Zum Inhalt:
Was gibt es da zu feiern?

Was gibt es da zu feiern?

Die Republik feierte sich am „Tag der Einheit“ selbst.

von Hans-Gerd Öfinger

Dass die Bundesratspräsidentschaft von Rheinland-Pfalz der Domstadt in diesem Jahr die Ehre verschaffte, Austragungsort der Feierlichkeiten zum „Tag der Deutschen Einheit“ zu sein, hat nicht alle Mainzerinnen und Mainzer erfreut. Denn die Vorbereitung der Festlichkeiten bescherte der Einwohnerschaft speziell in der Innenstadt einen tagelangen Ausnahmezustand, der das Alltagsleben massiv beeinträchtigte. Tupac Orellana von der Mainzer LINKEN spricht etwa von „massiven Schikanen und Einschränkungen“ in den Tagen vor der Großveranstaltung. Die Polizei habe etwa Bürger aufgefordert, nicht an die Fenster zu gehen. Der Betrieb von Straßenbahnen sei eingeschränkt worden.

So begleitete denn auch eine massive Polizeipräsenz mit 4000 Beamten und Polizeischülern aus mehreren Bundesländern die staatlich angeordneten Festlichkeiten. Eine für Dienstagmittag angemeldete Demonstration durch die Innenstadt, die dem Jubelfest die kritische Parole „Diesem Deutschland keine Feier“ entgegensetzen wollte, bekam für die geplante Demonstrationsroute keine behördliche Genehmigung. Weil die amtlich vorgeschlagene Strecke durch fast menschenleere Nebenstraßen verlaufen wäre, verzichteten die Veranstalter auf den Umzug und beließen es bei einer stationären Kundgebung vor dem Hauptbahnhof, die von starken Polizeikräften flankiert war. Die Beamten protokollierten die Kundgebung nicht nur mit moderner Elektronik, sondern achteten hinterher anscheinend penibel darauf, dass kein kritisches Spruchband in die Menschenmenge beim Bürgerfest „eingeschmuggelt“ wurde oder gar die aufgesetzte Feststimmung trüben könnte.

Noch stärker war wenige Stunden zuvor die Polizeipräsenz zwischen Rheingoldhalle, Rathaus und Dom, wo Politprominenz und geladene Gäste zum Festgottesdienst und Festakt im Beisein hoher staatlicher Repräsentanten eingeflogen wurden. Statt eines Bades in der Menge und direkter Tuchfühlung mit „Normalos“ wie in früheren Jahrzehnten war hermetische Abriegelung angesagt. Offenbar trauten die Eventregisseure dem Volk nicht oder hatten vielleicht Angst vor Unmutsbekundungen und wütenden Protesten wie vor Jahresfrist bei der staatlichen „Einheitsfeier“ in Dresden. Statt eines kurzen Fußwegs wurden die Ehrengäste mit eigens gecharterten Shuttlebussen in die Rheingoldhalle gefahren. Die jubelnde Menge mit Deutschlandfahnen, die die Kulisse für das Händeschütteln des Oberbürgermeisters mit dem Bundespräsidenten am Gutenbergmuseum bildete, war allem Anschein nach handverlesen. So kamen bei vielen Mainzerinnen und Mainzern Erinnerungen an den Besuch von US-Präsident George W. Bush im Jahre 2005 auf. Damals glich die hermetisch abgesperrte City einer Geisterstadt und mussten viele Berufstätige einen Tag Urlaub nehmen, weil sie aufgrund der Absperrungen und Sicherungen nicht an ihren Arbeitsplatz gekommen wären.

„Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen“, gab sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Festakt demonstrativ nachdenklich. Was könnte er damit gemeint haben? Doch nicht etwa die von ihm als rechte Hand des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder mit konzipierte „Agenda 2010“ oder die Riestersche Rentenreform, die Millionen Menschen für den Rest ihres Lebens zu Armut per Gesetz verdammen? Prekäre Jobs, mit denen sich weit über zehn Millionen Menschen über Wasser halten müssen? Die weiter zunehmende Kluft zwischen den Klassen, zwischen Stadt und Land, zwischen armen und reichen Stadtteilen und Regionen? Die Tatsache, dass heute 40 Prozent aller bundesdeutschen Haushalte real weniger Kaufkraft zur Verfügung haben als vor 20 Jahren? Sicher nicht. 27 Jahre nach der Angliederung der ehemaligen DDR an die Bundesrepublik kann von einer Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West keine Rede sein.

Solche Realitäten und Hinweise auf die enorme soziale Spaltung, die auch längst in Mainz Alltag ist, waren beim Fest nicht erwünscht. Stattdessen hatte sich die Mainzer Stadtverwaltung wochenlang ins Zeug gelegt, um mit hektischen Sanierungsmaßnahmen den Besuchern eine „Disneylandversion von Mainz“ zu präsentieren und die durch strikte Auflagen des kommunalen Entschuldungsfonds in Mitleidenschaft gezogene Infrastruktur etwas aufzuhübschen. Für die Opfer der Sparpolitik, Wohnungslose, Armen, Flaschen sammelnde Senioren und Verwahrlosung, die auch zum ehrlichen Bild der Stadt gehören, war beim Jubelfest kein Platz.

Mit den „anderen Mauern“, die der Bundespräsident in der Rheingoldhalle anprangerte, dürfte er wohl auch nicht neue Grenzzäune auf dem Balkan gemeint haben. Oder das Mittelmeer, das längst zu einem nassen Todesstreifen geworden ist, in dem unzählige verzweifelte Menschen aus Afrika oder Asien Monat für Monat auf der Suche nach etwas Menschenwürde ertrinken. Oder wollte Steinmeier etwa doch an jenen denkwürdigen 3. Oktober das Jahres 2013 erinnern, als vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ein mit über 500 Geflüchteten aus Somalia und Eritrea beladener hochseeuntüchtiger Kutter sank und 390 Menschen in den nassen Tod riss? Wohl kaum. „Wir sichern die Seewege und gehen gegen Schleuser vor“, verspricht ein Faltblatt der Bundesregierung, das in der Kaiserstraße in hoher Auflage an das Volk verteilt wurde. Und: „Europa hilft, damit Menschen nicht flüchten und ihr Leben riskieren müssen.“ Eine wahrlich elegante Umschreibung der Tatsachen. Massen von Geflüchteten in Todesängsten werden mit Gewalt und Schikanen von Europa ferngehalten und viele von ihnen unter erbärmlichen Bedingungen in libyschen Internierungslagern festgehalten. Zu den gepriesenen EU-„Entwicklungshilfeprojekten“ gehört jetzt auch eine Mauer quer durch Nordafrika, mit der verzweifelte Migranten davon abgehalten werden sollen, überhaupt an die südliche Mittelmeerküste zu gelangen. Für die Erkenntnis, dass die neokoloniale Ausbeutung afrikanischer und asiatischer Länder, Rüstungsexporte, Kriege und vom Westen inszenierte Stellvertreterkriege und „Regimewechsel“ die wesentliche Fluchtursache darstellen, war beim beschaulichen Mainzer Bürgerfest allerdings kein Platz vorgesehen.

Apropos Kaiserstraße: Diese Allee mit ihrem Grünstreifen hatte die Festregie für Verfassungsorgane reserviert. Und so stießen aufmerksame Besucher hier auf Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und …. das dm-Kinderland. Dass Europas größte Drogeriekette, die nicht einmal in der amtlichen Sponsorenliste auf den Programmblättern für die Besucher auftaucht, diese Nobeladresse zugewiesen bekam, spricht vielleicht unfreiwillig Bände über das Verhältnis von wirtschaftlicher und politischer Macht in diesem Lande. dm-Gründer Götz Werner rangiert nach Schätzungen des manager Magazins mit einem Gesamtvermögen von rund 1,1 Milliarden Euro auf Platz 109 der Liste der 500 reichsten Deutschen.

Götz Werner hat am 3. Oktober getrost Grund zu feiern. Wie andere Repräsentanten und Eigentümer von Konzernen und Banken gehört er zu den Gewinnern der „Rückeroberung“ alter Märkte in Ostdeutschland, Ost- und Südosteuropa nach dem Mauerfall 1989 und der Wiedereinführung kapitalistischer Zustände in diesen Ländern seit 1990. Westliche Handelsketten wie dm überzogen ab 1990 den neuen Absatzmarkt in der Ex-DDR, während alte Industriestandorte von der Treuhandgesellschaft zerschlagen wurden.

Das deutsche Kapital hatte zweimal mit Weltkriegen die Vorherrschaft in Europa angestrebt und verloren. Nun bot sich 1990 die Chance, die alten Kriegsziele mit „friedlichen“ Mitteln zu erreichen. In einer „demokratischen Konterrevolution“, die sich auf Illusionen der Mehrheit der Bevölkerung stützten, schlachteten Westkonzerne und Kapitalgruppen über die Treuhandgesellschaft die Wirtschaft der DDR aus und trieben eine nahezu beispiellose Deindustrialisierung voran.

Dabei kamen ihnen Illusionen vieler Arbeiter in der DDR zugute, die sich von der D-Mark und dem Anschluss an die Bundesrepublik eine rasche Verbesserung und Modernisierung erhofften. Sie wurden ungewollt zu Versuchskaninchen in Sachen Deindustrialisierung, Privatisierung, Lohndumping und Prekarisierung. Ansätze zur Selbstverwaltung in Betrieben und zum Aufbau einer neuen sozialistischen Demokratie von unten wurden ebenso rasch ausgetrocknet und abgewürgt wie Hoffnungen auf eine neue, dem Volk zur Abstimmung vorgelegte Verfassung. Millionen Menschen blieb auf der Suche nach Arbeit schließlich nichts anderes übrig als der Umzug in den Westen oder ein aufreibender Alltag als Tages- oder Wochenendpendler.

Auf die Euphorie über den als „Kanzler der Einheit“ gefeierten Helmut Kohl und die Angliederung der neuen Bundesländer an die Bundesrepublik folgten übrigens schon im Frühjahr 1991 erste Massenproteste gegen Massenentlassungen, Privatisierungen und die Zerschlagung kompletter Industriestandorte – bis hin zum legendär gewordenen Belegschaftskampf 1993 im Thüringer Kalibergwerk Bischofferode (Eichsfeld). In Halle (Saale) bewarfen 1991 aufgebrachte Demonstranten Kohl mit Eiern. Doch da war der Zug längst abgefahren.

Während 1990 vollmundig versprochen wurde, dass beide Staaten „ihre Errungenschaften in die Einheit einbringen könnten“, war es in Wirklichkeit eine komplette Übernahme der DDR durch die BRD. Kader aus dem Staatsapparat in den westlichen Ländern zogen im Osten neue Verwaltungsstrukturen hoch – darunter auch jene Verfassungsschutzorgane, die später die Neonazi-Terrorbanden wie den NSU nährten. Führungskräfte übernahmen in Wirtschaft und Medien das Regiment. Nichts mehr sollte daran erinnern, dass es hier trotz aller notwendigen Kritik bis 1990 eine andere, nicht-kapitalistische Gesellschaftsordnung mit einem hohen Maß an kollektiver Absicherung gegeben hatte. DDR-Identität wurde und wird vom Mainstream als „Ostalgie“ verhöhnt.

Einem kritischen Besucher des Bürgerfestes kommt am Stand der Deutschen Post mit Sonderstempel unweigerlich die Tatsache in den Sinn, dass in den 1990er Jahren alles Staatliche verpönt war und Deutschland zum Weltmeister bei Privatisierungen wurde. Speziell die Privatisierung der Post hat seither in Ost und West eine beispiellos Servicewüste hinterlassen. Die Angliederung der DDR an die BRD hatte weitreichende internationale Folgen. Sie stärkte die Ambitionen der herrschende Klasse, über den europäischen Einigungsprozess, Osterweiterung, Binnenmarkt und Währungsunion die Vorherrschaft auf dem Kontinent zu festigen. Die europäische und EU-Offensive seit den 1990er Jahren war kein Ausdruck von Internationalismus oder Friedenssehnsucht, sondern vor allem wirtschaftlichen Interessen geschuldet.

Dass beim Mainzer Bürgerfest auch die Bundeswehr nicht fehlen durfte, erinnert den kritischen Beobachter daran, dass seit 1990 die Bundeswehr vom Anspruch einer reinen Verteidigungsarmee Schritt für Schritt wieder zu einer Interventionsarmee umgerüstet wurde. Zu deren internationalen Aufgaben gehört nach eigenen Angaben der Einsatz für „freie Handelswege und eine gesicherte Rohstoffversorgung“.

Neben zahlreichen Behörden, Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft, die sich wie zu vielen anderen Pflichtterminen und Großveranstaltungen auch mit ihren Giveaways, interaktiven Spielen und Infos präsentierten, stießen aufmerksame Besucher in der Flachmarktstraße auf ein Kuriosum, das dem wohl berühmtesten Rheinland-Pfälzer aller Zeiten gewidmet war: Karl Marx. Am 5. Mai 2018 wird der 200. Geburtstag des gebürtigen Trierers gefeiert. Stadt und Land planen ihm zu Ehren eine große Landesausstellung, die sicher in erster Linie als Tourismusförderung gedacht ist. Denn Karl Marx lockt Jahr für Schar Menschen aus aller Welt in die Stadt an der Mosel.

Zur Einstimmung konnten sich die Besucher der Mainzer Einheitsfeier am Stand der Karl-Marx-Ausstellung mit einer lebensgroßen Wachsfigur von Karl Marx ablichten lassen und die ausgedruckten Passfotos gleich mitnehmen. Der Andrang war groß. Solche Eindrücke lassen hoffen, dass trotz steriler stilisierter staatlicher Einheitsfeiern und trotz alledem der kritische Geist und die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft nicht totzukriegen sind.

Wohl auch in diesem Sinne hat der Historiker Peter Scherer schon vor Jahren einen unkonventionellen Vorschlag gemacht: „Auf der Suche nach einem Nationalfeiertag an Stelle des 17. Juni wich man auf den 3. Oktober aus, ein formaljuristisches Datum aus dem Jahr 1990“, kritisiert der ehemalige Leiter des IG Metall-Zentralarchivs: „Nationalfeiertag müsste der 9. November sein.“

Damit bringt Scherer den 9. November 1918 ins Gespräch, der für eine spontane Erhebung der Arbeiter und Soldaten, für die Bildung von Räten als potenzielle Organe der Massendemokratie und letztlich auch für eine unvollendete Revolution steht:

„Es war der Tag, an dem 1918 der Kaiser in das Exil abreist und mit ihm die ganze Fürstenkaste aus der Geschichte verschwindet. Der Tag, an dem Massenbewegungen das preußische Dreiklassenwahlrecht zerbrachen. Sie gaben den Frauen das Stimmrecht. Sie befreiten die Dienstboten und Landarbeiter von der Tyrannei der Gesindeordnungen und Ausnahmegesetze. Die Gewerkschaften werden im Feuer der Revolution geradezu neu geboren. Die Mitgliedschaft der sozialistisch orientierten Freien Gewerkschaften vervielfacht sich von einer Million auf fast acht Millionen. Die fünf Jahre nach der Revolution sind Jahre einer nie da gewesenen Machtfülle der Gewerkschaften. Nie zuvor und nie mehr danach hatte das Wort der Lohnabhängigen im Betrieb solches Gewicht“, so Scherer.


Hans-Gerd Öfinger ist Diplom-Dolmetscher, Übersetzer und Journalist. Er wohnt in Wiesbaden. Schwerpunkte seiner journalistischen Tätigkeit sind Innenpolitik, Betrieb und Gewerkschaft, Soziales und Verkehr. In seiner Bildungsarbeit und seinen Vorträgen legt er die Schwerpunkte auf die Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert und auf den Marxismus. Er engagiert sich ehrenamtlich gewerkschaftlich und politisch.


Bild

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.