Vor der „gewachsenen Gefahr eines Atomkrieges“ warnen acht ehemalige deutsche Abrüstungsdiplomaten in einer gemeinsamen Erklärung. Sie schreiben darin:
„Die sich verschärfende Rivalität der Großmächte und die Fragmentierung der internationalen Beziehungen bergen wachsende Gefahren auch für die europäische Sicherheit. Die Bedrohung durch Nuklearwaffen findet in der Öffentlichkeit kaum noch Beachtung.“
Die Erklärung der ehemaligen Diplomaten aus Ost und West hat die außenpolitische Zeitschrift WeltTrends aus Potsdam in ihrer aktuellen Ausgabe vom August (Heft 167) abgedruckt. Zuvor war das Dokument aus Anlass des 75. Jahrestages des Atombombenabwurfs auf Hiroshima durch die USA am 6. August online auf der Webseite des Politmagazins veröffentlicht worden. Die Abrüstungsexperten erinnern an die für Anfang des nächsten Jahres geplante Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag von Kernwaffen. Diese müsse genutzt werden, um den Vertrag zu erhalten und zu stärken, schreiben sie.
„Als ehemalige auf der Genfer Abrüstungskonferenz tätige deutsche Diplomaten halten wir es für außerordentlich wichtig, den vor 50 Jahren in Kraft getretenen Vertrag zu erhalten und zu stärken. Er ist nach wie vor der Grundstein für die Nichtverbreitung von Kernwaffen, die nukleare Abrüstung und die friedliche Nutzung der Kernenergie.“
Geschwächte Rüstungskontrolle
Sie bedauern, dass die in der Zeit des Kalten Krieges — neben der gegenseitigen Abschreckung — vorhandene Bereitschaft zu Dialog, Entspannung und Rüstungskontrolle gegenwärtig „in Vergessenheit geraten zu sein“ scheint. Das liege vor allem an der von US-Präsident Donald Trump betriebenen neuen Politik der Konfrontation. Diese habe die Rüstungskontrolle und deren Vertragssysteme geschwächt:
„So wurde der Vertrag über die Abrüstung nuklearer Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) von den USA einseitig gekündigt. Der für militärische Transparenz wichtige Vertrag über den Offenen Himmel steht vor dem Aus, der Umfassende Kernwaffenteststoppvertrag (CTBT) ist immer noch nicht in Kraft getreten. Das letzte Abkommen, das noch die nuklearen Arsenale Russlands und der USA begrenzt — der New-START-Vertrag — ist akut bedroht.“
Die ehemaligen Diplomaten werfen aber nicht nur den USA vor, die eigenen Atomwaffen modernisieren zu wollen. Das kritisieren sie ebenfalls bei Russland und bei China. Zudem würden die USA und Russland in ihren Militärdoktrinen die Schwelle für einen Einsatz von Nuklearwaffen senken.
Um „der nuklearen Rüstungskontrolle wieder den ihr gebührenden zentralen Platz auf der internationalen Tagesordnung zu geben“, schlagen sie eine Reihe von Maßnahmen vor. Bei denen sollen die USA und Russland wieder eine Vorreiterrolle einnehmen. Neue Gespräche zwischen den beiden Staaten sollten ohne Vorbedingungen aufgenommen und nicht an die Teilnahme Chinas geknüpft werden.
Notwendiges Vertrauen
„Die USA müssen überzeugt werden, dass ein Konferenzerfolg in ihrem Interesse liegt und sie durch eine konstruktive, ergebnisorientierte und kompromissbereite Haltung entscheidend zum Erfolg der Überprüfungskonferenz beitragen können“, meinen die Ex-Diplomaten. Sie erwarten von den fünf Nuklearwaffenstaaten des Nichtverbreitungsvertrages — USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien —, ihren vertraglichen Abrüstungsverpflichtungen gerecht zu werden.
„China und die USA sollten dazu endlich den Umfassenden Teststoppvertrag ratifizieren.“ Zugleich sollen die fünf Staaten durch transparente Informationen über ihre Potenziale und Doktrinen für Vertrauen bei den Nichtnuklearwaffenstaaten sorgen.
Ein „klares politisches Signal der Kernwaffenstaaten, dem grundlegenden Ziel der Verhinderung eines Kernwaffenkrieges weiterhin verpflichtet zu bleiben“, hätte aus Sicht der Abrüstungsexperten eine große Bedeutung. Sie sprechen sich weiterhin für eine kernwaffenfreie Zone im Nahen Osten aus, wie sie seit Jahren diskutiert wird.
„Darüber hinaus ist es an der Zeit, dass die USA die Protokolle zu den Verträgen über kernwaffenfreie Zonen in Afrika, dem Südpazifik und Zentralasien ratifizieren.“
Es sei wieder Geschlossenheit und Gemeinsamkeit unter den Vertragsstaaten notwendig, heißt es weiter in der Erklärung. An die Bundesregierung wird appelliert, sich für einen Erfolg der geplanten Überprüfungskonferenz einzusetzen.
Transatlantische Perspektive
Die Erklärung der ehemaligen Diplomaten leitet den inhaltlichen Schwerpunkt des Heftes ein, der den nuklearen Strategien der Kernwaffenstaaten gewidmet ist. Unter den Autoren ist Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking, der in verschiedenen Funktionen für die Bundesregierung im Bereich Abrüstung und Rüstungskontrolle tätig war. Er gehört zu den Erstunterzeichnern der Erklärung und vertritt in seinem Beitrag eine deutliche transatlantische Sicht.
So behauptet er gleich zu Beginn seines Beitrages im WeltTrends-Heft: „Das auf gemeinsamen Werten beruhende transatlantische Bündnis ist in dieser Situation als Bollwerk für Sicherheit in Freiheit und Demokratie besonders gefordert.“ Er sieht vor allem die Politik der Trump-Administration als Problem, stellt aber die grundlegenden Positionen der US-Nuklearstrategie nicht in Frage.
Der derzeitige US-Präsident zeige „einen Mangel an Kompromissfähigkeit und realpolitischem Augenmaß“, was unter anderem die einseitige Aufkündigung der Vereinbarung zum Atompotenzial des Irans belege. Ebenso würden die USA die Gespräche mit Russland überfrachten, indem sie China einbeziehen wollen. Lüdeking vermutet, dass die US-Verhandlungsposition eventuell gar nicht auf einen erfolgreichen Gesprächsabschluss ausgerichtet ist.
Für den Ex-Botschafter ist der transatlantische Dialog „weiterhin zentral“. Bei dem sollen aber die westeuropäischen Nato-Staaten den USA mit eigenen Positionen sowie durch „ein entschiedenes und geschlossenes Auftreten“ gegenübertreten.
„Ausgangspunkt für die europäische Positionierung ist der grundlegende politische Ansatz des westlichen Bündnisses: Die Sicherheitspolitik der NATO ruht seit 1967 auf zwei sich ergänzenden Pfeilern: einer gesicherten Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit sowie der Bereitschaft zu Dialog, Entspannung und Rüstungskontrolle.“
Deutlicher Widerspruch
Lüdeking wendet sich zwar gegen das Streben nach militärischer Überlegenheit. Eine kritische Haltung zur aktuellen US-Politik darf aber aus seiner Sicht „sich nicht selbst dem Vorwurf aussetzen, die Solidarität im Bündnis zu verletzen“. Und so plädiert er dafür, dass die Bundesrepublik „noch mehr für die Verteidigung tun“ und dafür auch mehr Geld ausgeben soll.
Er kritisiert die derzeitige Diskussion in der Bundesrepublik um die sogenannte nukleare Teilhabe. Die bedeutet, dass im Kriegsfall bundesdeutsche Jagdbomber US-Atomwaffen ins Ziel tragen und abwerfen sollen. Darauf zu verzichten „läge auch deshalb nicht in deutschem Interesse, da sich Deutschland damit seines Einflusses auf die Abschreckungsstrategie der NATO weitgehend entledigen würde“, behauptet Lüdeking. Er sieht es als „Illusion“ an, „zu glauben, mit einem Verzicht dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt auch nur einen Schritt näher zu kommen“.
Die Position des Ex-Botschafters steht im deutlichen Widerspruch zu den Aussagen von Rolf Mützenich am Schluss des Heftes. Dort warnt der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag in einem Kommentar vor den „Risiken einer fortgesetzten Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in Deutschland und Europa“, die „weitaus größer als ihr sicherheitspolitischer Nutzen“ seien.
„Die nukleare Teilhabe der NATO ist militärisch überholt, das Festhalten an ihr erschöpft sich zunehmend in inkonsistenter Symbolpolitik, hinter der auf beiden Seiten des Atlantiks knallharte rüstungsindustriepolitische Interessen stehen.“
Das der nuklearen Teilhabe zugrunde liegende Szenario, wonach im Kriegsfall die in Büchel stationierten Atombomben von deutschen Piloten ins Ziel geflogen werden, sei „nicht nur komplett unrealistisch, sondern angesichts der neueren sicherheitspolitischen Entwicklungen geradezu absurd.“
Neue Wege
Mützenich spricht sich dafür aus, die US-Atomwaffen in Europa mittelfristig vollständig abzuziehen. „Wir agieren und diskutieren immer noch in den veralteten und überkommenen Abschreckungskategorien des Kalten Krieges“, stellt er zuvor fest. Die gegenwärtige nukleare Ordnung sei „weit komplexer, unübersichtlicher und vor allem gefährlicher“ als das relativ stabile „Gleichgewicht des Schreckens“ im 20. Jahrhundert.
In einer notwendigen sicherheitspolitischen Debatte über die „nukleare Teilhabe“ und die Atomwaffen müsse aus Sicht des SPD-Politikers auch „über neue Wege“ nachgedacht werden. Die Nato-Staaten, in denen US-Atomwaffen gelagert sind — Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und Türkei — sollten sich dabei abstimmen. „Es ist zudem höchste Zeit, die stagnierenden Abrüstungsbemühungen mit neuem Leben zu füllen“, schreibt Mützenich und fordert Initiativen zur Abrüstung und Rüstungskontrolle ein.
Der SPD-Fraktionschef fordert auch dazu auf, „Moskaus Ernsthaftigkeit zu prüfen“. Dazu soll über nukleare wie auch konventionelle Waffensystems gesprochen werden, „einschließlich der in Europa lagernden 2.000 russischen taktischen Nuklearwaffen“. Mit der russischen Nuklearstrategie und den Debatten in dem Land dazu beschäftigt sich im WeltTrends-Heft ein Beitrag des Politikwissenschaftlers Wolfgang Kubiczek.
Klare Kontinuität
Der Erlass von Präsident Wladimir Putin vom 2. Juni 2020 zur Militärdoktrin zeige „eine bemerkenswerte Kontinuität der russischen Atomwaffenpolitik der letzten Jahrzehnte“: „Das Dokument definiert klar den Verteidigungscharakter der nuklearen Abschreckung: Der Einsatz von Kernwaffen wird ausschließlich bei einem Angriff auf Russland in Erwägung gezogen, wobei die Bedingungen für den Einsatz erweitert wurden.“
Russische Militärbeobachter sprächen davon, dass die Schwelle zum Atomwaffeneinsatz „als Reaktion auf die neuen Gefahren für die russische Sicherheit“ gesenkt worden sei. Kubiczek stellt klar:
„Für Deutschland ist von Bedeutung, dass ‚die Stationierung von Nuklearwaffen und deren Einsatzmitteln auf Territorien nichtnuklearer Staaten in einer Krisensituation zu einer militärischen Bedrohung für Russland und folglich Gegenstand der nuklearen Zielplanung werden könnten. Das verleiht der Forderung nach einem Abzug der taktischen Atomwaffen der USA von deutschem Boden neue Aktualität.“
Leider fehlt in der Zeitschrift ein Hinweis auf die Nato-Reaktion auf Putins Erlass im Juni: Das westliche Militärbündnis hat sich auf ein neues nukleares Abschreckungskonzept geeinigt, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 17. Juni berichtete. Die Nato-Verteidigungsminister hätten am Vortag in einem streng geheimen Dokument einen neuen „Rahmen für die Abschreckung“ festgelegt, wie es ihn seit den 1960er Jahren nicht mehr gegeben habe — „also seit der heißesten Zeit des Kalten Krieges und der nuklearen Konfrontation“, so der FAZ-Berichterstatter.
Schnellerer Erstschlag
Russland habe seine nukleare Einsatzdoktrin geändert und wolle Atomwaffen auch in regionalen und lokalen Kriegen einsetzen, wurde der Nato-Schritt in der FAZ begründet. Mehrfach sei in russischen Manövern eine solche Situation geübt worden. Während der Ukraine-Krise 2014 seien Atombomber Russlands an den westlichen und südlichen Grenzen des Landes beobachtet worden, die von der Nato als Warnung aus Moskau interpretiert worden seien.
Deshalb sei 2016 sei damit begonnen worden, die Nato-Nuklearstrategie zu überarbeiten, was nun zu dem neuen Dokument geführt habe. Das Ergebnis laut FAZ:
„Die Nato stellt sich darauf ein, dass sie in einer Auseinandersetzung mit Russland früher als bisher mit nuklearer Vergeltung drohen muss. Im Spannungsfall könnten die Bomben, die im Rahmen der nuklearen Teilhabe auch von der Bundeswehr eingesetzt würden, etwa nach Polen verlegt werden.“
Gegen die angeblichen neuen russischen Bedrohungen setzt die Nato dem Blatt zufolge auf „die defensiven und offensiven Fähigkeiten der Allianz, von der Raketenabwehr bis zu nuklearen Erstschlägen“. Dazu sollen neue konventionelle Waffen gehören, deren Zerstörungskraft mit der von „schwachen Atomwaffen“ vergleichbar sei. Deren Trägersysteme sollen aber auch nuklear aufrüstbar sein. „Die Technologie dafür haben die Amerikaner längst entwickelt.“
Von einem Widerspruch seitens der Bundesregierung zur neuen Nato-Strategie hat das Blatt nicht berichtet. „Die Atommächte verfolgen eine interessengeleitete Machtpolitik der Vergangenheit“, stellt im „Editorial des WeltTrends-Heftes der Politikwissenschaftler und Abrüstungsexperte Lutz Kleinwächter fest. Der Vorsitzende des WeltTrends-Fördervereins sieht angesichts der tatsächlichen Entwicklung „visionslose Akteure, die scheitern werden“.
Altes Wissen
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift aus Potsdam beschäftigen sich weitere Autoren mit dem Thema. So schreibt Max Mutschler, Projektleiter am Bonn International Center for Conversion (BICC), dass die Rüstungskontrolle „humanitär neu zu erlernen“ und das Tabu des Einsatzes von Kernwaffen zu ihrer Ächtung führen müsse. Die französische Politologin Emmanuelle Maitre schreibt, Frankreich bleibe auch unter Emmanuel Macron bei seiner Tradition der Nuklearstrategie, aber eingebettet in eine europäische Sicherheitspolitik.
Der Militärexperte Bernd Biedermann fasst in dem Heft die Positionen Chinas zusammen. Er verweist auf Pekings Weißbücher zur nationalen Verteidigung aus den Jahren 2015 und 2019. „In beiden Dokumenten wird der defensive Charakter der Militärstrategie Chinas betont.“ Und weiter schreibt er:
„China erklärt, dass es zu keiner Zeit und unter keinen Umständen als Erster Kernwaffen einsetzen werde und auch den Nichtkernwaffenstaaten nicht damit drohen werde. Unabhängig davon werden die eigenen Nuklearkräfte als ein Pfeiler der nationalen Souveränität und Sicherheit bezeichnet.“
China trete für ein komplettes Verbot und die Zerstörung der Kernwaffen ein, so Biedermann. Es wird sich keinesfalls am atomaren Wettrüsten beteiligen.“ Peking wolle wie im Kalten Krieg die eigenen Atomwaffen auf einem niedrigen Niveau halten. „Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Land mit einem Kernwaffenpotenzial, das jedem potenziellen Gegner irreparablen Schaden zufügen kann, militärstrategisch gesehen eine Großmacht ist.“
Der Politologe Kleinwächter zitiert in seinem Editorial Friedrich Engels. Der hatte 1893 in seinem Text zur Frage „Kann Europa abrüsten?“ geschrieben:
„Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist möglich, sie ist sogar verhältnismäßig leicht durchführbar, und Deutschland, mehr als ein andrer zivilisierter Staat, hat zu ihrer Durchführung die Macht wie den Beruf.“
Dieses Verständnis müssten sich die heutigen europäischen und deutschen Spitzenpolitiker noch aneignen, stellt Kleinwächter fest.