Frau Wagenknecht ist der unangefochtene Top-Act beim politischen Jahresauftakt der Linkspartei im Berliner Kino Kosmos am 14. Januar 2018. Die Massen füllen den Saal, und vor dem Saal sind auch noch Massen. Das ist ein Pfund, mit dem die Linkspartei gegen ihre politischen Mitbewerber wuchern könnte, wenn sie es nur wollte: nämlich einen gewissen Bewegungscharakter an den Tag zu legen (1).
Und die Aufregung ist groß. Denn tags zuvor hatte die rote Sahra in einem Interview geäußert, sie könne sich die Gründung einer neuen politischen Sammlungsbewegung vorstellen. Die immer auf Hauen und Stechen geeichte Mainstreampresse machte daraus, Wagenknecht und ihr Gatte Oskar Lafontaine wollten quasi die Linkspartei von außen her zerschlagen. Bereitwillig nahmen Sahras innerparteiliche Lieblingsfeinde den von außen zugeworfenen Ball auf, um sich von allen gefühlten Spaltungstendenzen abzugrenzen.
Spannung also im kosmischen Kinosaal. Und dann kommt die Zeremonienmeisterin auf die angedachte Sammlungsbewegung zu sprechen. Die Linkspartei sei ja ganz toll, und dass man bei der letzten Bundestagswahl 500.000 Stimmen hinzugewinnen konnte, sei ja wohl auch nicht schlecht, oder? Das stimmt. Und jeder weiß, dass die Linkspartei diesen Zuwachs nur der tapferen Sahra zu verdanken hat. Denn im Osten war die Linkspartei ganz erbärmlich abgeschmiert. In Westdeutschland dagegen konnte Frau Wagenknecht durch ihre unermüdlichen Talkshow-Auftritte von Martin Schulz angewiderte SPD-Stammwähler erstmals für ein Kreuzerl bei der Linkspartei gewinnen. Das ist ja wohl hoffentlich auch den anwesenden Linksparteibürokraten klar.
Und dann sagt die elegante Rotgekleidete etwas, das man im Saal und an den Parteistammtischen sicher gerne zum einen Ohr rein- und zum anderen Ohr wieder rauslassen möchte: zehn Prozent für die Partei sind ja ganz toll, aber – damit kann man doch keine andere Politik erzwingen! Und dann hat sie noch Jean-Luc Mélenchon mitgebracht, den Mann, der in Frankreich um ein Haar in die Stichwahl zur Präsidentschaft gekommen wäre, wenn nicht rein zufällig terroristische Attentate Law-and-Order-Themen nach vorne geschoben und auf diese Weise die mit diesen Themen eher vertraute Kandidatin Marine Le Pen bevorteilt hätten…
Um Gotteswillen! Will die Wagenknecht womöglich nicht nur auf hohem Niveau jammern, sondern tatsächlich die Machtfrage stellen? Sollen wir etwa die Ärmel aufkrempeln und zupacken?
Hier wird’s problematisch. Mit DIESER Linkspartei ist kein Machtwechsel in Deutschland durchführbar. Oder glaubt das jemand im Ernst? Die Linkspartei ist eine verlangsamte politische Stimmungsbremse. Das liegt an ihrem Patchwork-Charakter. In der Linkspartei gibt es die seniorischen ehemaligen SED-, KPD- und DKP-Kämpfer. Sie sind zwar bewegungsmotiviert, aber müde und können sich den Stress des politischen Kampfes nicht mehr selber zumuten. Dann gibt es die West-Einsteiger aus der ehemaligen WASG – ausgestiegene Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre. Sie sind eher gewohnt, im Sitzen am Schreibtisch zu kämpfen. Und schließlich die jungen Karrieristen. Als jungem Menschen stehen dir bei der Linkspartei alle Türen offen. Da die Partei hoffnungslos überaltert ist, werden junge Mitglieder schnell in die Vorstandsposten hinauf gewunken, denn von den Wahlplakaten sollen junge Gesichter für die Linke werben.
Leider wird weniger auf die politische Grundüberzeugung geschaut als auf das Alter. So wurden ganze Jugend- und Ortsverbände von USA- und Netanyahu-Fans übernommen, die mit den Ursprüngen der Linken rein gar nichts mehr am Hut haben. Harte Abwehrkämpfe z.B. im Linkspartei-Jugendverband solid Niedersachsen dokumentieren das ganze Dilemma.
Und Nachwuchsaufsteiger wie Stefan Liebich oder Klaus Lederer gefallen sich darin, eine Politik in Berlin zu unterstützen, die zum Verkauf von 65.000 kommunalen Wohnungen an Heuschrecken geführt hat.
Für diese Politiker gehört die Mitgliedschaft in transatlantischen exklusiven Clubs wie Atlantikbrücke zum guten Ton.
Es dürfte klar sein, dass Sahra Wagenknecht in dieser Partei eigentlich fehl am Platz ist. Das Links-Establishment duldet die Überzeugungstäterin zähneknirschend und mit geballten Fäusten im aschgrauen Sakko. Einstweilen noch, denn ohne die Heilige Johanna, die alle gut finden, würde man wahrscheinlich bald im politischen Nirwana enden. Es stellt sich die Frage, ob Sahra Wagenknecht gut beraten ist, jetzt die Machtfrage zu stellen? Wenn die Linkspartei-Bürokraten sie aus ihrer Organisation herausmobben, steht sie dann nicht selber vor dem politischen Aus?
Es gibt nämlich noch immer keine politische Sammlungsbewegung. Noch nicht einmal andeutungsweise. Noch immer wird nämlich auf hohem Niveau gejammert, aber immer noch kommt keiner auf die Idee, die Machtfrage zu stellen: das heißt, einen konsistenten Gegenentwurf zum marktradikalen Wahnsinn zu versuchen. Tatsache ist auch, dass wir noch nicht einmal ein klares Bild darüber haben, wer uns hier eigentlich mit welchen Tricks in immer tiefere Enteignung und Entmündigung führt. Erst so langsam dämmert uns, dass unsere Zivilgesellschaft von kriminellen Netzwerken so richtig gekapert wurde und wird. Leute, die im Dunkeln arbeiten, weil sie genau wissen, dass sie für ihre Agenda niemals eine demokratische Mehrheit erlangen können. Netzwerke, die seit Jahrzehnten Generationen übergreifend an der vollständigen Durchdringung und feindlichen Übernahme öffentlichen Eigentums arbeiten und feilen (2)
Den Enteigneten und Entmündigten wird so langsam klar, dass sie sich wehren müssen. Und diesmal, im Jahre 2018, ist die Basis des Widerstandes viel, viel breiter als im Jahre 1968, vor nunmehr einem halben Jahrhundert. Damals stellte der Soziologe Herbert Marcuse zutreffend fest, dass nur noch Randgruppen wie ethnische und sexuelle Minderheiten sowie Studenten in der Lage seien, über die Logik der kapitalistischen Sachzwänge hinweg zu schauen und eine grundsätzlich andere Gesellschaftsordnung zu entwerfen.
Das sieht jetzt ganz anders aus, denn jeden Tag werden von der Monstermaschine des real existierenden Kapitalismus immer mehr Menschen ausgestoßen und erniedrigt. Es betrifft nicht nur die bulgarischen LKW-Fahrer, die als moderne Lohnsklaven in ihren Kabinen vor sich hin vegetieren. Es betrifft auch die mittelständischen Unternehmer, denen durch die Zerschlagung der Sparkassen und Genossenschaftsbanken der Saft des Lebens, nämlich die Vorfinanzierung ihrer Unternehmungen, gewaltsam entzogen wird. Es betrifft ausgebildete Fachkräfte im Sozial- und Gesundheitsbereich, die zu immer niedrigeren Gehältern immer schlechtere Arbeit ausführen müssen. Der Marktradikalismus will den Menschen zur eierlegenden Wollmilchsau degradieren. Das heißt: das Widerstandspotential reicht einmal quer durch die Gesellschaft, durch alle Schichten und alle politischen Milieus. Ein explosives Potential. Die Angst der Enteigner, dass sich Paketbote und Dachdeckermeister, Leiharbeiter und Lehrer so gut verstehen könnten, dass sie die Usurpatoren mal eben abschütteln, findet ihren beredten Ausdruck in dem ebenso diffamierenden wie demagogischen Schmierwort von der „Querfront“.
Kurzum, allen ist klar: wenn es einfach so weitergeht wie jetzt, rasen wir geradewegs mit Hundertachtzig gegen die Wand. Die Frage ist nur, wie wir mit dieser erschreckenden Tatsache umgehen. Kopf in den Sand stecken geht nicht mehr.
Wenn man so vom Gegner zu Boden geschlagen worden ist, wie es uns nun gerade passiert ist, sollte man sich anschauen, wie der Gegner diese Leistung vollbracht hat. Und wenn man sich die nunmehr siebzigjährige Machtergreifungstaktik anschaut, kann das nur heißen: wir müssen jene versprengten Wissenschaftler endlich zusammenbringen in einem Netzwerk, die nicht einverstanden sind mit dem Marktradikalismus. Wir müssen außeruniversitäre Denkfabriken gründen, denn die Unis sind jetzt von den Marktradikalen okkupiert. Die zahlreichen, aber versprengten Initiativen müssen an diese Denkfabriken angeschlossen werden, so dass nicht das Rad ständig neu erfunden werden muss. Wenn sich das Dorf Jühnde erfolgreich von Energieeinfuhren unabhängig gemacht hat, können andere Kommunen diese Erfahrungen für sich nutzbar machen. Neue Wege werden überall beschritten, und es ist wichtig, diese Ansätze zu systematisieren und durch professionelle Medienleute den Menschen draußen im Lande zu vermitteln.
Es ist auch nicht zu verstehen, warum Frau Wagenknecht so wenig konstruktive Vorschläge einfallen. Ein Mindestlohn von zwölf Euro ist zwar wünschenswert. Aber ein wirklicher Systemwechsel sieht anders aus. Es geht unter anderem darum, das gestohlene öffentliche Eigentum der Öffentlichkeit zurückzugeben, und genossenschaftliche, öffentlich-rechtliche und staatliche Einrichtungen, die sich so wunderbar bewährt haben über die letzten 150 Jahre, wieder instand zu besetzen. Der Schienenverkehr muss mindestens wieder auf das Vernetzungsniveau des Jahres 1900 zurückgeführt und eng getaktet werden. Zudem muss der öffentliche Verkehr kostenlos angeboten und steuerfinanziert eingerichtet werden. Außenpolitisch werden wir uns dem Seidenstraßenprojekt zuwenden, und uns von dem absolut zerstörerischen NATO-Abenteuer verabschieden. Eine Steuerreform sorgt dafür, dass alle Steuern zentral eingezogen werden und sodann gerecht an Bund, Länder und Gemeinden verteilt werden, anstatt dass die lukrativen Steuern vom Bund abgegriffen werden.
Das fällt mir jetzt nur mal so spontan ein. Natürlich werden Wissenschaftler dann sagen: das geht nicht. Wirklich nicht? Das sollten wir doch mal von unabhängigen Wissenschaftlern überprüfen lassen…
Die Geschichte lehrt: es gab immer eine Pendelbewegung. Das Pendel schwang einmal mehr zu Gunsten jener „Schule“ die sagte: Solidarität ist schlecht, hin zu jener Richtung, die sagte: nur solidarisches Handeln bringt gute Ergebnisse. Jetzt ist das Pendel lange Zeit in Richtung Egoismus und Darwinismus ausgeschlagen. Es ist höchste Zeit, das Pendel wieder in die andere Richtung schlagen zu lassen.
Wir sollten, um darauf mal zurück zu kommen, vielleicht doch versuchen, für die nächste Bundestagswahl im Jahre 2021 den Bernie Sanders-, Jean-Luc Mélenchon- oder auch Jeremy Corbyn-Effekt für Deutschland anzuwenden. Nicht, um die Illusion zu nähren, man könne mit Wahlsiegen Systemwechsel erzwingen. Das geht nicht.
Aber erstens könnte man am Beispiel der USA, Frankreich oder Großbritannien zeigen, dass vernünftige Positionen durchaus mehrheitsfähig sind. In diesem Prozess der kollektiven Bewusstwerdung würden en passant auch neue Verbindungen und Vernetzungen gestiftet, die man für die außerparlamentarische Veränderung der Gesellschaft wunderbar einsetzen könnte. Und da kommt eventuell auch wieder Sahra Wagenknecht ins Spiel. Wenn wir endlich in die Pötte gekommen sind und die dringend notwendige Sammlungsbewegung auf die Beine gestellt haben, wäre eine so begabte Politikerin wie Sahra Wagenknecht die wertvolle Ergänzung.
Anstatt sich jetzt politisch mit dem verfrühten Versuch einer Sammlungsbewegung zu verbrennen, sollte Sahra Wagenknecht vielleicht noch ein bisschen im Intrigantenstadl der Linkspartei ausharren, bis die Zeit wirklich reif ist für eine starke Sammlungsbewegung.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Es ist nicht nachzuvollziehen, wie wenig die Linkspartei aus ihrem großen Erfolg im Berliner Kosmos-Kino macht. Die Video-Mitschnitte werden weder groß aufgearbeitet noch beworben. Die Rede von Mélenchon wird nicht übersetzt, obwohl die Übersetzung im Saal auf Großleinwand projiziert wird. Angesichts der durchaus erwähnenswerten finanziellen und personellen Mittel der Linkspartei kann man nur schließen, dass das Ereignis so schnell wie möglich der Vergessenheit überantwortet werden soll.
(2) Erste Einführungen ins Thema Kaperung der Zivilgesellschaft durch kriminelle Netzwerke: Ullrich Mies/Jens Wernicke (Hg.): Fassadendemokratie und tiefer Staat – Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter. Wien 2017. Oder: Hermann Ploppa: Die Macher hinter den Kulissen – Wie transatlantische Netzwerke heimlich die Demokratie unterwandern. Frankfurt 2014. Oder Naomi Klein: Die Schock-Strategie – Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt 2009.