Nach der Lektüre eines Artikels über Rudi Dutschke und die 68er Bewegung und einer Reflexion der eigenen, zugegebenermaßen bescheidenen Kenntnisse über diese Zeit erwuchs in mir der Eindruck einer anderen Welt. 50 Jahre sind zweifelsohne eine unvorstellbar lange Zeit für jemanden, der erst die Hälfte davon auf dieser Erde verbracht hat.
Trotzdem erscheinen die damaligen Forderungen und die radikale Kritik an der bestehenden Gesellschaft wie einem revolutionären Märchen entsprungen und immer mehr entsteht der Eindruck einer verschenkten, ja, gescheiterten Revolution. Wo, so frage ich mich noch jetzt, ist das Erbe, ist die Fortsetzung dieser Zeit, in der radikal die Grundsätze der Gesellschaft sowie ihrer Autoritäten hinterfragt wurden?
Es scheint, als habe sich im direkten Anschluss an das Attentat auf Dutschke der einstmals reißende Strom linker Kräfte in viele plätschernde Bäche gespalten, die sich allesamt einem neuen Feind zuwandten, der viel greifbarer und einfacher zu bekämpfen ist: ihre ehemaligen Mitstreiter. So existiert heute eine kaum überschaubare Anzahl an Strömungen und Bewegungen, die es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht haben, in leidenschaftlicher Hingabe den Feind im eigenen Lager zu suchen.
Auf der einen Seite gibt es jene, die Anderen absurde Definitionen von Rassismus und Antisemitismus aufzwingen wollen. Damit verbunden sind jene, die pauschal „gegen Nazis und Faschismus“ sind – wobei die Definition dieses Begriffes immer schwammiger zu werden scheint –, die sich aber niemals mit den Gründen der Entstehung des Faschismus auseinandersetzen.
Es ist offenbar einfacher, sich überheblich als besserer Mensch zu fühlen, anstatt dem politischen Gegner die Achtung entgegenzubringen, rationale Argumente austauschen zu können.
Aktivismus zielt damit ganz unpolitisch auf die Aufwertung des eigenen Selbst, nicht jedoch auf tatsächliche Veränderung.
Teilproblem-Behandlung
An anderer Stelle beschäftigt man sich lieber mit der eigenen Identität und gibt sich Mühe, mittels Etikettenkleberei eine Abgrenzung gegen Andersdenkende zu erreichen, sich Labels zu verpassen, die unter dem Oberbegriff LGBTQ oder ähnlichen firmieren. Man besinnt sich auf seine eigenen angeblichen Schwächen und Fehler. Damit bestätigt man nur die normative Kraft des Systems, in dem solche Kategorien geschaffen werden müssen, um die Betroffenen, die nicht als „normal“ (was immer das heißen mag) angesehen werden, in ihren Rechten zu bestärken.
Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl verschiedenster Bewegungen und Vereine, die sich auf Teilprobleme wie die Umwelt, die Handelspolitik der EU oder den Krieg fokussieren. Alle sind irgendwie gegen Nazis, ja. Und alle stimmen überein, dass der Kapitalismus schon irgendwie nicht so cool ist. Doch Protest beschränkt sich auf das Sammeln von Unterschriften, Verteilen von Flyern, Bildungsarbeit und, natürlich, die Wahl entsprechender Parteien.
Doch eine Revolution bleibt aus, solange man seinen Protest in politische Parteien „gießt“, die entweder für die gegebenen Verhältnisse mitverantwortlich sind oder aber ihre Oppositionsfunktion vollkommen unzureichend wahrnehmen.
Vom Antiautoritarismus nichts zu spüren – im Gegenteil, fokussiert man sich doch auf seine Galionsfiguren, seien es Politiker, deren Meinungen man nachbetet, seien es die großen Denker, die schon seit Jahrhunderten als Autoritäten anerkannt sind.
Auch das ständige Zitieren von Marx und seinen zweifelsohne bedeutenden Werken stellt streng genommen eine Unterwerfung unter eine Autorität dar. Wozu beruft man sich überhaupt auf diese alten, längst im Abgrund der Geschichte versunkenen Gestalten, die unsere heutigen Verhältnisse nicht erahnen konnten?
Links verwässert
Es scheint, als seien auch die Dichter und Denker mit der 68er-Revolution verschwunden. Zwischen mittelmäßiger Fantasyliteratur und vorhersehbaren Skandinavienkrimis kann ich ambitionierte Schriftsteller und kluge Denker nicht mehr entdecken. Offenbar fällt also auch die Kunst als Revolutionsträger aus.
Gleichzeitig macht die Gesellschaft offensichtlich einen Ruck nach rechts. Die reaktionäre Restauration findet seit Jahren statt, zuletzt mit Kampfansagen aus CSU und AfD, und wird anscheinend einhellig willkommen geheißen. Wie kann es sein, dass eine seit ihrer Entstehung von einer Revolution träumende Linke die einzige Chance auf eine solche so bereitwillig aufgegeben hat?
Dabei wäre im Angesicht der multiplen Systemkrise, manifestiert in Klimawandel, Finanzkrise, Flüchtlingsbewegungen, Kriegen und so weiter eine solche Revolution, welche die Verhältnisse grundsätzlich hinterfragt, dringend notwendig.
Warum jedoch wenden sich ausgerechnet diejenigen, die zu vertreten die linke Bewegung vorgibt, von jener ab? Liegt es daran, dass sie ihre Positionen, ihre Ideen nicht verstanden haben? Nein – sie haben sehr wohl verstanden. Sie haben verstanden, dass eine in den Schützengräben ihrer ideologischen Verblendung liegende und sich selbst bekämpfende Linke zur Nutzlosigkeit verdammt ist, ja die Verhältnisse sogar stabilisiert, anstatt sie zu hinterfragen.
In Zeiten, in denen sich der Druck auf den Einzelnen stetig erhöht und immer mehr Menschen sich in den Hamsterrädern ihrer Arbeit verausgaben müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen, scheinen die Menschen sich mit diesen Umständen erschreckenderweise abgefunden zu haben. Eine andere Welt auch nur zu denken, grenzt an Kommunismus und damit an Hochverrat. In einer solchen Zeit kann ein wirklicher Wandel nicht von einer marginalisierten Arbeiterklasse ausgehen.
Vielmehr ist es eine Generationenfrage. Und jene Menschen, in denen revolutionäres Potenzial stecken könnte, sind meine Generation, die Jugend und die jungen Erwachsenen, die sich noch nicht von Job zu Job hangeln müssen.
Angepasste Jugend
Doch wenn ich mich umsehe, erblicke ich erschreckende Angepasstheit. In totaler Obrigkeitshörigkeit scheinen auch junge Menschen sich längst abgefunden zu haben, suchen nach ihrem Platz im System, ihrem Stück vom Kuchen. Auf Linie gebracht in einem Bildungssystem, das diesen Namen noch nie verdient hat, scheint die Erkenntnis gereift zu sein, in der besten aller Welten zu leben. Zwischen bunter Konsumwelt und sozialen Netzwerken, zwischen Dauerwerbung und Popmusik, medialer Ablenkung und dem allgegenwärtigen Lern- und Arbeitsstress scheinen sich die Prioritäten der jungen Generation auf zwei Fragen zu beschränken:
- Wie kann ich möglichst schnell ein Rad im Getriebe werden, ohne großartig unangenehm aufzufallen?
- Wo verbringe ich meinen nächsten, möglichst eindrucksvollen All-inclusive-Urlaub, mit dem ich mein Instagram-Profil bebildern kann?
Selbstinszenierung, Individualitätswahn und Karrieregeilheit erscheinen als das Gebot der Stunde. So ist es auch wenig verwunderlich, dass selbst jene, die in der Schule ihrem jugendlich-rebellischen Charakter in auffälliger Kleidung und bunten Haaren Ausdruck verliehen, jene Punks also, sich heute als Lehrer verdingen oder in Fitnessstudios arbeiten. Die bunten Haare und auffälligen Piercings mag man als nostalgische Reminiszenz beibehalten haben, doch der revolutionäre Geist wurde verbannt auf den Scheiterhaufen der eigenen Träume und Vorstellungen.
In Zeiten, in denen die „Toten Hosen“ öffentlich die Bundeskanzlerin unterstützen und die „Ärzte“ im Radio gespielt werden, scheint der Punk seine eigenen Wurzeln zu verleugnen, und jene, die sich als seine Anhänger ausgeben, begnügen sich mit Solidaritätsbekundungen für Flüchtlinge und dem unverbindlichen Ausspruch gegen den Kapitalismus. Doch wirkliches revolutionäres Potenzial ist nicht zu entdecken.
Stattdessen ist die Jugend heute in großen Teilen konservativer als ihre Eltern. Mit 18 Jahren Abitur (oder natürlich mit 16 einen beliebigen anderen Schulabschluss), dann möglichst schnell die Ausbildung oder das Studium absolvieren und sich auf die vom Kapitalismus geforderte Funktion als Arbeiter und Konsument reduzieren lassen. Aussprüche wie „Du musst studieren, was der Markt verlangt.“ legen beredtes Zeugnis der Indoktrination ab.
Möglichst schnell mit seinem Partner in eine eheähnliche Gemeinschaft ziehen. Mit 21 heiraten, dann folgen bald die Kinder. Spießertum mag Sicherheit vermitteln, doch es ist nicht die Keimzelle der neuen Revolution.
Es scheint, als ahme ein jeder das Leben seiner eigenen Eltern nach. Das einzige Aufbegehren ist der Versuch, sie in ihrer Spießigkeit noch zu überholen.
Radikale Kritik der grundsätzlichen Verhältnisse, einschließlich des überkommenen bürgerlichen Verständnisses von Ehe und Sexualität, war ein wichtiger Bestandteil der 68er-Bewegung, deren konsequenteste Manifestation wohl in den Kommunen bestand, die sich aus dieser Kritik ergeben haben. Davon ist heute nichts mehr zu sehen.
Nichts scheint der Jugend drängender zu sein, als eine spießige, eheähnliche Zwei-Personen-Beziehung, die sich so bald wie möglich eine Wohnung teilt und in die Sicherheit der kapitalistischen Arbeitswelt verabschiedet. Kritik, die an diesem Weltbild geäußert wird, lächelt man milde weg, verbunden mit den Worten, dass „da ja nur mal die Richtige kommen müsse..“. Divergierende Weltsichten sind also nicht mehr als eine Laune, oder eine Phase; der Eindruck, in Dissens mit der Mehrheit zu stehen, scheint lediglich eine Frage des Reifegrades zu sein.
Die politische Bildung beschränkt sich auf die Tagesschau und alle vier Jahre geht man zur Wahl, macht sein Kreuz jedes Mal bei derselben Partei und sieht sich dann seiner Verantwortung für die nächsten vier Jahr ledig. Antiautoritarismus? Fehlanzeige.
Im Gegenteil, man gibt seine Verantwortung an eine beliebige Autorität ab. Frei nach dem Motto „Wir woll’n doch alle bloß ’nen Job und dann sterben.“ (Trailerpark – bleib in der Schule). Seine eigene Unzufriedenheit betäubt man dabei regelmäßig in sinnentleerten Feierlichkeiten, ertränkt sie in Alkohol und räuchert sie in Nikotin und THC.
Wo bleibt die Revolution?
Bin ich der Einzige, der nicht bereit ist, sich in die Verhältnisse einzufügen, seinen Platz und einen „Job“ zu suchen, der „ihn “erfüllt?“ – wohlwissend, dass es einen solchen, zumindest auf Dauer, nicht geben kann? Bin ich Teil einer verschwindenden Minderheit, welche versucht, sich eine andere, menschlichere Gesellschaft vorzustellen, die nicht auf Ausbeutung von Mensch und Natur beruht und sich so in aller Konsequenz selbst vernichtet?
Woran liegt es, dass meine Generation sich so bereitwillig in ein von Anderen aufoktroyiertes Schicksal ergibt? Ist es, weil wir uns im Individualisierungswahn keine Gemeinschaftlichkeit mehr vorstellen können, die über das singuläre Beisammensein einer Fußball-WM hinausgeht?
Ist es, weil wir immer wieder auf unsere eigenen Schwächen zurückgeworfen werden, die uns in Angst und Unsicherheiten wiegen, sodass wir die Revolution schon gar nicht mehr zu denken wagen? Können wir die Revolution überhaupt noch denken oder hat das System uns in ein Unvermögen gestürzt, überhaupt noch Dinge zu denken, die außerhalb des schmalen Korridors des Sagbaren liegen?
Ist es, weil wir von der Wiege an mit dem neoliberalen Selbstverwertungsdogma aufgewachsen sind? Haben wir uns zu sehr abgefunden mit den Bequemlichkeiten des schnellen Konsums und der Dauerunterhaltung? Empfinden wir zu viel Vergnügen an Wettbewerb und Selbstoptimierungswahn, an Konkurrenzdruck und Ellenbogenmentalität?
Sind wir zu gefangen auf unserem Weg zur Selbstverwirklichung? Sind wir zu beschäftigt damit, uns Identitäten künstlich zu generieren und sie von anderen abzugrenzen, anstatt auf Gemeinsamkeiten zu achten und eine Einheit zu schaffen, die das gemeinsame, visionäre, revolutionäre Ziel anstrebt, die Gesellschaft von Grund auf zu sanieren?
Warum gehen wir lieber auf Demos „gegen Nazis“, anstatt die Ursachen des Faschismus zu bekämpfen? Warum demonstrieren wir für mehr Geld für Bildung, anstatt das gegenwärtige Verständnis von Bildung grundsätzlich in Frage zu stellen?
Warum unterwerfen sich zu viele dem Karrierestreben und nehmen Bildungseinrichtungen nur als Durchlauferhitzer für ihre Profilierung auf dem Arbeitsmarkt wahr, um am Ende ein bedrucktes Stück Papier als Zeugnis ihrer angeblichen Leistungen in den Händen und dem zukünftigen Arbeitgeber unter die Nase halten zu können?
Warum ignorieren wir die multiplen Krisen, die unsere Art zu leben immer mehr als Betrug entlarven und der Menschheit als solcher zum verheerenden Verhängnis werden können? Im Bewusstsein der meisten meiner Altersgenossen scheinen diese Krisen nämlich nicht zu existieren. Und wenn sie doch einmal wahrgenommen werden, verlässt man sich darauf, dass „schon alles gut“ werde und andere sich darum kümmern. Wenn sich Erwachsensein als Übernahme von Verantwortung definiert, wie erwachsen können solche Menschen dann sein?
Wenn Kant die Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit bezeichnet, wie nachhaltig hat diese Aufklärung dann gewirkt? Wo sind die Erben der 68er Revolution, wo sind ihre heutigen Unterstützer, wo sind all jene, die sie fortsetzen und weiterdenken?
Ist eine Revolution überhaupt noch durchführbar oder sind die gegebenen Verhältnisse zu sehr zementiert, sowohl in der politischen Wirklichkeit als auch in den Köpfen? Muss sich die 68er Generation vorwerfen lassen, ihr Potenzial verschenkt zu haben, oder betrifft die Kritik vielmehr uns, die wir uns der Verantwortung für unser Leben und unsere Welt entziehen?
Und zu guter Letzt: Wer, abgesehen von mir, interessiert sich für die Antworten auf all diese Fragen?
Redaktionelle Bemerkung:
Für diese Fragen interessieren sich eine Menge Leute, wie der große Ansturm von Leserbriefen an unsere Redaktion gezeigt hat. Es handelt sich um brisante Fragen, über die das Nachdenken lohnt. Und weiteres Feedback ist noch immer gern gelesen!