Betrachten wir die Sache nüchtern. Der INF-Vertrag wurde 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossen, unterzeichnet von US-Präsident Ronald Reagan und Michael Gorbatschow, damals noch Generalsekretär der KPdSU, später Staatspräsident der Sowjetunion.
Der Vertrag war ein Kind der damaligen Entspannung. Die Entspannung resultierte aus dem Niedergang der Sowjetunion, damals als Öffnung wahrgenommen, bei gleichzeitigem, mit dem Niedergang der Sowjetunion verbundenen Aufstieg der USA. Man erinnere sich an Schriften wie die Francis Fukuyamas (1), der – beflügelt vom „Sieg“ der amerikanischen Kultur über den Kommunismus – vom „Ende der Geschichte“ träumte. Oder man vergegenwärtige sich die etwas seriösere Bestandsaufnahme der Situation durch den langjährigen strategischen Berater diverser US-Präsidenten, Zbigniew Brzezinski, unter dem Tenor „Die einzige Weltmacht“ (2).
Dem INF-Vertrag gingen eine Reihe Verträge zur globalen Begrenzung atomarer Bedrohung wie SALT I von 1972, der ABM-Vertrag 1972 oder SALT II von 1979 voran (3), die der Herstellung des globalen Kräftegleichgewichtes dienen sollten. Vor diesem Hintergrund war der 1987 geschlossene INF-Vertrag zwischen den in gegenseitiger Abschreckung stabilisierten großen Atommächten USA und Sowjetunion ein politisches Geschenk an Europa, dem dadurch die Angst genommen wurde, im „kleinen Konflikt“ zwischen den beiden Großmächten zum lokalen Austragungsort des global nicht geführten Atomkriegs oder zumindest zum Stationierungsfeld nuklear bestückter Mittelstreckenraketen zu werden.
Darauf folgende Verträge unter dem Titel START I 1991 und START II 1993, die eine weitere Verringerung der Bestände landgestützter Interkontinentalraken beinhalteten (4), ergänzten den globalen Schirm, unter dem der INF-Vertrag lokal galt.
Tatsachen anschauen
Zu erinnern ist jedoch, dass der Rüstungswettlauf nie aufgehört hat. Er hat nur die Form gewechselt. Schon der durch die SALT- und START-Verträge scheinbar erreichte Gleichstand in der gegenseitigen Abschreckung wurde durch die Tatsache, dass see- und luftgestützte Systeme von diesen Verträgen ausgenommen waren, im Kern relativiert. Das hieß, dass der Rüstungswettlauf auf die in den Verträgen nicht mit eingeschlossenen Nebensysteme verlagert wurde. Dies nützten vor allem die USA.
Es reicht hier, auf die Flotte der US-Flugzeugträger hinzuweisen, die auf allen Weltmeeren, vor allem rund um Eurasien, unterwegs ist. In dieser Sphäre wurden seitens der USA massive Bemühungen unternommen, durch Entwicklung von taktisch einsetzbaren Raketensystemen die „Zweitschlags-Kapazität“ Russlands zu unterlaufen, um damit atomare Angriffe möglich zu machen, oder zumindest mit deren Möglichkeit politische Erpressung zu betreiben.
Die diversen Verträge, SALT, START, ABM und – was die Europäer betrifft – nicht zuletzt der INF-Vertrag schürten so die Illusion der Sicherheit, während tatsächlich kontinuierlich über die Jahre daran geforscht und gearbeitet wurde, Erstschlags-Kapazitäten unterhalb der vereinbarten Grenzwerte aufzubauen, die einen Gegenschlag unmöglich machen würden.
Letzte Stationen dieser Art der Aufrüstung sind für die USA mit der Sicherheitsstrategie unter Barack Obama und verstärkt in mehreren Schüben seit dem Antritt von Donald Trump zu beschreiben (5). Russland sah sich angesichts der Osterweiterung der NATO und der EU sowie der Reihe „bunter Revolutionen“ im ehemaligen sowjetischen Raum genötigt, darauf seinerseits mit eigenen „Sicherheitskonzepten“ und einer entsprechenden Aufrüstung zu antworten (6).
Die Bedeutung der in den siebziger und achtziger Jahren installierten strategischen Trägersysteme, ganz zu schweigen von der Bedeutung der landgestützten Mittelstreckenraketen, wurde weiterhin durch die Entwicklung neuer Waffengattungen relativiert: Modernisierungen der Atomsprengköpfe, Bewaffnung der see- und luftgestützten „Plattformen“ mit nuklearen Sprengköpfen, Entwicklung konventionell bewaffneter Marschflugkörper, die auch nuklear bestückt werden können, Drohnen. Diese Reihe führt bis zu den Cyber- und Hyperschall-Waffen, die neuerdings entwickelt werden. Viel Aufregung verursachten jene, die Wladimir Putin Ende des Jahres 2018 vorstellte.
Ergänzend zu diesem ganzen Arsenal der beiden großen Atommächte kamen in den zurückliegenden Jahren landgestützte Mittelstreckenraketen jener Atomstaaten hinzu, die 1987 bei Abschluss des INF-Vertrages nicht Vertragspartner waren, die zu der Zeit teils noch nicht einmal über entsprechende Systeme verfügten, wie China, Indien, Pakistan, Israel oder Nordkorea. Ihre Systeme liegen bis heute außerhalb des INF-Vertrages.
Die inzwischen entstandene Diversität kriegsbereiter Waffensysteme soll hier nicht weiter aufgezählt werden. Wer sich für Einzelheiten interessiert, dem sei eine aktuelle Analyse aus der Werkstatt der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ empfohlen (7). Entscheidend ist, dass die Vielzahl der Neuentwicklungen strategischer und taktischer, land-, see-, luft- und weltraumgestützter Waffengattungen und Trägersysteme sowie die Vielzahl der über solche Systeme verfügenden Länder inzwischen eine Grauzone zwischen nuklearen und konventionellen, zwischen strategischen und taktisch einsetzbaren Waffen entstehen lässt, die sich einer effektiven gegenseitigen Kontrolle zunehmend entzieht.
Als Veranschaulichung für die gemischten Systeme dieser Grauzone, die die Vereinbarungen des INF-Vertrages heute übersteigen, seien nur drei Beispiele genannt: die Stationierung von NATO-Abschussrampen in Rumänien und Polen, die nach Ansicht der USA und der NATO nicht unter den INF-Vertrag fallen, von denen aus aber problemlos Moskau erreicht werden könnte. Zu erwähnen sei auch die Beschießung syrischer und afghanischer Stellungen durch Marschflugkörper von US-Flugzeugträgern aus dem Mittelmeerraum, andererseits die Beschießung syrischer IS-Stellungen durch russische Mittelstreckenraketen vom Kaspischen Meer aus mit Reichweiten über 1.500 Kilometern (8).
Eine Aktualisierung bestehender Rüstungskontrollverträge ist also absolut überfällig.
Was folgt?
Damit sind wir bei der Frage, ob der INF-Vertrag reformierbar ist und was aus seiner Kündigung folgen könnte. Zur Beantwortung dieser Frage muss noch einmal zurückgeblättert werden: So wie der INF-Vertrag vor dreißig Jahren als Geschenk an Europa ging, so wird Europa dieses Geschenk heute entzogen. Was wir gegenwärtig erleben, ist die Zerstörung der dreißig Jahre währenden europäischen Illusion, sich unterhalb des Wettrüstens in einem Schutzraum vor der atomaren Bedrohung wegdrücken zu können. Das geschieht heute – im Gegensatz zu 1987 – in einer Zeit, die charakterisiert wird durch den Niedergang der USA und das Heraufkommen neuer Mächte aus den ehemals von Europa und zwischenzeitlich zunehmend von den USA kolonisierten Teilen der Welt.
Zwar sind einige von ihnen – China, Indien, Pakistan, Südkorea, Nordkorea und Israel – mit ihren landgestützten Systemen inzwischen in den Kreis der Atommächte aufgerückt. Hauptkonkurrenten sind jedoch mit Abstand nach wie vor die USA und Russland, in deren Händen sich nach Angaben des Friedensforschungsinstitutes SIPRI immer noch 90 Prozent des nuklearen Potentials befinden (9). Damit ist Russland, trotz seines Niederganges nach der Auflösung der Sowjetunion, heute Hauptgegner im Kampf der USA um die Erhaltung ihres Imperiums.
Anders ausgedrückt: Russland rangiert aus dieser Position heraus nolens volens als Schutzmacht, besser gesagt vielleicht als Frontmacht für die Völker und Staaten, die sich der Aufrechterhaltung der US-Hegemonie widersetzen.
In dieser Situation ist die Kündigung des INF-Vertrages im Wesen nichts anderes als ein Teil der Fraktionierungspolitik, das heißt der Anwendung des alten imperialen Prinzips von Teile und Herrsche, mittels dessen die USA heute ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten trachten. Die Auflösung des vom INF-Vertrag versprochenen Schutzraumes Europa ist vor diesem Hintergrund faktisch nichts anderes als der Versuch, Europa – konkret die Europäische Union und Russland – weiter als in den letzten Jahren schon geschehen gegeneinander in Stellung zu bringen und damit beide zu schwächen. Damit hätten die USA sich gleich zwei Konkurrenten vom Hals geschafft.
Wie weiter?
Was bleibt zu tun, wenn der vermeintliche Schutzraum wegfällt? Sich für die Erhaltung des Vertrages einsetzen? Ihn ausweiten auf alle Länder, die landgestützte Potenziale unterhalten? Seine ersatzlose Streichung hinnehmen?
Keine dieser Varianten hält einer Realitätsprobe stand:
Den Vertrag zu erhalten, so wie er als Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion seinerzeit geschlossen wurde, käme der Erneuerung der geplatzten Illusion gleich. Das gälte auch, wenn jetzt gegenseitige Kontrollen zwischen den USA und Russland über die Einhaltung des Vertrages vereinbart würden und selbst wenn die NATO eine Kontrolle der in Rumänien und Polen stationierten Abschussrampen zugestände. Europa, die EU wäre in dem Falle nicht Vertragspartner, das heißt Europa bliebe wieder, wie schon 1987, als Objekt außen vor.
Den Vertrag auf alle Länder ausweiten zu wollen, die inzwischen über landgestützte Mittelstreckenstreckenraketen verfügen oder zurzeit danach streben, scheitert an den Staaten, deren Potential wesentlich auf landgestützten Systemen beruht. China beispielsweise wäre erst dann bereit, sich einem solchen Vertrag anzuschließen, wenn zuvor die interkontinentalen Langstreckenpotenzen – allen voran diejenigen der USA, aber auch die Russlands – abgebaut würden.
Das ist eine klare Logik, denn ein einseitiger Abbau von landstützten Mittelstreckenraketen bei Beibehaltung der interkontinentalen Suprematie der USA und Russlands käme einer nuklearen Entwaffnung und Unterordnung Chinas gleich. Das ist von Peking nicht zu erwarten. Aus Chinas Sicht müsste vor jeder Ausweitung nuklearer Kontrolle nach Art des INF mit der Reduzierung der interkontinentalen Potenzen begonnen werden (10). Ähnliches gilt notwendigerweise für die anderen, kleineren Atommächte.
Bleibt also die ersatzlose Streichung des Vertrages. Das wäre angesichts der realen Bedeutungslosigkeit und Überholtheit des Vertrages im strategischen Kräfteverhältnis eigentlich kein Problem – wenn seine Abschaffung nicht zum Vorwand für eine neue Runde sozusagen eines „kleinen zusätzlichen“ Rüstungswettlaufs genommen werden könnte, dessen einziger erkennbarer Zweck dann die Vertiefung der Konfrontation zwischen EU und Russland wäre mit dem Ziel, Russland ebenso wie seinerzeit die Sowjetunion totzurüsten und Europa in der Konfrontation mit Russland zu erschöpfen.
Zu fordern wären:
- eine Umwandlung des bilateral zwischen den damaligen Großmächten Sowjetunion und USA geschlossenen INF-Vertrages in einen Rüstungskontrollvertrag zwischen Russland und der Europäischen Union, statt zwischen Russland und den USA. Er hätte die Aufstellung von landgestützten Mittelstreckenraketen zwischen Russland und der Europäischen Union zu untersagen und unter ein klares Kontrollregime dieser beiden Kräfte zu stellen.
- Initiativen der deutschen Bundesregierung in Brüssel und über Brüssel hinaus, die in die Vereinten Nationen zur Erneuerung der allgemeinen Rüstungsbeschränkungen eingebracht werden. Gelegenheit dazu gibt das START-II-Abkommen zwischen den USA und Russland zur Begrenzung strategischer Interkontinentalraketen, das 2021 ausläuft. Es muss erneuert und um weitere Partner und um die Erfassung neuer Waffensysteme ergänzt werden.
Es ist klar, dass eine solche Politik nur möglich ist, wenn eine engagierte Friedensbewegung der mit der Kündigung des INF-Vertrages verbundenen Feinderklärung gegenüber Russland aktiv entgegenwirkt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe dazu: Kai Ehlers, Betrachtungen zur neuen Unordnung in unserer Welt: https://kai-ehlers.de/2003/01/ortsbestimmung-betrachtungen-zur-neuen-unordnung-unserer-welt/
(2) Siehe dazu Nachruf zu Brzezinski: https://kai-ehlers.de/2017/05/sbigniew-brzezinskis-erbe-der-andere-nachruf/
(3) Kurze Übersicht zu den hier zitierten Verträgen: https://www.fr.de/politik/wichtigsten-vertraege-begrenzung-atomwaffen-11727968.htm
(4) a.a.O.
(5) Siehe dazu: Kleiner Service zur aktuellen „Sicherheitsstrategie“ der USA, https://kai-ehlers.de/2017/12/kleiner-service-zur-aktuellen-nationalen-sicherheitsstrategie-der-usa-vom-dez-2017/
(6) Skizze dieser Entwicklung unter: https://kai-ehlers.de/2017/12/russland-eu-nato-ist-frieden-moeglich/
(7) Siehe zum Thema der „Grauzonen“ die sehr aufschlussreiche Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik: https://www.swp-berlin.org/publikation/der-inf-vertrag-vor-dem-aus/
(8) a.a.O.
(9) SIPRI Yearbook 2018: https://www.sipri.org/sites/default/files/2018-06/yb_18_summary_en_0.pdf
(10) Chinas Position zum INF-Ausstieg: https://www.dw.com/de/warum-china-keinen-neuen-inf-vertrag-will/a-47350873