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Wahrnehmungsstörungen

Wahrnehmungsstörungen

Mit Annalena Baerbock als Leiterin könnte sich Deutschland in eine geschlossene Anstalt verwandeln, in der allerlei Wahnvorstellungen kursieren.

Mit etwa Mitte zwanzig stand für mich, angesichts des politischen Stumpfsinns und aller staatlichen Abirrungen in der Deutschen Demokratischen Republik, unumstößlich fest: Wir brauchen viel mehr Anstalten, vor allem geschlossene! Denn auch für viele Mitglieder der damaligen Partei- und Staatsführung schien der Satz zu gelten, der dieser Tage der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock entkam: „Ich nehme die Realität komplett anders wahr“ (1).

Damals hatte die Wahrnehmungsstörung jedoch mit einem Mangel an Vorstellungskraft zu tun, heute mit ihrem Überborden.

Nichts gegen Fantasie, auch nicht in der Politik, aber Träume sind mit der Realität kaum in Übereinstimmung zu bringen. Noch Helmut Schmidt hatte mit Visionen ein Problem und empfahl den Arzt. Leichthin formulierte ich den Anstalts-Satz ob des anhaltenden Realitätsverlustes noch häufiger.

Eine Frage blieb jedoch als Unsicherheit, denn: Woher sollte das benötigte pflegende Personal kommen? Fehlende Fachkräfte waren immer auch ein Problem der ehemals sozialistischen Republik. Der Blick Richtung Westen machte seinerzeit noch recht neidisch und glich paradiesischer Verheißung. Westliche Politik schien einigermaßen pragmatisch und plausibel. Die Begriffe Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hatten Strahlkraft — damals.

Nun, etliche Jahre später, verlor meine Forderung das Visionäre, nahm vielmehr vollziehende Gestalt an. Deutschland, wie beinahe die ganze Welt, wurden zu einer einzigen Anstalt, tatsächlich sogar zu einer geschlossenen, angesichts einer unsichtbaren, dafür umso mächtigeren viralen Bedrohtheit. Die alten ehernen Begriffe verkamen zu Worthülsen, das Grundgesetz wurde vom Infektionsschutzgesetz steril verpackt und ist es seither geblieben. Dabei hieß es doch einmal, als über das Grundgesetz als Grund aller weiteren Gesetzlichkeit nachzudenken war: Der Staat soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist.

Der SPD-Politiker Carlo Schmid untermauerte als Mitglied im Grundsatzausschuss (2): „Der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht soll verfügen können. Die Grundrechte müssten das Grundgesetz regieren.“ Meine alte Nachdenklichkeit erhielt damit neue Nahrung: Wer übernimmt die Pflege? Zumal der sehnsüchtige Blick Richtung West nun entfällt. Das Einsperren indes bedurfte keiner großen Anstrengung. Physiker und Banker wurden über Nacht zu Ärzten, Ärzte vergaßen darüber jedoch, welche zu sein. Deutschland hatte zudem sein rituelles Zeichen: die Raute (3). Das Land war dicht. Ein Ding der Unmöglichkeit eigentlich, denn spätestens seit 2015 wurde durch die Politik betont, „dicht“ geht nicht mehr.

Kopflose Verkopftheit

„Ich nehme die Realität komplett anders wahr“, ist ein gefährlicher Satz. Spricht ihn ein sogenannter Volksvertreter aus, ist er sogar brandgefährlich. „Ihr seid viele, unbestritten, und ich bin ganz allein. Doch kann das auch ein Vorteil sein …“, so könnte nach Bernd Wagner manch ein Politiker und manche Politikerin spintisieren. Ist eine Vision dann geschickt durch die Medien unter die Masse lanciert, bleibt noch freudiges Räsonieren: „Mach ich mich unsichtbar in eurer Mitte, schlagt ihr euch selbst die Schädel ein“ (4).

Längst ist er ja in die Gesellschaft geschlagen — der Spaltpilz. Beinahe scheint es, als hätte sich der alte Gott im Himmel selbst zur Umkehr gerufen und die Erlösung des Menschen nochmals auf unbestimmte Zeit verschoben. Das politische und soziale Experiment der 68er und deren Kinder scheint ihm zu verheißungsvoll, ein höllisch-himmlisches Spektakel und Vergnügen, und so erinnerte er sich seiner alttestamentarischen Qualitäten und schickte Zorn und Rache und Eifer und Pest und eben die Grünen.

Verquaste Ideen sind schließlich zuhauf vorhanden, bunt ist der Stoff, aus dem linkes und grünes Träumen sich quirlt: Marxismus, Maoismus, Kommunismus, Sozialismus und Trotzkismus. Was lässt sich daraus nicht alles backen? Wie wäre es also mit Egalitarismus, Hedonismus, Internationalismus, Humanitarismus? Das klingt doch nach starken Visionen und nach attraktiven Ideen und Heilsbotschaften — grenzenlose Universalität, grüner Einklang mit Natur und Umwelt, weltumspannender Frieden.

Mit Genderismus und Kulturrelativismus gelingt bald auch die Zerstörung von Sprache und lästiger Tradition. Zu streuen wären noch Prisen vom Salz der Anti-Ideologien: Antikapitalismus, Antiamerikanismus, Antiklerikalismus etwa. Zunehmend beliebter wird mit Antirassismus, Antikolonialismus, auch einem Antisemitismus und dem inzwischen gänzlich unvermeidlichen Antifaschismus gewürzt.

Auffällig ist bei Linken und Grünen allerdings das sparsame Reden vom Nationalsozialismus, trotz landläufiger Verwendung des Schimpfwortes Nazi. Ist die Schnittmenge von Marxismus und Kommunismus und Sozialismus und eben dem Nationalsozialismus zu groß? Wird die jeweilige Übereinstimmung — totalitär, antiklerikal, kollektivistisch — zu offensichtlich?

Grüne Vitaminspritzen

„Ich nehme die Realität komplett anders wahr“, ist ein gefährlicher Satz. Gefährlich ist er allein schon deshalb, drückt sich in ihm eine schier unfassbare mentale und emphatische Distanz zum Wähler, zum Bürger aus.

Was bedeutet er letztlich anderes als: Es gibt nichts Selbstverständliches mehr!

Vielleicht hätte sogar ein Rudi Dutschke noch den Kopf über x Geschlechter und Transgender geschüttelt — doch nach dem 50-jährigen gefeierten Dienstjubiläum der 68er sind sie zu hochoffiziellen Grundbegriffen in Regierungskreisen geworden. Die ultimative Theorie der Weltbeglückung scheint gefunden, nur die Welt sperrt sich noch in Teilen gegen das links-grüne Heil. Zwar versagte vor ein paar Jahren die reale Diktatur des Proletariats, an derer statt, so sind die Lordsiegelbewahrer des 68er Geistes sicher, wird die zu errichtende Diktatur der Ökologie eine erfolgreiche sein.

Der gesunde Menschenverstand jedenfalls wurde und wird in die Dauerferien verabschiedet und auch der österreichische Hausverstand hat bestenfalls im eigenen Haus zu verbleiben. Überhaupt wird es zu seinem Verlust kommen, denn die Verbannung und Verunmöglichung jeder sinnlichen Erfahrung aus dem Leben der Menschen und die Verhinderung lebendigen Blickes torpedieren die Ausbildung eben eines gesunden Verstandes. Seltsam also, findet es Botho Strauß,

„[s]eltsam, wie man sich ‚links‘ nennen kann, da links von alters her als das Synonym für das Fehlgehende gilt. Man heftet sich also ein Zeichen des Verhexten und Verkehrten an, weil man, voller Aufklärungshochmut, seine Politik auf den Beweis der Machtlosigkeit von magischen Ordnungsvorstellungen begründet“ (5). Die Welt konstatiert dieser Tage: „Nur rund jeder fünfte Deutsche fühlt sich in der Öffentlichkeit frei, seine Meinung zu äußern.“

Und weiter liest man: „59 Prozent der 1283 Befragten ab 16 Jahren gaben an, sie könnten sich unter Freunden frei äußern, nur 18 Prozent sehen aber im öffentlichen Raum eine vergleichbare Freiheit“ (6). Das also ist die Auswirkung der „Vitaminspritze für dieses Land“, die Robert Habeck (7) den Deutschen versucht, vor der Bundestagswahl 2021 schmackhaft zu machen, und der Ausblick auf die neue freie Gesellschaft. Wird die Furcht vor Repressalien erneut übermächtig? Wollte man indessen nicht lernen aus den Diktaturerfahrungen aus Drittem Reich und DDR? Eine Vorgeblichkeit und natürlich konstituierendes Element der Sonntags- und Wahlkampfreden.

Als rechts wird verortet, der es wagt, sich nochmals umzudrehen oder einen Gedanken kreisen zu lassen. In diesem Kreisen besteht das Problem, der Gedanke kommt nicht mehr voran, kann somit nicht zum Fortschritt werden. Hässlich solch rotierendes Denken.

Fürchtet euch!

„Ich nehme die Realität komplett anders wahr“, ist ein gefährlicher Satz, vor allem seit die Sprecherin Annalena Baerbock sich anschickt, Bundeskanzlerin dieser Republik werden zu wollen. Nicht besser wird er, wenn er sich paart mit der gedanklichen Posse: „Nur Veränderung schafft Halt“ (8).

Doch vielleicht entspringt diese Aussage eben gänzlich anderer Wahrnehmung und besitzt insofern eine innere Logik. Die grüne Logik, der Mensch sei als Vollstrecker des Wollens der Natur unterwegs, ist letztlich ein Ausfluss mythischen Denkens. Mythisches Denken aber speist sich aus Angst und weiß: Alles, was undurchschaubar ist und undurchschaubar gemacht wird, führt zu Verunsicherung. Die sogenannte Pandemie bietet dazu Anschauungsunterricht par excellence. Propagandisten und Ideologen des Vorsorgeprinzips — precautionary principle — stoßen auf offene Ohren und geschwächte Sinne und tönen unablässig:

„Gegenwärtig unternimmt die Menschheit viel, um im Flaschenhals stecken zu bleiben: Sie pumpt jedes Jahr Gigatonnen von Treibhausgasen in die Atmosphäre, verbrennt ihre Wälder, dezimiert die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten an Land wie in den Ozeanen und vermüllt die Umwelt mit Kunststoffen. All dies tut sie obendrein mit atemberaubender Geschwindigkeit“ (9).

Muss man sich also noch darüber wundern, dass die ökologischen Folgen der Technik in der öffentlichen Wahrnehmung ihre zweckrationalen Perspektiven eintrüben? Hinzu tritt die durch die Medien besorgte Faszination an Katastrophen, sie verstellt freilich den Blick auf die Technikabhängigkeit der Gesellschaften. Die Katastrophenangst negiert jegliches Risikokalkül. Du bist mein Schirm, du wirst mich vor Angst behüten (Ps 32,7), so rief der Beter früherer Tage vertrauensvoll zu seinem Gott. Heute ruft das niemand mehr.

Versuchten sich die europäischen Linken in den 1960er- bis 70er-Jahren an der Produktion eines revolutionären Klassenbewusstseins, so wird fortan an der Herausbildung eines transformatorischen Umweltbewusstseins gearbeitet. Die Arbeiterklasse — einst zum revolutionären Subjekt auserkoren — erwies sich als Totalausfall jeglicher revolutionärer Attitüde. Wohlstand korrumpiert.

Die ideologische Ampel schaltete von Rot auf Grün.

Bürger, die sich einmal als frei definierten, unterwarfen sich den Marken und Losungsworten Öko, Grün und Bio. Theologisches Reden über die letzten Dinge ist durch ökologische Eschatologie ersetzt worden. Fragte man einst: Was darf ich hoffen? So fragt man heute: Was darf ich fürchten?

Doch die Inflation der Katastrophenrhetorik, die zugleich eine Ökumene und Verschwisterung der Ängstlichen erzeugte, bekommt Unterstützung durch eine engagierte Wissenschaft: Eiszeit, Wärmetod, Waldsterben, Klimakatastrophe, Covid-19. Mit dem Verdampfen des linken Heilsversprechens bricht sich Enttäuschung Bahn und evoziert eine apokalyptische Vision: die Zerstörung der Natur.

Statt der Arbeiterschaft ist nun die Natur unterdrückt, ausgebeutet und beleidigt.

Zum Bewusstsein ist deshalb zu bringen, wer schuldig ist an der ökologischen Misere, und einer der nachhaltigen Professoren und globalen Transformationsforscher, mit öffentlichen Geldern alimentiert, unternimmt es als wackerer Glaubenskrieger:

„Momentan regiert auf der Erde der Nationalismus, Nationalisten möchten nicht Menschheit werden, sondern Deutsche, Katalanen, Wallonen oder Osttimorer bleiben. Sie sehen nicht die vielen und größer werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Völkern, sondern achten primär auf deren Unterschiede und speisen aus ihnen ihre Identität.“

Unabdingbar ist diesem Zeitgeistler ferner: „Es steht jedoch eine Zeit bevor, in der eine nationale Identität vollends ein Zeichen für mentale Rückständigkeit sein wird“ (10).

In einer anderen Zeit, so will es scheinen, formulierte der Philosoph William Warren Bartley:

„Ich glaube keinen Augenblick lang, daß der Mensch ein rationales Lebewesen ist und schon gar nicht, daß Menschen mit einer ‚Fähigkeit‘ der Vernunft geboren werden. Rationalität ist vielmehr wie auch Bewußtsein eine vergleichsweise späte und immer noch eher seltene, und dort, wo es sie gibt, zerbrechliche Entwicklung. Die meisten Individuen leben in einer beunruhigenden, schlummernden Phantasiewelt, und die meisten sind, wenn sie erwachen, von starren Gewohnheiten und unbewußten Verhaltensmustern gefesselt“ (11).

Grünes Wünschen kontert:

„Der Menschheit steht ein kollektiver Bewusstseinssprung bevor, wenn Ausflüge in den Orbit vielen möglich werden. Dieser Bewusstseinssprung wird auch das kollektive Umweltbewusstsein betreffen“ (12).

Freilich ließe sich eben auch feststellen, wenn wir schon nicht mit der Fähigkeit der Vernunft geboren werden,

„werden wir wie die Affen mit einer guten Fähigkeit zu imitieren geboren. Diese Fähigkeit zur Imitation ist sehr anpassungsfähig; sie kommt uns zupaß, wenn wir so erfolgreich wie andere sein wollen und deren Strategien erfolgreich nachahmen. In einer autoritären Zeit oder Umgebung kann Unterwürfigkeit, Ehrerbietung, Schmeichelei und Verhalten, das das der Mächtigen nachahmt, dem Vorwärtskommen dienlich sein.

Es mag das Überleben fördern, anderen zu ‚gleichen‘ und nicht ‚mutig‘, prüfend und kritisch zu sein. Derartiges Verhalten ist oft natürlich auch komisch oder pathetisch, denn die Menschen äffen nach entsprechend ihren geistigen Fähigkeiten und können sehr wohl grobe nachahmende Wiedergaben des Verhaltens derjenigen an den Tag legen, denen zu schmeicheln sie sich bemühen, deren Verhalten sie aber überhaupt nicht verstehen“ (13).

„Ich nehme die Realität komplett anders wahr“ … Denn (14):

„Wo die Windradwälder winken / und die Kollektorenfelder Sonne trinken, / haben wir gewonnen den Krieg. Im Namen der Natur / hat der Mensch die Natur besiegt.“


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/herles-faellt-auf/wenn-der-baerbock-ruft
(2) https://www.spiegel.de/geschichte/geschichte-des-grundgesetzes-der-staat-soll-nicht-alles-tun-koennen-a-2b4c454a-82f6-496d-b52b-864c6e8b1cf7
(3) https://www.rubikon.news/artikel/merkels-raute
(4) Bernd Wagner, Letzte Konsequenz, in: Tumult, Nr. 2, Dresden, 2021, S. 99
(5) https://www.spiegel.de/kultur/anschwellender-bocksgesang-a-00c4ba54-0002-0001-0000-000013681004?context=issue
(6) https://www.welt.de/politik/article193977845/Deutsche-sehen-Meinungsfreiheit-in-der-Oeffentlichkeit-eingeschraenkt.html
(7) https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021
(8) https://youtu.be/DUnNjMlG-Fo
(9) Oliver Stengel, Vom Ende der Landwirtschaft, München, 2021, S. 218
(10) Ebd., S. 222
(11) W. W. Bartley III., Flucht ins Engagement, Tübingen, 1987, S. XX
(12) Oliver Stengel, a.a.O., S. 222f.
(13) William W. Bartley, a.a.O., S. XXf.
(14) Bernd Wagner, a.a.O., S.101

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