Da ein Großteil der Psychoanalyse, der Psychologie und der Tiefenpsychologie versandet ist, möchte ich — Diplom-Psychologe und Erziehungswissenschaftler — einen kleinen Mosaikstein zur Erkenntnis beitragen. Es ist zugleich ein Dank an meinen Lehrer, den Zürcher Psychotherapeuten Friedrich Liebling, Schüler des Individualpsychologen Alfred Adler. Er hat mich über Jahrzehnte hinweg mit großer Menschenkenntnis einfühlsam, tolerant und verständnisvoll in das Gebiet der Tiefenpsychologie eingeführt. Seine fortschrittlichen psychologischen und weltanschaulichen Erkenntnisse bilden das Fundament der nachfolgenden Ausführungen.
Die Psychologie — Königin der Wissenschaften
„Die Psychologie ist die Königin der Wissenschaften. Ihre Lieblinge sind Menschenkenntnis und Menschenwohl, ihre Kleidung ist die Wahrheit und Überprüfbarkeit. Ihr Palast ist von Dornengehölz aus Vorurteilen, mittelalterlichem Aberglauben und religiös-philosophisch-ethischen Irrlehren umwachsen. Wer zu ihm gelangen will, muss sich durch dieses Dickicht kämpfen. Ein zufälliger Reisender mit fest gefügtem Menschen- und Weltbild wird im Palast nichts Anziehendes finden. Seine Schönheit und sein Reichtum öffnen sich nur einem Menschen mit gesundem, empirisch arbeitendem Verstand und einem offenen Gemüt. Er wird durch das Überwinden von Ängstlichkeit geistig frei und mutig werden, Menschenkenntnis erlangen und das eigene Gefühlsleben und das seiner Mitmenschen verstehen lernen. Damit ist er Zeuge für die erstaunliche Neigung des Menschen zu verborgenen, aber unerschöpflichen und erhabenen geistigen und seelischen Genüssen“ (1).
Mit der provokativ gemeinten Aussage, dass die Psychologie die Königin der Wissenschaften sei, wollte Friedrich Liebling die Tragweite und Wichtigkeit der Psychologie erklären und den Studenten der Psychologie zu Bewusstsein bringen, wie wichtig die Psychologie in unserem Leben ist.
Die Psychologie ist die Wissenschaft über den Menschen, über die menschliche Natur: wie der Mensch wird, wie er heranwächst, wie er sich in seinem Leben zurechtfindet. Diese entsteht, indem er Erfahrungen macht, die ihm Eltern und Lehrer vermitteln. Somit ist er das Produkt seiner Erlebnisse, seiner Eindrücke in der Kindheit. Bereits in den ersten Lebensjahren sammelt das Kind diese Erfahrungen. Mit fünf oder sechs Jahren, wenn es in den Kindergarten kommt, hat es schon seinen Kompass, weiß es bereits, wie es sich verhalten soll. Der junge Mensch hat dann schon eine Meinung über das andere Kind, über den Vater, die Mutter und die Geschwister. Er hat seinen Charakter, seine Charaktereigenschaften und eine Meinung über seine Stellung in der Welt.
Leider wird die Wissenschaft der Psychologie in unseren Breitengraden immer noch unterschätzt oder falsch eingeschätzt. Das liegt zum einen daran, dass viele deutsche Psychologen jüdischen Glaubens während der Zeit des Faschismus ins US-amerikanische Exil gehen mussten. Aber auch daran, dass die meisten Psychologen während des deutschen Faschismus kläglich versagt haben (2) und sich für den Krieg einspannen ließen: Die Soldaten sollten das Schlachtfeld nicht verlassen und wurden, wenn ihr Gemüt erkrankte, während des Heimaturlaubs von Psychologen aufgefangen und wieder präpariert, um weiterhin unter Einsatz ihres Lebens das Vaterland zu verteidigen.
Heutzutage erteilen Psychologen wiederum Jung und Alt zweifelhafte Ratschläge: Sie verhelfen ihnen dazu, ihre Ängste, Verzweiflungsanfälle und Suizidgedanken aufgrund der illegalen staatlichen Repressionen einigermaßen zu überstehen.
Das politische System wird nicht infrage gestellt. Die verzweifelten Menschen sollen sich den Repressionen fügen und nicht ihr individuelles und kollektives Recht auf Widerstand wahrnehmen. Dieser Verrat der Berufsethik stößt die Menschen immer tiefer ins Elend.
Die Zeit der Vernunft
Früher hatten wir die Zeit des Glaubens. Wir glaubten, was in der Bibel stand und der Pfarrer uns sagte. Seit einigen Jahrhunderten haben wir die Zeit der Vernunft: Der Mensch hat angefangen zu denken und sich selbst die Verantwortung über das, was hier auf Erden geschieht, zuzuschreiben. Er hat sogar den Himmel verneint: „Es gibt keine Macht da oben im Himmel, die alles dirigiert, sondern ich bin verantwortlich!“ Aber eines hat er nicht verstanden: sich selbst. An sich selbst, das heißt, an seine Gefühlswelt, ist er nicht herangetreten. Er hat Revolutionen gemacht, Bücher geschrieben, Theorien aufgestellt, wie man das Leben besser gestalten kann; aber sich selbst hat er nicht erkannt.
Wir leben also in einer Welt, in der der Mensch sich nicht erkannt hat. Alles hat er erkannt, alles hat er erforscht, aber sich selbst, seine Natur, seine seelische Verfassung, seine Reaktionsweisen, die hat er nicht erkannt. Wir leben in der Zeit der Vernunft, aber wenn es darauf ankommt, sind wir nicht vernünftig.
Wer zettelt zum Beispiel Kriege an? Menschen wie wir — oder sind es andere?
Immer wieder treibt uns das Machtstreben in Wirtschaft und Politik in Katastrophen hinein, in denen der Reichtum unserer Kultur verschleudert und die Ernten unserer Zivilisation zerstört werden. Diese Ideologie der Macht ist ein fürchterlicher Irrtum des Menschengeschlechts. Zwar berühren diese verhängnisvollen Auswirkungen unseren Lebensnerv, aber wir sind lethargisch genug, um uns durch sie nicht aufrütteln zu lassen. Das Problem der Gewalttätigkeit ist von der Menschheit nicht gelöst worden.
Wer stiftet Kriege an? Sind das Menschen wie wir, oder sind das andere? Ob der Erste oder Zweite Weltkrieg, der gegenwärtig tobende Krieg in Syrien und im Jemen oder auch derjenige gegen die weltweite Zivilbevölkerung. Wir müssen verstehen, was los ist mit uns — mit uns und mit den anderen. Wir müssen so viel Menschenkenntnis erwerben, dass wir verstehen, warum der Mensch sich so verhält. Der Mensch, unsere menschliche Natur und unsere seelische Verfassung sind uns noch unbekannt. Wenn wir unsere Reaktionsweisen erforschen und erkennen, lernen wir, unsere Gesinnung und unsere Meinung und die des anderen richtig einzuschätzen.
Wenn wir in einer Welt leben, in der Krieg und Verbrechen an der Tagesordnung sind, dann sind auch wir Mörder und Verbrecher. Denn die Welt ist so, wie wir sie eingerichtet oder — in Bezug auf bereits bestehende Verhältnisse — geduldet haben. Keiner kann sich der Verantwortung entziehen. Wir sind immer mitschuldig, selbst dann, wenn wir Opfer sind.
Bin ich meines Bruders Hüter?
Auch auf die Kain-Frage aus der biblischen Urgeschichte „Bin ich meines Bruders Hüter?“ hat die Menschheit noch keine Antwort gefunden: Es ist erschreckend mitanzusehen, wie der Mangel an Anteilnahme, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit in heutiger Zeit dazu führt, dass unzählige Menschen in ihrem unverschuldeten Leid alleine gelassen werden, weil sich Mitbürger nur noch für ihre eigenen Belange interessieren und immer weniger Anteil am Schicksal ihrer Artgenossen, ihrer Brüder und Schwestern, nehmen. Ein Blick in das syrische oder jemenitische Kriegsgebiet lässt jedes mitfühlende Herz erschaudern. Das Ausmaß der Gräuel lässt sich kaum ermessen. „Das geht mich nichts an!“, ist dann eine oft gehörte Unmutsäußerung — auch von bekennenden Christen.
Dabei spielen in der Menschenwelt soziale Gefühle und gemeinschaftliche Verbundenheit sicherlich eine ebenso große Rolle wie der Wille zur Macht und der Eigennutz: Der Mensch ist auch zur Hingabe und Selbstaufopferung fähig. „Das Mitgefühl mit allen Geschöpfen ist es, was Menschen erst wirklich zum Menschen macht“, sagte der deutsch-französische Arzt, Philosoph und Pazifist Albert Schweitzer (1875 bis 1965).
Warum ist ein Teil der Menschheit sehr wohl in der Lage, mitmenschliche Gefühle zu zeigen und danach zu handeln, während ein anderer — weitaus geringerer — Teil zerfressen ist von mörderischer Machtgier? Die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie geben darauf eine Antwort.
Den Gemeinsinn zur leitenden Idee erheben (3)
Globaler Friede und globale Mitmenschlichkeit müssen sowohl in den Gedanken und sittlichen Handlungsprinzipien als auch in der Solidarität, Brüderlichkeit und im Gemeinschaftsgefühl der Menschen verankert werden. Aus der Einsicht um die Zusammengehörigkeit aller, die Menschenantlitz tragen, erwuchsen die Lehren der sittlichen Führer der Menschheit, die Weisheit des Lao Tse und das Gebot der Nächstenliebe. Kulturentwicklung besteht im Wesentlichen darin, dass sich die Stimme des Menschheitsgewissens mehr und mehr Gehör verschafft und der Geist der Verantwortlichkeit an die Stelle der Gewalttätigkeit tritt.
Für Alfred Adler, den Begründer der Individualpsychologie, bestand die „tiefste Idee aller Kultur (…) in der endgültigen Verwerfung des Strebens nach Macht und in der endgültigen Erhebung des Gemeinsinns zur leitenden Idee.“ Das sagte er bereits vor 100 Jahren. Alle unsere Bestrebungen in der Welt und der Wissenschaft sollten das Leitmotiv haben, in Zukunft einen Menschentypus hervorzubringen, für den — wie Adler es formulierte — Gemeinschaftsgefühl und mitmenschliche Verbundenheit ebenso selbstverständlich sind wie das Atmen.
Aufklärung und Erziehung (4)
Da jedes menschliche Handeln in den Köpfen und Herzen vorbereitet wird und die Menschen sich morgen so verhalten, wie sie heute denken, braucht es vor allem Aufklärung. Der Sinn der aufklärerischen Bemühungen ist die Reinigung des menschlichen Bewusstseins von individuellen und kollektiven Vorurteilen. Die Zukunft unserer Kultur wird wesentlich davon abhängen, ob es genügend „Aufklärer“ geben wird, die imstande sein werden, den breiten Volksmassen jene Vorurteile zu nehmen, die der ideologische Hintergrund der Menschheitskatastrophen sind.
In der heutigen Zeit, in der die Vernichtung der Menschheit möglich erscheint, bedürfen wir mehr denn je der „freien Geister“, die uns lehren, was Wahrheit und was Lüge ist. Die Intellektuellen sollten sich dieser Verantwortung stellen.
Wichtiger noch als die Aufklärung ist das Problem der Erziehung. Die tiefenpsychologische Einsicht hat uns deutlich gemacht, welch ungeheure Tragweite die Erziehung hat. Wir wissen heute, dass der Mensch in einem derartigen Maß das Produkt seiner Erziehung ist, dass wir die Hoffnung hegen dürfen, durch psychologische Erziehungsmethoden Menschen heranbilden zu können, die gegen die Verstrickungen des Machtwahns gefeit sein werden und Gemeinschaftsgefühl entwickeln.
Verzicht auf das autoritäre Prinzip und Gewaltanwendung
So hat die Pädagogik in Elternhaus und Schule auf das autoritäre Prinzip — das Jahrhunderte lang als fraglos gültige Grundlage des erzieherischen Verhaltens angesehen wurde — und auf Gewaltanwendung zu verzichten. Erzieher haben sich mit wahrem Verständnis dem kindlichen Seelenleben anzupassen, haben die Persönlichkeit des Kindes zu achten und haben sich ihm freundschaftlich zuzuwenden. Eine solche Erziehung wird einen Menschentypus hervorbringen, der keine „Untertanen-Mentalität“ besitzt und darum für die Machthaber in unserer Welt kein gefügiges Werkzeug mehr sein wird.
In der heutigen gewalttätigen Kultur gerät der Weg des Einzelnen jedoch unweigerlich in den Einflussbereich des Macht- und Herrschaftsstrebens. Alle Vorbilder und Ideale, unter denen das Kind unserer Kulturkreise aufwächst, sind von Machtwillen gefärbt. Der Drang des Menschen nach Selbstvervollkommnung nimmt so unwillkürlich die Leitlinie der Machtgier an: groß sein, mächtig sein wird zum Ziel, das sich der Schwache setzt, um stark zu werden. Das Blendwerk der Gewalt ergreift von der Seele des Einzelnen bereits zu einem Zeitpunkt Besitz, wo er noch weder über bewusste Einsicht, noch über ein ausgebildetes Gerechtigkeitsgefühl verfügt.
Der Abbau der Machtgier und des Gewaltstrebens ist deshalb kein Postulat von Moralpredigern: er ist die schlichte Notwendigkeit des gemeinschaftlichen Lebens.
Man kann die Mahnrufe des menschlichen Gemeinschaftsgefühls wohl unterdrücken; gänzlich ausmerzen kann man sie nie, denn das Geschenk der Evolution besteht im sittlichen Bewusstsein des Einzelnen, in der Einsicht in die Verantwortung aller gegenüber allen. In der Erziehung muss dies der heranwachsenden Generation vermittelt werden.
Unsere Aufgabe für die Zukunft ist deshalb vor allem die Pflege und Verstärkung der Gemeinschaftsgefühle. Kein Mittel darf uns zu gering sein, keine Anstrengung zu mühsam, um die Jugend besser in das soziale Gefüge einzuordnen, sie zu lehren, dass Gewalt und Machtgier nur ins Verhängnis führen können. Keine Einschüchterung von Verstand und Vernunft durch religiöse Erziehung!
Der Mensch wird weder religiös noch gottesgläubig geboren. Das geistig gesunde und unverkrüppelte Kind gerät jedoch in eine Gesellschaft, in der wahnhafte Ideen und Illusionen vorherrschen. Um das Verhalten des erwachsenen Gläubigen besser zu verstehen, ist es unerlässlich, zu ergründen, wie diese magische Weltanschauung auf das Seelenleben und die Vernunft eines Kindes und Jugendlichen wirkt.
Kaum zeigen sich beim kleinen Kind die ersten seelischen Regungen und es lernt zu sprechen, wird es von der Gesellschaft, das heißt von den Eltern und der Kirche „in Obhut genommen“. Es wird ihm klar gemacht, dass sich sein Wesen bezüglich des Naturgefühls und der Weltanschauung nicht frei entwickeln darf. Will es verhindern, mit allgemeiner Verachtung und höllischen Peinigungen bestraft zu werden, muss es sein Wesen in eine bestimmte kirchliche Form pressen.
Bildet sich dann im 3. Lebensjahr das Bewusstsein des „Ichs“, so schalten sich bereits Gott und Teufel der betreffenden Religion ein und lehren das Kind, nicht auf sich selbst zu vertrauen, sondern sich von übernatürlichen Mächten führen und beherrschen zu lassen und eifrig zu beten, um nicht deren Rache zu verfallen. Das Kind lernt die Dämonenfurcht kennen.
Die „Tugenden“ der Unterwürfigkeit, des Gehorsams und der Demut prägen sich ein. Es werden dem Kind Dinge beigebracht, die ihm wesensfremd sind und seine Vernunft nicht erfordern. Niemand fragt das Kind danach, ob es überhaupt „religiöse Bedürfnisse“ habe. Seinen Kristallisationspunkt findet der dem Kind beigebrachte Dämonenglaube in den Vorstellungen von Teufel und Hölle. Psychiater diagnostizieren als Folge bisweilen Angstneurosen und schwere seelische Störungen.
Die Angst erzeugt im Kind Gefühlsreaktionen, die sich gegen den Menschen wenden: Es hat Angst vor dem Menschen. Der junge Mensch wächst heran und ist als Erwachsener nicht imstande zusammenzuwirken und zusammenzuleben. Deshalb kann er sich auch das eigene Leben nicht einrichten. Man nutzt die Jahre der stärksten Suggestibilität des Menschen aus, um ihm mystische Vorstellungen einzuimpfen, es gegen den Vernunftgebrauch in religiösen und weltanschaulichen Dingen immun zu machen und es an eine bestimmte religiöse Institution — treu bis zum Tode — zu binden.
Das Kind darf sich nicht natürlich und ungezwungen entwickeln, bis es im Erwachsenenalter selbst nach dem Wesen der Natur und dem Sinn des Lebens fragt. In der katholischen Kirche folgen im zarten Alter in kurzen Zeiträumen nacheinander Beichte, Kommunion und Firmung; Handlungen, die mit dem ewigen Treuebekenntnis zu den Lehren der Kirche verbunden sind und im Falle des Nichteinhaltens furchtbare Folgen nach sich ziehen.
Mit diesem Vorgehen wird sehr starker und lähmender Druck auf die Kinderseelen ausgeübt. Keine noch so diktatorische und totalitäre politische Organisation ist imstande, in dieser repressiven Weise auf Kinderseelen einzuwirken. Diese seelische Vergewaltigung ist schlimmer und nachhaltiger als jede körperliche. Das Gleiche gilt für die Vergewaltigung des Geistes.
Die Misshandlung des kindlichen Verstandes hat zur Folge, dass auch der Erwachsene in weltanschaulichen Dingen wie das Kind und der primitive Urmensch reagiert: in Form eines „magischen Autoritätsglaubens“. Der erwachsene Mensch ist dann oft in der Ich-Entfaltung gehemmt, doch den Priestern gegenüber hörig und suggestibel. Vielen Erwachsenen fehlt also nicht nur der „gesunde Menschenverstand“, sondern sie müssen in weltanschaulichen Gesprächen auch die Reste ihres Verstandes ständig niederkämpfen und sich selbst gegenüber unehrlich sein. Und das deshalb, weil nicht der geringste Beweis für die Existenz eines außerweltlichen Wesens, das am Schicksal des Menschen teilnimmt, erbracht ist.
Alle an der Erziehung von Kindern und Jugendlichen Beteiligten sollten es deshalb tunlichst unterlassen, die heranwachsende Generation auf ihrem Weg ins Erwachsenenalter mit autoritären Erziehungsmethoden gehorsam und gefügig zu machen. Auch sollten sie ihnen nicht den verstandeslähmenden „Ballast“ der Religion aufbürden. Nur so können die Jungen als frei denkende, mutige und mitfühlende Bürger die Welt eines Tages in eine andere Bahn lenken.
Die Zukunftsvision freier Bürger: Eine libertäre Gesellschaft mit freien Menschen (5)
Mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie ließe sich eine libertäre Gesellschaftsordnung mit freien Menschen realisieren — eine Zukunftsvision freier Bürger. Für den Autor wäre es ein Gegenmodell zur gegenwärtigen totalitären Herrschaftsform der Unfreiheit, der Gewalt und der Ausbeutung. Diese Zukunftsvision hatten einige reife Menschen wie Peter Kropotkin und andere freiheitliche Sozialisten bereits vor mehr als 100 Jahren.
Der russische Anarchist, Geograf und Schriftsteller Fürst Peter Kropotkin (1842 bis 1921) beobachtete sowohl die Natur als auch die Naturwesen und bezog seine Erkenntnisse auf den Menschen. Im Buch „Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ schreibt Kropotkin, dass in Natur und Gesellschaft keineswegs nur ein Kampf aller gegen alle (Sozialdarwinismus) stattfindet, sondern dass ebenso das Prinzip der „gegenseitigen Hilfe“ vorherrscht. Diejenigen Lebewesen, die dieses Prinzip umsetzen, würden erfolgreicher überleben.
Die naturwissenschaftliche Tiefenpsychologie basiert auf diesen Erkenntnissen. Demnach ist der Mensch ein naturgegeben soziales, auf die Gemeinschaft seiner Mitmenschen ausgerichtetes Wesen. Auch hat er eine natürliche Neigung zum Guten, zur Wahrheitserkenntnis und zum Gemeinschaftsleben. Vor diesem Menschen müssen wir keine Angst haben. Er möchte in Freiheit und Frieden leben, ohne Gewalt und Krieg — so wie wir alle.
Diese Freiheit, die dem Menschen (wieder) gegeben werden soll, weil sie ihm von Natur aus zusteht, ist selbstverständlich nicht die Freiheit, den anderen Menschen auszubeuten und seine sauer verdienten Ersparnisse zu plündern. Das ist die „Freiheit“, die die herrschende Clique im Kapitalismus meint und die den Menschen unwillkürlich korrupt macht.
Dem Menschen die Freiheit geben soll heißen, ihm das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, auf Gerechtigkeit, Sicherheit und Ruhe geben.
Dies bedeutet, dass jeder arbeitende Mensch weiß, sollte er aus Alters- oder Krankheitsgründen nicht mehr arbeiten können, dass er dann nicht gekündigt wird, sondern genauso weiterleben kann wie bisher: Er bekommt auch künftig den letzten Lohn, behält seine Wohnung und muss nicht in der kommunalen Gemeinschaftsküche oder bei der Kirche um eine Suppe betteln. Sollte er wegen eines Unfalls unverhofft ums Leben kommen, dann wird seine Familie weiterhin versorgt und seine Kinder können eine gute Schule besuchen.
In einer freiheitlichen Gesellschaft hat er nicht nur Sicherheit, sondern auch Ruhe. Keine Autorität wird sich aufschwingen, um über ihn zu herrschen; es wird keine Gewalt geben, keinen Krieg, keinen Militärdienst, keine Not, kein Irrenhaus, keine Gefängnisse. Die äußere Freiheit wird auch zur inneren Freiheit führen: Der Mensch wird ein anderes Bewusstsein haben, ein anderes Denken, eine andere Beziehung zum Mitmenschen, ein anderes Gefühl zum lieben Gott.
Auch wird keine Diktatur errichtet und der Mensch gezwungen werden. Es wird an den Menschen geglaubt, man assoziiert sich mit ihm, fühlt sich in ihn ein, appelliert an ihn. Er will gut leben und mit seiner Brut ein Dach über dem Kopf haben. Dieser Mensch wird mittun in einer freiheitlichen Gesellschaft, weil das seiner Natur entspricht. Vor ihm muss man keine Angst haben. Auch in der Freiheit muss man keine Gefahr sehen. Wenn einer nicht willens oder fähig ist, in einer Gemeinschaft mit zu leben, dann wird er von den anderen mitgenommen. Mit den Kranken wird man ebenso fertig werden; sie werden nicht stören. Im Gegenteil, in einer freiheitlichen Gesellschaft werden sie gesund.
Lassen wir den Menschen frei und verlangen nichts von ihm! Er wird das gerne aufnehmen und sich anders verhalten, weil er eine andere gesellschaftliche Situation vorfindet. Der Mensch kann sich ändern, meinte Karl Marx — und die Tiefenpsychologie bestätigt das. Auch soll er die Freiheit gleich bekommen. Die Kirchen werden nicht zugesperrt und die Religion wird nicht verboten; man lässt die Menschen frei und lässt sie beten. Nicht der Staat entscheidet, sondern der einzelne Mensch und die Gemeinschaft entscheiden.
Karl Marx hatte recht: Wenn der Mensch die Sicherheit seines Lebens hat, denkt er anders. Er hat andere Gedanken, andere Gefühle und eine andere Beziehung zum Mitmenschen. Der Mensch wird anders, wenn er den gedeckten Tisch hat. Er hat andere Gefühle als der, der in Unsicherheit lebt, ausgebeutet wird, arm ist, Angst vor Hagel und Blitz hat, den Gott ihm schickt, wenn er nicht genug betet. Angst, dass der liebe Gott sein Haus anzündet oder Hagel schickt und das Korn zerschlägt, sodass er verhungert. In seinem ganzen Gefühlsleben und Denken wird er dadurch in Anspruch genommen.
Wenn eine Gesellschaft eingerichtet wird, in der der Mensch sein Recht auf das Leben hat, dann hat er ein anderes Bewusstsein. Die Angst im Kapitalismus prägt den Menschen. Ausbeuter und Ausgebeutete sind gleich arm.
Die Kirche hält dieses System aufrecht mit Wundermännern, die in Beziehung mit dem lieben Gott stehen und alles ordnen. Wenn wir das kapitalistische System aufgeben und eine Gemeinschaft bilden, wo das nicht in Frage kommt, dann gibt es keine Ausbeuter, keine Kapitalisten, keine Kriege, keine Angst. Dann entwickelt sich ein anderer Mensch. Im gegenwärtigen Prinzip der Gewalt und der Autorität kann sich der Mensch nicht entwickeln.
Es gibt dann auch keine Angst vor der Gottesstrafe und der Hölle und darum auch keine Religion. Der Mensch hat ein anderes Bewusstsein, denkt selbst, vertraut in die eigenen Kräfte, überprüft an der Erfahrung, hat andere Gedanken und Gefühle. Der Kranke wird durch ein anderes gesellschaftliches System gesund und hat eine angstfreie Beziehung zum Mitmenschen. Er kann sich mit ihm solidarisieren, sich ihm anschließen und sich mit ihm auf gleiche Stufe stellen. Der Mensch kann sich entwickeln und ändert sein Verhalten, er wird nicht mehr korrupt wie im kapitalistischen System. Er bildet sich und lernt das Lesen und Schreiben. Er wartet nicht mehr auf das Paradies im Himmel, sondern will es auf Erden haben; er entscheidet selbst, welchen Weg er geht.
Ausblick
Da jeder Mensch einen mehr oder weniger großen Einflussbereich besitzt, kann er die hier dargelegten psychologischen und weltanschaulichen Erkenntnisse zehn, zwanzig, dreißig anderen Menschen weitervermitteln. Diese zehn oder dreißig Menschen werden es zehn anderen weitersagen, die es ihrerseits weiterverbreiten.
Wenn die Trägheit ihn zurückhält, nun gut, dann fängt er mit anderen von vorne an!
Quellen und Anmerkungen:
(1) In Anlehnung an Jan Sniadecki (1756 bis 1830) und Carl Friedrich Gauß (1777 bis 1855): „Die Mathematik ist die Königin aller Wissenschaften. Ihr Liebling ist die Wahrheit, ihre Kleidung Einfachheit und Klarheit. Ihr Palast ist von Dornengehölz umwachsen, wer zu ihm gelangen will, muss sich durch dieses Dickicht kämpfen. Ein zufälliger Reisender wird im Palast nichts Anziehendes finden. Seine Schönheit öffnet sich nur dem Verstand, der die Wahrheit liebt, der beim Überwinden von Schwierigkeiten hart wurde und der Zeuge ist für die erstaunliche Neigung des Menschen zu verworrenen, aber unerschöpflichen und erhabenen geistigen Genüssen.“
(2) Baumgarten, Franziska (1949). Die Deutschen Psychologen und die Zeitereignisse. Verlag DER AUFBAU Zürich. Schweizerisches Sozialarchiv.
(3) Vergleiche www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25754&css.
(4) Am angegebenen Ort.
(5) Vergleiche https://www.globalresearch.ca/future-vision-free-citizens-libertarian-society-free-people/5733297; https://www.globalresearch.ca/keinem-die-macht-ubergeben/5728617; http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27206&css; http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27120&css.