Die Geburt ist in vollem Gange. Es wird eng und enger. Immer weiter spitzt sich die Lage zu, immer dünner wird die Luft auf beiden Seiten. Wird die Menschheit ihn wagen, den großen Schritt? Werden wir ihn gemeinsam gehen oder getrennt? Noch ist das Ende nicht da. Die letzte Stufe ist noch nicht erreicht. So unerträglich die Situation auch ist — da ist noch mehr drin. Noch mehr Druck, noch mehr Irrsinn, noch mehr Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Noch enger wird der Kanal werden, bevor wir in eine neue Welt hineingeboren werden.
Darauf bereitete ich mich vor. Ich wusste, es würde hart werden. Ich würde in die Tiefe sinken. Den Grund würde ich berühren müssen, um mich erneut in die Höhe schwingen zu können. Den dunkelsten Wald würde ich durchschreiten müssen, das Innerste der Hölle, um in ihrem Zentrum den Ausgang zu finden. Nein, es würde nicht leicht sein. Mein Weg würde nicht von Alpha nach Omega führen, sondern von Omega nach Alpha, von der tiefsten Nacht zum neuen Morgen, vom Tod zum Leben. Das wusste ich: Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang findet sich das Mysterium, der schöpferische Funke, aus dem heraus neues Leben entstehen kann.
Was ich nicht wusste: Es war nicht die Welt, die zum Jahresende unterging. Es war meine Welt. Wie eine mächtige Welle erfasste mich die Veränderung und brachte alles nach oben, was ich fürchte: Krankheit, Tod, Verlust, Alleinsein, Ausgrenzung. Anstatt des Kindes in der Krippe bescherte mir das Weihnachtsfest einen Mann auf der Intensivstation, statt gekrönter Häupter die Diagnose Corona.
Keine Grenzen
Hilflos sehe ich Menschen in Schutzanzügen durch mein Schlafzimmer ziehen. Anstatt Neugeburt und Schöpferkraft spüre ich die Konfrontation mit dem Tod. Im leeren Haus kriecht die Angst die Wände hoch. Ich kann nichts tun. Warten. Hoffen. Einatmen, ausatmen. Kerzen anzünden. Von einem Moment zum nächsten hangeln. Da sein. Es gibt kein Gestern mehr und kein Morgen. Keine Flucht, keine Ablenkung. Es gibt nur noch den einen Moment, in dem alles passieren kann.
Ich wiege meinen Schmerz wie die Mutter ihr Kind, fühle mich zerbrechlich und stark zugleich, verloren und aufgehoben. Gleichzeitig bin ich die Mutter und das Kind. Ich bin allein und nicht allein. Von überall her kommen Bekundungen der Anteilnahme. Wie funkelnde Lichter schmücken sie den dunklen Raum. Alle sind sie da, jenseits verschiedener Meinungen und Positionen.
Die Gräben der letzten Monate sind überwunden, die Mauern fallen auf einen Schlag. Liebe kennt keine Grenzen. Vor ihr sind wir alle gleich.
Nur einige wenige suchen den Schuldigen. „Das hat er sich selbst zuzuschreiben. Warum hat er sich nicht impfen lassen?“ Es gibt sie, die Herzlosen, die Spottenden, die von Selbstgerechtigkeit Zerfressenen, die im Gefängnis ihrer eigenen Kälte schmachten. Es gibt Menschen, die im Kranken den Aussätzigen sehen und im Leid des anderen die Bedrohung für sich selbst. Doch bei den meisten spricht das Herz.
Wie ein sanfter Regen fließen Freundschaft, Mitgefühl, Verbundenheit und Wärme und hüllen den Kranken in sanfte Fürsorge. Er kann sie spüren, die liebevollen Gedankenlichter. Wie in eine schützende Wolke liegt er gebettet, zart und kraftvoll zugleich. Das ist es, das Wunder in dieser dunklen Jahreszeit. Starke und Schwache geben einander die Hand, Kranke und Gesunde, Geimpfte und Ungeimpfte, Kritische und Folgsame. Die Sorge um einen geliebten Menschen bringt alle zusammen.
Von Herz zu Herz
Nichts kann dieser Welle der Menschlichkeit widerstehen. Jeden nimmt sie mit, ungeachtet der Krämer und Geldeintreiber, der Panikmacher und Heilsversprecher. Wie in der Endszene des Filmklassikers von Frank Capra, It’s a Wonderful Life, werden letzten Endes alle von der Begeisterung erfasst, an etwas Großem, Gemeinsamem mitzuwirken. Jeder gibt, was er kann. Niemand hortet, was er hat.
Nicht das große Gebaren ist jetzt gefragt, die theatralische Selbstinszenierung, sondern die bescheidene Geste, die sich wie selbstverständlich ihren Weg bahnt, von Mensch zu Mensch und von Herz zu Herz. Ich bin da. Ich biete dir in Gedanken meine Hand. In Zeiten, in denen die Krankenhäuser den Besuchern verschlossen sind, bleibt uns, unsere geistigen Kräfte ins Feld zu führen. Wie himmlische Heerscharen fliegen die schönsten und liebevollsten Gedanken zu denen, die sie am meisten brauchen.
Aus Gedanken werden Gebete. Keine Worte des Bettelns sind es, keine scheinheiligen Akte des Selbstmitleids, kein Feilschen um Gunst und Vorteile. Es ist kein kleinlicher Handel, sondern eine großzügige Öffnung des Herzens, die Verbindung mit etwas, das gleichzeitig in uns und außerhalb von uns ist. Das Gebet ist ein Gespräch, eine Verbindung mit dem Höchsten, was wir uns vorstellen können, ein sanfter und zugleich mächtiger Trost. Wir können mit jemandem sprechen, auch dann, wenn niemand da ist, und spüren: Ich bin nicht allein.
Für alle
Das ist es, was wir alle tun können in einer Zeit, in der wir Frieden brauchen, Hoffnung und Zuversicht. Beten hilft loszulassen, was sich auflösen will. Seien wir jetzt da, ganz und gar präsent, doch halten wir an nichts fest. Wir können nicht aufhalten, was nicht bleiben will. Wehren wir uns nicht gegen das, was ist.
Fügen wir uns nicht noch mehr Schmerz und Leid zu. Nehmen wir an, was kommt, und vertrauen wir darauf, dass das Leben nicht gegen uns ist. Wäre es anders, so wären wir gewiss nicht hier.
So bleibt mir nun, eine weitere Kerze anzuzünden. Eine Kerze für die, die wir lieben. Eine Kerze für die Menschen, für die Menschlichkeit. Eine Kerze für die, die gegangen sind, und für die, die bleiben. Eine Kerze für die Mutigen und die Zaghaften, für die Getäuschten und die Wahrheitssuchenden, die Hoffnungslosen und die Zuversichtlichen, die Wütenden und die Friedlichen, die Lauten und die Leisen, die Vertrauten und die Fremden. Das Licht erreicht sie alle, auch die, die ihm den Rücken zudrehen. So sind wir alle vereint, verbündet, bereit, die nächste Welle gemeinsam zu nehmen.
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