiten.
Diese „Resubstantialisierung" (Ingeborg Maus) der ursprünglich in abstrakten Prozessbegriffen gedachten Verfassungskonzeption der Aufklärung beinhaltet nicht einmal mehr dem Anschein nach eine Rückbindung von Rechtsnormen an Volkskonsens. Im Gegenteil wird der Anteil der Legislativfunktion, der Grundrechte betrifft, in die Hände eines höchstens verfassungsgemäßen richterlichen Expertengremiums gegeben. Dieses kann seine Rechtsentscheidungen, die de facto immer auch Rechtsetzungen darstellen, nur durch seine „Ausdeutungen" der Verfassungsinhalte rechtfertigen.
Somit legitimiert diese Gerechtigkeitsexpertokratie ihre Entscheidungen durch ihren vermeintlich privilegierten Zugang zu einer vermeintlich gegebene objektive Rechtsordnung, die freilich jeglichem demokratischen Zugriff entzogen bleibt. Im Wege der Resubstantialisierung der Verfassung wird diese gleichsam zum Souverän, während Volkssouveränität zusammenschrumpft auf den einmaligen Akt der Verfassungsgebung und sodann erlischt. Eine Anbindung von Rechtsetzungen an irgendeine Art von Volkskonsens ist in diesem Modell nicht mehr nötig. Es kann auf Demokratie verzichten. Es mag für gewisse Zeitgenossen eine ernüchternde Einsicht sein, aber dieses Verfassungsmodell ist exakt jenes, dass dem GG zugrunde liegt.
Diese ohnehin bereits archaisch anmutenden Rechtsvorstellungen haben tatsächlich ihre Ursprünge in mittelalterlichen, feudalständischen Rechtsinstituten (15). Sie erfahren allerdings ab dem 17. Jahrhundert unter absolutistischen Vorzeichen eine bemerkenswerte Akzentverschiebung hin auf eine immer stärkere Beteiligung der Justiz an der Rechtsherstellung.
Dies zeigt sich etwa in Großbritannien an einer veränderten Ausdeutung der Magna Charta durch die zeitgenössischen Rechtsgelehrten: Während die Magna Charta die Durchsetzung der von ihr kodifizierten feudalen Freiheitsverbriefungen noch den feudalständisch Privilegierten überließ, brach sich unter den britischen Rechtsgelehrte des 17. Jahrhunderts die Meinung zunehmend Bahn, dass es neben der Magna Charta keinen solchen souveränen Träger von Freiheitsrechten geben könne. Denn die Magna Charta sei selber als quasi-souveräne Rechtsordnung aufzufassen, mittels derer Gerichte zu rechtsherstellenden Entscheidungen gelangen sollten, um mögliche Willkürakte des absolutistischen Herrschers zu bändigen (16).
So viel sei zu dem Verfassungsbegriff gesagt, der der ersten Prämisse zugrunde liegt. Oben wurde behauptet, dass die erste Prämisse falsch ist. Dies kann nun wie folgt begründet werden: Jede Verfassung im Sinne der radikaldemokratischen Verfassungskonzeption enthält keinerlei positive Grundrechte und dies ist gerade notwendig dafür, dass Grundrechte geschützt werden. Wir erläutern diesen wichtigen Punkt unter Verweis auf den Doppelcharakter von Grundrechten, wie er im ersten Abschnitt dargestellt worden ist.
In radikaldemokratischer Sicht haben danach Grundrechte eine doppelte Natur: Einerseits handelt es sich bei ihnen um vor aller Verfassungsgebung liegende, quasi-normative Eigenschaften, die Menschen als Naturrechte zukommen. Andererseits gehört es zu der permanenten Verfassungsevolution, die ein Volk im Rahmen einer radikalen Demokratie betreibt, dass es auf diese nicht völlig artikulierten Naturrechte zugreift, um sie gemäß den Anforderungen einer gegeben historischen Situation zu konkretisieren. Anschließend werden diese angereicherten Grundrechte in präzise formulierte Symbolisierungen übertragen, die dann die prozessuale Verfassungsnormen bilden. Letztere machen die Grundrechte im Rahmen einer gegebenen Verfassung aus.
Diese Verfassungsnormen dürfen nun keine positiven Grundrechte ausdrücken. Denn die Funktion dieser Verfassungsnormen besteht nicht nur darin, Spielregeln für die Gesetzgebung abzustecken. Sie erfüllen die ebenso wichtige Funktion, dem Volk einen rechtsfreien Raum zu gewähren, der vor jeglicher Intervention vor den gewalthabenden Staatsapparaten geschützt ist. Es ist gerade dieser Raum, der es dem Souverän, dem Volk, erlaubt, permanent auf seine vor aller Verfassungsgebung liegenden Grundrechte durchzugreifen und sie für die Generierung neuer Rechtsprodukte zu verwenden (17).
Wenn Verfassungsnormen nun positive Grundrechte ausdrücken würden, könnten Verfassungsnormen diese wichtige Schutzfunktion vor exekutivischen und judikativischen Eingriffen nicht erfüllen. Denn sofern positive Grundrechte in Verfassungsnormen gegossen werden, ist der Möglichkeit Tür und Tor geöffnet, die Wahrnehmung dieser Grundrechte an bestimmte inhaltliche Bedingungen zu knüpfen.
Solche Einschränkungen sind häufig bedingt durch institutionell gesteuerte Angriffe auf das demokratische System selbst, die grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden können. Ist eine solche Beschränkung von positiven Grundrechten installiert, werden die Grundrechte tendenziell durch die gewalthabenden Staatsapparate als Waffen gegen die Bevölkerung eingesetzt. Dies stellt dann eine tatsächliche Bedrohung der Freiheitsrechte dar.
Welche Gefahren eine solche Situation für die Grundrechtssicherung entfalten kann, mag der Leser anhand der gegenwärtigen Grundrechtseinschränkungen durch die Exekutive der BRD ermessen. Diese Interventionen machen exakt von der oben beschriebenen Strategie Gebrauch, inhaltlich bestimmte, positive Grundrechte, die im GG ausgedrückt sind, den Bürgern nur zu gewähren, sofern sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Wie diese Bedingungen freilich aussehen, ist dabei weitgehend der Willkür der gewalthabenden Staatsapparate anheimgestellt.
Dies stellt die radikaldemokratische Idee einer Verfassung auf den Kopf: In radikaldemokratischer Perspektive dient eine Verfassung dazu, die Eingriffsmöglichkeiten von Exekutive und Judikative strikt an den Volkswillen zu binden. Das Volk selber ist als Souverän der Verfassung nicht unterworfen, da sie ja nur solange Gültigkeit hat, wie sie das Volk noch nicht verworfen hat. In unserer Gegenwart wird hingegen das GG verwendet, um die Grundrechte der Bürger strikt an den Willen der gewalthabenden Staatsapparate zu binden. Das sind bedrohliche Vorboten für eine autokratische Transformation des Rechtssystems der BRD, denen es mit allen gebotenen Mitteln entgegenzutreten gilt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Wendy Brown, Undoing the Demos,. Neoliberalism‘s Stealth Revolution, Princeton 2015.
(2) David Held, Models of Democracy. Cambridge 2006, Seite 1 folgende.
(3) Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten Erster Teil, Herausgegeben von Bernd Ludwig, Hamburg 1986 (1797).
(4) Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant. Frankfurt am Main 1994.
(5) Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Frankfurt am Main 2011.
(6) Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social, herausgegeben von Pierre Burgelin, Paris 1966 (1762).
(7) Siehe Maus, 2011, Seite 62 bis 64.
(8) Vergleiche Maus, 2011, Seite 41.
(9) Carl Schmitt, Verfassungslehre, 11. Auflage Berlin 2017 (1928), Seite 51 folgende.
(10) Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 8. Auflage Berlin 2015 (1921), Seite 121.
(11) Johannes Agnoli: „Die Transformation der Demokratie“. In: Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften, herausgegeben von Barbara Görres Agnoli, 2. Auflage Hamburg 2012 (1967), Seite 13 bis 93, hier: Seite 13 folgende.
(12) Emmanuel Joseph Sieyes: „Was ist der dritte Stand?“ In: Emmanuel Joseph Sieyes: Politische Schriften 1788-1790, herausgeben von Eberhard Schmidt und Rolf Reichardt, 2. Auflage München/Wien 1981 (1789), Seite 117 bis 96, hier: Seite 167 folgende.
(13) Schmidt, 2019, Seite 80.
(14) Erich Kaufmann: „Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung“, Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 3, 1927, Seite 2 bis 24, hier: Seite 11 folgende.
(15) Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, 7. Auflage Darmstadt 1980, Seite 233.
(16) Maus, 1994, Seite 36.
(17) Maus, 2011, Seite 64 folgende.