Der westliche Mensch lebt in einer der besten Welten. Er besitzt alles, was sein Dasein angenehmer gestalten kann. Er hat sich organisiert, hat dem Chaos Ordnung und der existenziellen Unsicherheit ein naturwissenschaftliches Vertrauen abgerungen. Die Zivilisation, seine Leistung, verschafft ihm all jene Privilegien, von denen andere nur träumen können. Er lebt in einer Welt der Lösungen: Um die Gesundheit kümmert sich die Medizin, für das Seelenheil sorgt die Kirche, die Politik regelt das Zusammenleben, Konsum- und Produktionsgüter bringt die Industrie auf, den Schutz vor Andersdenkenden gewährt die Armee. Er hat Arbeit, Freizeit, eine Wohnung, ein Auto, einen Fernseher, einen PC und ein Smartphone. Dem westlichen Menschen geht es gut.
Dieses äußere Wohlbefinden fordert aber seinen inneren Preis. Der Mensch verfeinert die Technik und verliert das Handwerk. Er bürokratisiert den Alltag und verliert die Freiheit. Er verwaltet Dinge und verliert den Bezug zum Lebendigen. Er macht Geschäfte und verliert die Menschlichkeit. Er unterwirft die Natur und verliert seine Lebensgrundlage. Die fröhliche Wohlstandsgesellschaft ist die Summe vereinsamter Einzelwesen. Die Gesellschaft wächst auf Kosten des Einzelnen, ihr Gewinn ist sein Verlust. Sie zerstört sich selbst, indem sie den Einzelnen zerstört. Dem westlichen Menschen geht es schlecht.
Der postmoderne Mensch des Westens hat alles im Überfluss und ist der Sklave seiner Schöpfung. Dieser Konflikt betrifft uns alle, seien wir nun wohlhabend oder weniger bemittelt. Wir sind reich an Dingen und zugleich Opfer dieses Reichtums. Der Besitz macht nicht glücklich, wahrscheinlich macht er sogar unglücklich.
Gebot der Stunde
Die Frage nach dem Verzicht scheint mir das Gebot der Stunde zu sein. Wenn wir im Wohlstand leben und dennoch unzufrieden sind, ist es nur folgerichtig, diesen neu zu überdenken. Es geht einerseits darum, den persönlichen Wohlstand in einem größeren Rahmen zu sehen. Wer hat ein finanzielles Interesse an meinem Konsumverhalten? Inwieweit geht mein Lebensstandard auf Kosten der Zweiten und Dritten Welt? Trägt er zur Umweltzerstörung bei?
Anderseits gilt es, neben der theoretischen Standortbestimmung auf gesellschaftspolitischer Ebene die praktische Auseinandersetzung im Alltag nicht zu scheuen. Benütze ich, was ich habe? Brauche ich, was ich benütze? Was ist lebensnotwendig und was überflüssig? Auf was kann verzichtet werden? Wir sollten uns des Wohlstands, seiner Vorzüge und Gefahren voll bewusst werden. Das wird nicht gehen ohne Momente der Verunsicherung, des Zweifelns und der Angst. Doch damit könnte folgende Entwicklung eingeleitet werden.
Verheißungsvolle Entwicklung
Bewusstsein
Die kritische Beschäftigung mit dem Lebensstandard fördert viele Einsichten zutage. Zwischen nötigem Bedarf an Gütern und unverhältnismäßigem Konsum kann unterschieden werden. Falsche Bedürfnisse, zum Beispiel die durch die Werbung suggerierten, werden offensichtlich. Mein Überfluss, seine Folgen für mich selbst und die Umwelt, werden mir bewusst.
Freiwillige Wahl
In jeder Lebenssituation ist der Mensch zur freien Wahl gezwungen. Wer lebt, ohne zu wählen, hat aufgehört, ein freier Mensch zu sein. Er überlässt sich äußeren Einflüssen wie Gehorsam, Pflicht, Gewohnheit, die nichts mit seinem Selbst zu tun haben. Eine Seele, die nicht mehr wählt, liegt in den letzten Zügen. Der Zwang zur Wahl ist der Prüfstein menschlicher Freiheit. Nur wer diesen Zwang bejaht, ist frei.
Erkenntnis
Ich begreife: Indem ich auf gewisse Dinge verzichte, beeinflusse ich die Situation. Eine einzige Wirklichkeit wiegt tausend Möglichkeiten auf. Möglich ist alles, wirklich beinahe nichts. In diesem Sinn ist wenig viel und alles nichts. Es kommt einzig und allein auf die Wirkung an. Ein winziger Verzicht bewirkt mehr als tausend Einsichten.
Freiraum
Die freiwillige Wahl des Verzichts auf das Haben schafft einen Freiraum für ungeahntes Sein. Verzicht also nicht erfahren als Verlust oder Mangel, sondern im Gegenteil als menschliche Bereicherung. Ich habe auf einmal mehr Zeit, mehr Raum, mehr Unabhängigkeit zur Verfügung, um mich selbst zu verwirklichen.
Innerer Frieden
Selbstverwirklichung befriedigt meine echten Bedürfnisse. Befriedigt sein, heißt: Den Frieden gefunden haben.
Eins mit sich selbst
Dieser innere Frieden ist der Gegenpol zum äußeren Wohlbefinden. Jetzt erst fühle ich mich als ganzheitliche Persönlichkeit. Und als solche bin ich voller Zuversicht.
Der Mensch ist wandelbar
Der Mensch unterscheidet sich vom Tier unter anderem durch seine Fähigkeit, sich zu verändern. Wer dies leugnet, stellt sich auf die Stufe eines willenlosen Wesens. Er resigniert vor sich selbst. Ein Blick auf die Geschichte entlarvt diese subtile Art von Feigheit als Irrtum: Der Mensch ist wandelbar.
Die Geschichte offenbart ein sonderbares Wechselspiel von Anpassung und Veränderung. Indem der Mensch seine Umwelt gestaltet — also verändert — und sich ihr fortwährend anpasst, verändert er sich selbst. Die eher fortschrittsfeindliche Neigung zur Anpassung steht sozusagen im Dienst des Fortschritts.
Realismus ist die Voraussetzung für Optimismus. Fehlt die realistische Einschätzung der Gegenwart, verlieren wir uns in Utopien. Die Erkenntnis vom grundlegenden Zusammenhang zwischen Veränderung und Anpassung schenkt unerschütterliches Vertrauen in die Zukunft. Haben wir die Angst vor den Folgen eines Verzichts erst einmal überwunden und uns dazu entschlossen, vermehrt im Einklang mit der Natur zu leben, werden wir uns der neuen Situation schon anpassen.
Es ist möglich, die heute anstehenden ökologischen Probleme durch unsere Bereitschaft, die Umwelt und somit uns selbst zu verändern, zu bewältigen. Das Schicksal dieses Planeten liegt in unserer Hand.