Vorwort der Übersetzerin Johanna Koch
Die „#MeToo“-Kampagne ging Anfang Oktober 2017 mit den Enthüllungen der sexuellen Übergriffe seitens Hollywoods größtem Filmproduzenten Harvey Weinstein einher und trug dazu bei, dass seither zahlreiche Prominente der Medienwelt, darunter auch Woody Allen und Kevin Spacey, beschuldigt, diffamiert und regelrecht aus der medialen Öffentlichkeit „verbannt“ wurden.
Ursprünglich rief die Aktivistin Tarana Burke die „Me Too“-Bewegung im Jahre 2007 in Philadelphia ins Leben. Sie galt der Solidarität und Unterstützung sexuell missbrauchter, farbiger Mädchen. Erst durch die Schauspielerin Alyssa Milano wurde die Kampagne geradezu kommerzialisiert - via Twitter forderte sie all diejenigen, die jemals sexuell belästigt wurden, dazu auf, „#MeToo“ in ihrem Status zu posten. Bislang hat sich die „Bewegung“ mit über 10 Millionen Hashtagposts zu einem Trend entwickelt, der eine Zeit lang die internationale Medienwelt dominierte und von den Golden Globes bis hin zur Berlinale ein großes Thema bei den Schönen und Reichen der Promi-Welt war.
Auch im französischsprachigen Raum zog der Weinstein-Skandal große Kreise, woraufhin kurze Zeit danach die französische Journalistin Sandra Mueller via Twitter all jene, die schon einmal Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz wurden, dazu aufforderte, unter dem Hashtag „#BalanceTonPorc“ (Verpfeif‘ dein Schwein) gar Namen und Details der mutmaßlichen Peiniger preiszugeben – ohne etwa davor institutionelle Schritte einzuleiten. Dabei ist genau dieser Akt der Selbstjustiz rechtswidrig: Das Opfer beschuldigt den mutmaßlichen Täter ohne Beweise öffentlich – und wird somit selbst zum Täter. Diese Anschuldigungen kommen einer Vorverurteilung gleich, da sie existenzvernichtende Auswirkungen für den Beschuldigten haben können.
Ungeachtet dessen besteht die Gefahr, dass andere, schwerwiegende Strafdelikte, wie sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung, mit nicht strafbaren Handlungen in einen Topf geworfen und verharmlost werden.
Obgleich die mediale Bewegung die Sensibilisierung der Gesellschaft gegenüber sexueller Belästigung und Machtmissbrauch in der Medien- und Arbeitswelt anstrebt, stellt sich hierbei die Frage, ob sie nicht eher für das Gegenteil, nämlich eine Desensibilisierung gegenüber der Thematik sorgt. Denn durch den medialen Trend und seine Trendsetter, wie zum Beispiel die weltbekannte Sängerin Taylor Swift (die als „Silence Breaker“ [eine Person, die das „Schweigen gebrochen hat“] von der Times gemeinsam mit anderen, vorwiegend prominenten Mitstreiterinnen und Mitstreitern, als Person des Jahres 2017 gekürt wurde), werden der Opferrolle völlig neue Attribute zugeschrieben: Attraktivität, Stärke, Mut und Stolz. Opfer zu sein scheint erstrebenswert, und durch die sozialen Medien und die Denunzierungskampagnen ist es einfacher denn je, in diese Opferrolle zu schlüpfen.
Die Denunzierungskampagne „Balance Ton Porc“ läuft mittlerweile sogar unter ihrer eigenen Website und sorgt für heftige Kritik – und zwar zu Recht. Neben dem Brief von Schauspielerin Catherine Deneuve und hundert weiteren prominenten französischen Frauen, in welchem sie sich gegen die „#MeToo“-Kampagne und den damit einhergehenden Hass auf Männer und die Sexualität positionieren, nimmt die kanadische Autorin Claude Jacqueline Herdhuin eine ganz besondere Stellung ein. Selbst einst Opfer sexueller Gewalt, teilt sie mit uns ihre intimsten Erfahrungen, öffnet uns die Augen für einen menschlichen Ansatz beim Umgang mit der Opfer-Täter-Problematik und zeigt uns letztlich, warum Denunzierungskampagnen im Internet dem Opfer nicht weiterhelfen. Ein Artikel, der unter die Haut geht.
Sexuelle Gewalt: und jetzt?
Ein Aufruf zur Nächstenliebe.
Oder: Hass hält Opfer in der Opferrolle fest.
Ich möchte leben.
In der letzten Zeit läuft es mir angesichts der sozialen und klassischen Medien kalt den Rücken herunter. Genau genommen macht mir ihre Macht Angst, wenn sie ungenügend kontrolliert ist. Kontrollieren bedeutet nicht Zensieren. Redakteure, Moderatoren, Journalisten, Leser und Zuhörer – wir alle tragen eine Verantwortung, wenn die Medien über die Stränge schlagen. Die Kehrseite der sozialen Medien ist es, jedem und jeder zu ermöglichen, seinem/ihrem Zorn freien Lauf zu gewähren. Man wird mich hassen – und das nehme ich voll und ganz hin.
Mein Angreifer ist kein Schwein und ich leide auch nicht unter dem Stockholm-Syndrom.
Die Kampagne „Verpfeif‘ dein Schwein“ („Balance Ton Porc“) löste in mir schlagartig heftige Reaktionen aus. Ich mochte weder den Ausdruck, der ihm gegeben wurde, noch das Ziel, das dahintersteckte. Eine Hexenjagd, die es ermöglicht, jemanden zu beschuldigen und fertig zu machen; offene Rechnungen zu begleichen. Ich bestreite nicht das Leid der Opfer, aber ich denke, dass die Lösung nicht in der öffentlichen Hinrichtung der Peiniger liegt. Angreifen, Belästigen, Vergewaltigen – all dies sind verwerfliche Taten und die Opfer müssen unterstützt und ermutigt werden in ihrem Bemühen Gerechtigkeit zu erlangen. Das menschliche Wesen ist zu Schrecklichem und Wunderbarem fähig. Dabei bilden die Opfer keine Ausnahme.
Ihr Leben lang müssen sie mit der Tat leben, die sie über sich ergehen lassen mussten. Jahre können vergehen, doch die lebendige Erinnerung an den Tag, an dem ihr Leben aus den Fugen geriet, wird bleiben. Diese Tragödie wurde wunderbar in dem Film Festen von Thomas Vinterberg thematisiert. Ein Familientreffen zum 60. Geburtstag des Vaters nimmt eine unerwartete Wendung. Das schreckliche Familiengeheimnis wird von Christian aufgedeckt, der, ebenso wie seine Zwillingsschwester, von seinem Vater missbraucht wurde, als er noch ein Kind war. Letzte hatte sich umgebracht, es war für sie der einzige Ausweg.
Schreiben bedeutet, sich auszudrücken. Sowohl als Kind als auch als Jugendliche wurde ich selbst Opfer sexueller Gewalt. Eine dunkle Kindheit, erschreckende Erinnerungen, dieses Leben scheint kein Ende zu nehmen. Die Angst ist allgegenwärtig. Scham, Schweigen, dann die Flucht ans andere Ende der Welt. Doch die Welt wird niemals groß genug sein, um dieser Vergangenheit zu entkommen. Die Lösung liegt in uns; nur in uns selbst – missbrauchten Frauen und Männern.
Albträume, Wut, Zorn und Hilflosigkeit sind unsere Gefährten. Ein Trauma, das unsere Existenz unbarmherzig zerfrisst. Das Wichtigste ist, zunächst einmal, darüber sprechen zu können, denn das größte Hindernis der Heilung ist das Schweigen – und sein Durchbrechen ist der erste Schritt Richtung Freiheit. Dies entwickelt sich oft in einem Krisenzustand.
Ein Flashback, während man das Geschirr abwäscht. Die Erinnerung dieses Körpers, der schmerzt. Die Schwierigkeit, gar Unmöglichkeit, seine Träume zu erfüllen, zu lieben und sich lieben zu lassen.
Reden ist ein Akt der Tapferkeit. Leider und viel zu oft ziehen es die Menschen aus dem Umfeld und der Familie vor zu leugnen. Als ich anfing, darüber zu sprechen, nach 30 Jahren, sagte man mir: „Wir haben die Wahl dir zu glauben oder nicht". Man hat sich dazu entschieden, mir nicht zu glauben. Therapiesitzungen folgten, über Jahre hinweg. Meine Leser und die Selbsthilfegruppen haben mir die Augen geöffnet: Nicht durch den Hass auf den Täter würde es mir besser gehen. Ganz im Gegenteil, genau das trug dazu bei, eine bereits eitrige Wunde weiter zu infizieren. Die Heilung lag im Reden, darin, meine Erfahrung mit anderen zu teilen.
Sprechen ist unerlässlich, doch das sollte man nicht einfach irgendwie tun. Und schon gar nicht im Rahmen einer Denunzierungskampagne auf Websites, die zur Lynchjustiz wird.
Bevor man öffentlich darüber spricht, muss man im Privaten darüber sprechen. Es fängt bei einem selbst an, da man sich erst des Ausmaßes dessen, was geschehen ist, bewusst werden muss. Dieser Prozess vollzieht sich einzig im privaten Raum. Ein Kind vertraut sich vielleicht seinem Hund an, ein Erwachsener spricht zuerst mit sich selbst, bevor er sich damit überhaupt an jemand anderen wenden kann. Erst nachdem ein Opfer das Wort ergriffen hat, kann es zur Tat übergehen. Den Täter anprangern, Hilfe suchen, ihn vielleicht sogar damit konfrontieren. Akzeptieren, was passiert ist, die gesamte Energie auf sich selbst richten und auf sich achten, um sich selbst wieder aufzubauen und zu einem glücklichen Leben zu finden. Jede Geschichte sexueller Gewalt ist einzigartig, jedes Opfer ein kostbares Wesen. Ein Schatz, der einfach leben will.
Jahrzehnte nach dem Unwiderruflichen habe ich den Täter damit konfrontiert – ich bot ihm an, ihm zu verzeihen. Er wusste nicht, wie er es akzeptieren konnte. Sei's drum – ich habe mich davon befreit, und das ist die Hauptsache. Er ist kein Schwein, er ist ein Mann, ein menschliches Wesen.
Während dieses Prozesses, der einem Hindernislauf glich, habe ich getobt vor Wut, gebrüllt, „ihm“ die Pest an den Hals gewünscht. Glücklicherweise habe ich Männer und Frauen getroffen, die mir zugehört, mich getröstet und mir den Weg gezeigt haben. Eines Tages habe ich an einem ganz besonderen Konfliktlösungstraining teilgenommen. Statt den Angreifer zu isolieren und auszugrenzen, lernten wir ihn zu integrieren und ihn einzuladen, Teil der Lösung zu werden. Ein menschlicher Ansatz – sowohl für das Opfer, als auch den Täter. Ich gebe zu, anfangs meine Zweifel gehabt zu haben. Dieser Ansatz erfordert es, gegen sich selbst zu gehen, um mit dem anderen, dem Vergewaltiger, zu kommunizieren. Es ist jedoch eine befreiende Geste, selbst wenn dieser die ausgestreckte Hand ablehnt. Wenn man den anderen als menschliches Wesen sieht, wird man auch selbst als Opfer wieder humaner. Man überträgt die Last dem anderen; so kann das Opfer seine Energie wieder finden, um sich selbst und das Leben zu lieben.
Man wird mich hassen – doch es waren weder feministische Gruppen, noch Denunzierungskampagnen, die mir geholfen haben. Es waren Selbsthilfegruppen, betreut durch Menschen wie mich. Aufgrund der geteilten Erfahrungen gelingt es, über einen Ansatz einfacher Glaubenssätze hinauszugehen.
Gleich wie gut die Absicht, es ist gefährlich in diesem Bereich intellektuell oder durch politischen Aktivismus motiviert Position zu beziehen. Die Sichtweise ist zwangsläufig beschränkt, ja voreingenommen. Es fehlt an Nächstenliebe. An Offenheit angesichts eines Themas, das über das „Schwein und das Opfer“ hinausgeht. Um helfen zu können, muss man lieben. Ich glaube nicht, dass dies bei den Denunzierungskampagnen der Fall ist, deren Ziel es lediglich ist, die mutmaßlichen Angreifer zur Schlachtbank zu führen. Der Hass hat niemals irgendetwas geheilt. Er hält das Opfer nur in seiner Opferrolle fest und verweigert ihm jegliches Recht auf Heilung. Es ist, als ob jeden Tag jemand kommt und die heilende Wunde wieder aufreißt. Es ist nie einfach: Ich kannte eine Frau, die als kleines Kind sowohl von ihrem Vater als auch ihrer Mutter missbraucht wurde.
Ich liebe die Menschen.
Ich hasse die Menschen, die mir das angetan haben, aber ich liebe die Menschen.
Claude Jacqueline Herdhuin lebt in Kanada und hat eine Vorliebe für Worte, weshalb sie bereits in vielen verschiedenen literarischen Bereichen tätig war. Sie ist Übersetzerin und Romanautorin sowie freie Drehbuchautorin und Regisseurin für Spielfilme und Dokumentationen, schreibt Gedichte und kritische Artikel, letztere für Publikationsorgane wie Mondialisation. Darüber hinaus arbeitete sie obendrein für das staatliche-kanadische Radio CIBL. Heute widmet sie sich vorwiegend der Lehre und unterrichtet Französisch als Zweitsprache für Immigranten, internationale Studenten und englischsprachige Kanadier.