Ich beginne mit einem Zitat, das Sie vielleicht allmählich nicht mehr hören können:
„Deutschland und Israel sind und bleiben auf besondere Weise durch die Erinnerung und das Gedenken an die Shoah verbunden. Hierin liegt auch die bleibende Verantwortung Deutschlands (...). Die einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind und bleiben einer der entscheidenden Grundpfeiler der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Der besondere Wert der heutigen deutsch-israelischen Beziehungen liegt darin, dass Deutschland mit Israel den einzigen Sicherheitspartner im Nahen Osten hat, der europäische Werte lebt. Israels Existenzrecht und Sicherheit sind für uns nicht verhandelbar. Der Deutsche Bundestag bekräftigt das Bekenntnis von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei ihrer Rede vor der Knesset im März 2008: Das Eintreten für die sichere Existenz Israels ist Teil der 'deutschen Staatsräson' und 'niemals verhandelbar'. Dies verleiht den Beziehungen zwischen den beiden Staaten einen einmaligen Charakter.“
Diese Erklärung, die im April 2018 von einer großen Koalition —ohne die LINKEN — im Bundestag anlässlich des siebzigsten Jahrestages der Gründung des Staates Israel abgegeben wurde, formuliert den Basso continuo der deutschen Israelpolitik, wie sie seit den Zeiten Adenauers in wechselnden Worten bis heute Bestand hat.
Hinzu kommt bei festlichen Anlässen regelmäßig die (wörtlich) „Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden — einem jüdischen und demokratischen Staat Israel und einem unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staat“. Doch wird sogleich hinzugefügt, dass dies die notwendige Voraussetzung für die nachhaltige Sicherheit Israels sei.
Es ist immer der israelische Blick, den man sich zu eigen gemacht hat und mit dem man auf diesen Konflikt schaut. Dass man von diesem Ziel heute weiter entfernt ist als vor 70 Jahren, dass der eingeschlagene Weg offensichtlich der falsche war und sich an den Grenzen Israels unter seiner Hoheit eine menschliche Tragödie entwickelt hat, passt natürlich nicht in einen Geburtstagsgruß oder einen Gedenktag. Sie hat allerdings in den Jahrzehnten deutscher Israelpolitik nie einen besonders dringlichen Handlungsdruck erzeugt, es sei denn den für humanitäre Hilfeleistungen, um die Situation für die palästinensische Bevölkerung erträglicher zu machen.
Israelpolitik unter Konrad Adenauer
Die Monstrosität von Auschwitz, dieser Zivilisationsbruch des Völkermords hat offensichtlich beiden Gesellschaften in Israel und Deutschland die Begriffe und die Fähigkeit genommen, darüber zu reden. Man griff zu den nichtssagenden Formeln der „besonderen Verantwortung“, der „einzigartigen Beziehungen“ der „Unverhandelbarkeit“ und „Staatsräson“ und als Ersatz zum handfesten Ablasshandel einer Entschädigung, um über die Sprachblockade hinwegzukommen. Man ließ die Geschichte ruhen, um nicht die Lehren für die sich auftürmenden Probleme mit dem neuen Staat ziehen zu müssen.
Was man seinerzeit aber offensichtlich nicht bedachte, nicht voraussehen konnte, dass sich dieses Schweigen zu einem Tabu in den Beziehungen zwischen Juden und Deutschen ausweitete. Dieses Tabu wuchs sich zu einer Unfähigkeit der Auseinandersetzung zwischen den beiden Regierungen, aber auch weiten Teilen der Gesellschaften derart aus, dass sich bis heute kein vernünftiges, rationales und normales Verhältnis entwickeln konnte.
Diese Blockade zwischen den Opfern und den Tätern sowie ihren Nachkommen ließ offensichtlich nur ein Bekenntnis, eine Selbstverständlichkeit zu: „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg“ oder wie Adorno den moralischen Imperativ für die Menschen nach Auschwitz formulierte, ihr „Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“. Bis Palästina reichte dieses Bekenntnis allerdings nicht.
Und so wurde Adornos Satz: „Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral“, zur Devise der deutsch-jüdischen Aufarbeitung von Schuld, Sühne, Barbarei und Abscheu, zur materiellen und finanziellen Entschädigung. Adenauer erfüllte sie nach zähen Verhandlungen im eigenen Kabinett mit dem Luxemburger Abkommen vom 10. September 1952, in dem er der Jewish Claims Conference drei Milliarden Mark zusprach. Das Abkommen mit Israel habe „auf einer zwingenden moralischen Verpflichtung“ beruht, schrieb er in seinen Memoiren, „es gibt Höheres als gute Geschäfte“. Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts fanden 44 Prozent der Bundesbürger Wiedergutmachungszahlungen an Israel überflüssig.
Doch es war noch etwas anderes, welches Adenauer zur Verhandlung zwang und welches bis heute die deutsche Israelpolitik bestimmt. Kabinettsprotokolle, die erst 1982 freigegeben wurden, deuten an, dass Adenauer wohl nur auf Druck der USA zu den Wiedergutmachungsverhandlungen bereit gewesen war.
Er selbst hatte in einer Kabinettsitzung im Juni 1952 auf das Verhältnis zu den USA verwiesen: Der „ergebnislose Abbruch von Verhandlungen würde die schwersten politischen und wirtschaftspolitischen Gefahren für die Bundesrepublik heraufbeschwören“. In einem Interview mit Günter Gaus fügte er 1966 hinzu:
„Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen. Und daher habe ich sehr überlegt und sehr bewusst — und das war von jeher meine Meinung — meine ganze Kraft daran gesetzt, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk.“
Es herrschte Kalter Krieg und in der Neuordnung der Welt ging es für Adenauer um die Position Deutschlands, die es einnehmen würde. Westdeutschland als Bastion des Westens und Israel als Vorposten gegen die arabische Welt. Das erforderte ein ungestörtes Verhältnis zu dem neuen Staat. Die Finanzierung des zionistischen Staatsprojektes war der Preis für die Unbedenklichkeitslizenz zur Wiederaufnahme in die Weltgesellschaft.
Palästina und seine Einwohner spielten darin keine Rolle. Das hatte nichts mit Moral zu tun, sondern mit der Materialisierung von Schuld, Schande, Scham und Sühne durch das Handelsprinzip, welches eben alles zur Tauschware macht.
Was aber in diesen frühen Zeiten als Basis der Beziehungen der Bundesrepublik zu Israel gelegt worden war, wurde dann — angepasst an die jeweiligen zeitlichen Bedingungen — auch Grundmuster für die Beziehungen in den folgenden Jahrzehnten und hat sich bis heute erhalten.
Zu diesem Handel gehörten auch die Waffenlieferungen, die bis 1964 geheim gehalten wurden. Franz Josef Strauß lies damals, um die Spuren zu verwischen, die Waffen aus Bundeswehrbeständen als gestohlen melden. Die Israeli revanchierten sich mit Informationen über sowjetische Waffentechnik, die sie aus Kriegsgerät bezogen, das sie von den Arabern erbeutet hatten. Sie entsprachen auch der Bitte Adenauers, in dem im April 1961 eröffneten Prozess gegen Adolf Eichmann die Rolle weiterer deutscher Spitzenbeamter nicht zu erwähnen, die wie Kanzleramtschef Hans Globke schwer durch ihre NS-Vergangenheit belastet waren.
Willy Brandt
Für die nachfolgende sozial-liberale Regierung unter Willy Brandt ab 1969 war ein gutes Verhältnis zu Israel gleichfalls Grundlage auch ihrer Politik. Brandt hatte immer wieder die bleibende historische Verantwortung Deutschlands für den Völkermord der Nazis an den europäischen Juden betont. Das war für den Journalisten Brandt, der in den dreißiger Jahren die Norweger über die Entwicklung in Nazideutschland unterrichtet hatte, selbstverständlich. Im Bundestag hatte er 1953 mit der ganzen SPD-Fraktion für das von Adenauer unterzeichnete Luxemburger Abkommen über „Wiedergutmachungsleistungen“ an Israel gestimmt.
Allerdings kam mit seiner „neuen Ostpolitik“ und der Wiederaufnahme der Beziehungen zu den arabischen Staaten Anfang der 1970er Jahre ein neues Element hinzu, welches bei der israelischen Regierung auf erhebliches Misstrauen stieß. Premierministerin Golda Meir empfand das als eine Herabstufung der deutsch-israelischen Beziehungen.
Als die palästinensischen Attentäter von München 1972, denen elf israelische Sportler zum Opfer gefallen waren, schon bald entlassen wurden, kühlte das Verhältnis zwischen den beiden Regierungen merklich ab. Zudem lagen die Vorstellungen über die Voraussetzungen für einen Frieden im Nahen Osten doch weit auseinander, wie sich 1973 bei Brandts erstem Staatsbesuch herausstellte.
All diese belastenden Faktoren mögen dazu beigetraten haben, die neutrale Haltung der Bundesrepublik im Jom-Kippur-Krieg aufzugeben, und heimlich militärisches Gerät der Bundeswehr an Israel zu liefern, um die Beziehungen wieder zu stabilisieren. Auch duldete die Bundesregierung geheime Nachschublieferungen der USA über das Territorium der Bundesrepublik. Als die Presse jedoch über die Verladung der Waffen in Bremerhaven auf Frachter unter israelischer Flagge berichtete, verlangte Brandt unter Hinweis auf die deutsche Neutralität den sofortigen Stopp dieser Aktivitäten. Und sofort geriet er wieder unter heftige Kritik aus Israel und den USA.
Das Jahr 1973 markiert durchaus einen Wendepunkt in der internationalen Wahrnehmung des Nah-Ost-Konfliktes. Der militärische Sieg Israels hat sich nicht in einer Stärkung seiner politischen Position ausgezahlt. Die Stimmen in der internationalen Politik werden vernehmbarer, die auch für die Anerkennung der legitimen Rechte des palästinensischen Volkes eintreten, und Brandt schließt sich ihnen an. 1979 trifft er zum ersten Mal, nun als Präsident der Sozialistischen Internationale, Yassir Arafat, und erntet wieder heftige Kritik, diesmal von Shimon Perez und Jitzhak Rabin von der israelischen Arbeitspartei.
Diese Kritik dauert nun erstaunlicherweise bis in unsere Tage, wieder angefacht 2013 nicht von Jerusalem, sondern von München aus durch eine Stimme, die man allerdings durchaus als Außenposten der israelischen Regierung bezeichnen kann. In einem langen Artikel in der Zeitung Die Welt vom 9. Juni 2013 wirft Michael Wolffsohn, ehemaliger Professor an der Bundeswehruniversität in München, Willy Brandt vor, er hätte damals den verlustreichen Krieg vom Oktober 1973 verhindern können.
„Ohne diesen Waffengang, in dem Ägypten und Syrien (...) beinahe Israels Existenz ausgelöscht hätten, wäre die erste globale Ölkrise der Jahre 1973/74, wenn überhaupt, später ausgebrochen.“
Und eine Woche später in derselben Zeitung:
„Mehr noch: Nach 1973 schüttete er, gemeinsam mit österreichischem (! — M.W.) und antizionistischem Bundeskanzler Bruno Kreisky Öl ins antiisraelische Feuer und hofierte PLO-Führer Jassir Arafat, dessen Organisation das Münchner Olympiamassaker von 1972 zu verantworten hat“ (1).
2018 legt Wolffsohn nach in seinem Buch „Friedenskanzler? Willy Brandt zwischen Krieg und Terror“. Er wirft ihm generell vor, Israel als Störfaktor wahrgenommen zu haben und grundsätzlich kein großes Interesse an engen Kontakten zu Israel gehabt zu haben. Er habe die Friedensinitiative Golda Meirs vor dem Krieg ins Leere laufen lassen. Ihre Bitte, dem ägyptischen Präsidenten Anwar as Sadat persönlich zu übermitteln, dass sie Frieden wolle und bereit sei, territoriale Zugeständnisse zu machen, habe er an das Auswärtige Amt delegiert, dessen Emissär scheitern musste. Golda Meir habe auf den Falschen gesetzt, Brandt sei prinzipiell nicht bereit gewesen zu vermitteln. Dies hätten neu erschlossene Dokumente aus Deutschland und Israel ergeben.
Wolffsohn macht für dieses Desinteresse Brandts den Zustrom aus der außerparlamentarischen Opposition von 1968 in die SPD verantwortlich, die zionismusfeindlich gewesen sei und dem Staat Israel kritisch und skeptisch gegenübergestanden habe.
Es hat natürlich sofort aus der Willy Brandt Stiftung Kritik an den Thesen Wolffsohns gegeben. Aber wie immer die historische Wahrheit nun aussieht, wichtig für die deutsche Außenpolitik war die Erkenntnis, dass die ganze Welt der NATO 1967 noch vollkommen ohne Vorbehalte im Krieg hinter Israel stand, nach dem Oktober-Krieg 1973 aber schon nicht mehr.
Im November 1973 verabschiedete die EG eine Nahost-Erklärung, in der die neun Staaten die Forderung vertraten, dass „bei der Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens die legitimen Rechte der Palästinenser berücksichtigt werden müssen“. Eine Selbstverständlichkeit, die jedoch Golda Meir auf der Londoner Konferenz der Sozialistischen Internationale als „sehr negativ“ kritisierte, „da nach arabischer Lesart der Begriff Palästina die Auslöschung des Staates Israel bedeute“. Brandt antwortete ihr damals ganz defensiv, warnte sie aber vor einem „Isolierungskomplex“. Die Erklärung ließe doch offen, dass Israel militärisch besetzte Gebiete in zivil administrierte Gebiete verwandle, man müsse aber dafür sorgen, dass die Palästinenser wieder eine Heimat fänden.
Die Alternativen, vor die sich die deutsche Außenpolitik gestellt sah, war von nun an klar. Entweder versuchte man, die von der UNO und dem Völkerrecht verbürgten Rechte der Palästinenser in den Dialog mit Israel einzubringen um den Preis harscher Kritik und „Liebesentzug“, oder man unterwarf sich dem israelischen Diktat „um des lieben Friedens willen“, und reduzierte die Rechte der Palästinenser und Palästinenserinnen auf die Linderung ihrer katastrophalen Situation durch humanitäre Hilfe. Man entschied sich für letztere, wie der Fortgang der Geschichte zeigt.
Helmut Schmidt
Brandts Nachfolger Helmut Schmidt fühlte sich dem israelischen Staat genauso moralisch verpflichtet wie seine Vorgänger. Seine Sympathie für Israel erklärte er viel später mit der Aussichtslosigkeit eines dauerhaften Friedens zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn. 1966 waren er und seine Frau Loki schon halboffiziell in Israel gewesen und hatten Gespräche mit Gewerkschaftsvertretern und Mitgliedern der Mapai — seit 1968 Arbeitspartei —, vor allem dem damaligen Außenminister Abba Eban und der Generalsekretärin Golda Meir geführt. Im selben Jahr war er Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft geworden. Allerdings kühlten sich die Beziehungen zu Israel nach dem Jom-Kippur-Krieg international merklich ab und auch Schmidt ging auf Distanz, in die „innere Neutralität“, wie er es nannte.
Das lag zum einen an der Person des rechtsnationalistischen Menachem Begin, 1977 Nachfolger von Rabin. Mit ihm verband ihn politisch und emotional wenig. Begin war von der Kollektivschuld der Deutschen überzeugt, was Schmidt ablehnte. Vor allem waren es aber die Differenzen über den Umgang mit den Palästinensern.
Als Begin Schmidt unter Vermittlung von Axel Springer bat, sich nicht öffentlich zu bestimmten Fragen des Friedensprozesses, wie zum Beispiel die Siedlungspolitik in den 1967 eroberten und besetzten Gebieten zu äußern, wies das Schmidt zurück. In einem Interview mit der Jerusalem Post vom 22. Juni 1980 sagte er, er glaube nicht, dass das schlechte Gewissen der Deutschen die Basis für die Unterstützung Israels durch die Bundesrepublik sein solle. In einem Interview mit Allon zum Ende der Rabin-Regierung äußerte Schmidt:
„Das deutsche Volk habe noch Sympathien für Israel, aber weniger als früher wegen der Westbank und dem Golan.“
Das war zweifellos richtig, stärkte aber nicht die Sympathien für Schmidt in Israel. In den Siedlungen sah er die größten Hindernisse für einen Frieden. Er warnte sogar, dass Israels Siedlungspolitik eine Kriegsgefahr heraufbeschwöre. Begin konterte, dass Deutsche, die für den Mord an sechs Millionen Juden, darunter eineinhalb Millionen jüdischen Kindern verantwortlich seien, kein Recht hätten, Israel Ratschläge zu erteilen.
Er lehnte auch den Beschluss, die PLO an den Verhandlungen zur Lösung des Konflikts zu beteiligen — eine deutsch-französische Initiative auf dem Gipfel in Venedig im Juni 1980 — kategorisch ab. Es lief also wenig zwischen den beiden Regierungschefs. Schmidt lehnte es auch ab, einen Gegenbesuch als Kanzler auf den Besuch Rabins im Jahre 1975 nun bei Begin zu machen. Und diesem wiederum behagten so gar nicht die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Saudi-Arabien, die Schmidt mit Reisen nach Abu Dhabi und Riad pflegte.
Saudi-Arabien bezeichnete er neben den USA und Europa als den wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Partner und fügte diplomatisch nicht sehr feinfühlig hinzu, dass im Gegensatz zu dem „ganzen moralisch-historischen Gepäck“, das mit Auschwitz verbunden sei und die gegenwärtige deutsche Generation sowie die deutsche Außenpolitik gegenüber verschiedenen europäischen Ländern belaste, die „arabischen Völker so ziemlich die einzigen (seien), die mit den Deutschen keine negativen Erfahrungen gemacht haben“.
Auch das war richtig, genauso wie das, was er dann anfügte, dass man als Deutsche, die den Anspruch auf Selbstbestimmung des deutschen Volkes erheben, auch den moralischen Anspruch des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung einschließlich des Rechtes auf eine staatliche Organisation anerkennen müsse (2). Das war Begin zu viel, er griff zur Keule und kritisierte Schmidts Habgier in seinen Geschäften mit den Saudis, warf ihm seine Loyalität zu Hitler als Offizier der Wehrmacht vor und fragte ihn, was er denn mit den Juden an der Ostfront getan habe (3). Und Begin bekam Beifall in Israel. Da half es Schmidt auch nicht, dass er den angestrebten Verkauf von Leopard-2-Panzern und anderem militärischen Gerät an Saudi-Arabien verhindern konnte. Diese Panzer wurden dann einige Jahre später von der Kohl-Regierung verkauft.
Schmidt hatte durchaus Fürsprecher und Sympathisanten in Israel, wie Abba Eban oder Shimon Peres, den Vorsitzenden der Arbeitspartei, oder Nachum Goldmann, den langjährigen Präsidenten des World Jewish Congress, mit dem er die Restsumme der Wiedergutmachungszahlungen aushandelte, die schließlich auf 400 Millionen D-Mark festgesetzt wurden. Er blieb bei seinen kritischen Positionen bezüglich der Zukunft der Westbank, der israelischen Siedlungspolitik, des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser und Israels zukünftiger Grenzen.
Wenn er auch die schwierige Lage Israels innerhalb einer — selbstverschuldeten — feindlichen arabischen Umgebung sah, wollte er die langjährige Besetzung der 1967 eroberten Gebiete nicht akzeptieren und kritisierte die totale politische und strategische Abhängigkeit Israels von den USA.
Schmidt kritisierte die israelische Politik offen, so offen, wie noch keine Regierung vor ihm. Er riskierte die Belastung der Beziehungen, wie kein Kanzler vor ihm. Die israelische Politik ändern konnte er dennoch nicht. Das lässt allerdings nicht den Schluss zu, dass freundlichere und harmonischere Beziehungen mit der israelischen Regierung den Friedensprozess wirksamer voranbrächten. Erst unter Schmidts Nachfolger Helmut Kohl wurden die Beziehungen zur israelischen Regierung wieder besser, dem Friedensprozess haben sie jedoch auch nicht entscheidend geholfen.
Helmut Kohl
Kohl war erst der zweite Kanzler, der nach Willy Brandts Besuch 1973 Israel im Jahr 1984 besuchte. Die Beziehungen standen noch ganz unter der heftigen Konfrontation Schmidts mit Begin und außerdem hatte Kohl gerade die Waffen an Saudi-Arabien verkauft, die Schmidt zuvor zurückgehalten hatte. Damals präsentierte Kohl seinen Gastgebern in der Knesset auch noch die berüchtigte Formel von der „Gnade der späten Geburt“, die gar nicht gut ankam. Avi Primor urteilte später:
„Es gab ziemlich viele Missverständnisse zu Beginn. Auf beiden Seiten gab es viele Hemmungen. Aber dann haben sich die Beziehungen so gut entwickelt wie nie zuvor zwischen Deutschland und Israel“ (4).
Die Missverständnisse lagen vor allem daran, dass Kohl sich in Jerusalem auch für die Resolution der EG 1980 in Venedig mit dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser aussprach — als Oppositionsführer hatte er sie noch heftig bekämpft und in der Politik machte er später keinen Gebrauch von ihr. Mit ihm entwickelten sich die Wirtschaftsbeziehungen, die militärische Kooperation mit Rüstungslieferungen und die Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet ohne Probleme.
In den 1993 beginnenden Etappen des sogenannten Friedensprozesses von Madrid und Oslo stand die Bundesregierung fest hinter der israelischen Position. Er traf zwar Arafat in Jericho, für die Palästinenser war das aber so bedeutungslos, dass nicht einmal Wikipedia davon berichtet. „Kohl hat Israel immer Vorrang gegeben“, hat Avi Primor das Kapitel Nahostpolitik treffend umschrieben.
Schröder und Fischer
Damit war das Feld gut bestellt, dass auch die folgenden Regierungen, die rot-grüne Koalition 1998 bis 2005 und die schwarz-rote Koalition 2005 bis 2009, die Politik des Vorrangs Israels weiterführen und vertiefen konnten. Das war eine Politik des stetigen Ausbaus der Wirtschaftsbeziehungen, der Steigerung des Rüstungsexports und der militärischen Kooperation sowie der Festigung der gesellschaftlichen Verbindungen. Und je erfolgreicher die deutsch-israelischen Beziehungen sich entwickelten, desto trügerischer wurden die nicht ausbleibenden Bekenntnisse zur Zwei-Staaten-Lösung, zum Selbstbestimmungsrecht und zur eigenen Staatlichkeit des palästinensischen Volkes.
Alle Versuche der PLO zur Aufwertung des Status von Palästina im Rahmen der UNO wurden hintertrieben, der jüngste Vorstoß des luxemburgischen Außenministers Asselborn, über eine Anerkennung Palästinas zu sprechen, war schon vor dem letzten Außenministertreffen von der Bundesregierung abgelehnt worden. Die Isolation der Hamas und die Blockade des Gazastreifens nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 wurden von der Regierung Merkel/Steinmeier voll mitgetragen. Bei dem verheerenden Überfall Israels auf den Gazastreifen zur Jahreswende 2008/2009 stand Frau Merkel ganz auf der Seite Israels.
Nur einer der mit dem Nahostkonflikt beschäftigten Minister hatte wirkliche Probleme mit seiner Aufgabe: Joschka Fischer, Außenminister in der rot-grünen Koalition seit 1998. In seiner Autobiographie bekennt er, dass er lange gebraucht habe, bis er zu der Nahostpolitik der rot-grünen Koalition gefunden hatte, die „in voller Kontinuität mit der Politik aller bisherigen Bundesregierungen“ stand (5).
Der Sechstagekrieg 1967 und der Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni machten ihn, wie er schreibt, zu einem „Linksradikalen“ und veränderten seine Haltung zu Israel. Die war bis dahin durch den Völkermord und die Erzählungen über den Holocaust geprägt. Nun traten mehr und mehr die Palästinenser und ihr Schicksal in den Vordergrund. „Eine moralische Haltung gegenüber Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Politik“ habe sich bei ihm entwickelt. Sie habe seinerzeit seinen Blick auf die Konfrontation im Nahen Osten verändert. Sein Dilemma allerdings sei das Existenzrecht Israels gewesen, das auch für ihn absolut unantastbar war. Er konnte das damals in der „Vorstellung von einem binationalen Israel, in dem Israelis und Palästinenser friedlich mit gleichen Rechten zusammenleben würden“, auflösen.
Diese, wie er meint „postzionistische Position“, die seinerzeit sehr von der trotzkistischen Gruppe Mazpen beeinflusst wurde, hielt allerdings nur kurze Zeit. Genau bis zur Entführung eines Flugzeugs der Air France durch die Volksfront zur Befreiung Palästinas nach Entebbe in Uganda und die Selektion der jüdischen von den nicht-jüdischen Passagieren durch zwei junge Deutsche — für Fischer die schlimmste Form von Antisemitismus. Für ihn war seitdem klar, schreibt er, „dass Antizionismus letztendlich nichts anderes als Antisemitismus war und wie jeder Antisemitimus im Mord an jüdischen Menschen endete“ (6).
Der palästinensische Terror nahm für ihn seitdem die Rolle des geschichtlichen Movens an, der verantwortlichen Quelle für all das Scheitern der neuen Ansätze im Friedensprozess. Der Terror hatte für ihn das politische Schicksal Baraks besiegelt und Scharon zum Wahlsieger gemacht, wie schon den Wahlkampf von 1996 zu Gunsten Netanjahus entschieden.
Fischer schreibt zwar, dass der anhaltende Gebietsverlust durch den israelischen Siedlungsbau für die zweite Intifada wohl ausschlaggebend war, wirft aber der palästinensischen Führung vor, dass sie „mit ihrer fatalen Entscheidung nahezu völlig die Psychologie der israelischen Seite“ ignoriert habe. Nun sind Landraub und der Widerstand dagegen kein Problem der Psychologie, aber wer fragt überhaupt nach der Psychologie der palästinensischen Seite?
Fischer hatte sich alsbald von seiner Vision eines jüdisch-palästinensischen Staates verabschiedet und illusionslos die Alternative Krieg oder Teilung des Territoriums erkannt. Er konnte zwar nach einem furchtbaren Terroranschlag auf eine Diskothek in Tel Aviv im Juni 2001 während seines dortigen Besuchs zwischen Sharon und Arafat vermitteln und eine weitere Eskalation verhindern. Aber vor den großen Entscheidungen des Nahostkonfliktes kapitulierte auch er und zog sich auf den alten Grundsatz der deutschen Nahostpolitik zurück, keine aktive oder gar eigenständige Rolle spielen, sondern diese den USA überlassen. Er stimmte jeden seiner Schritte mit Colin Powell ab.
Aktuelle Politik
Dies war nun aber nicht nur eine Frage der Diplomatie und Bündnistreue, es war eine klare inhaltliche Entscheidung zugunsten der israelischen Politik, selbst in ihren kriegerischsten und menschenfeindlichsten Varianten, und gegen die Palästinenser. Sie spiegelt die Unfähigkeit der offiziellen Politik wider, in der Fixierung der historischen Schuld auf die Vergangenheit die Größe der Verantwortung in der Zukunft zu erkennen.
Wer die Verantwortung auf die Juden und ihren Staat begrenzt, vergisst, dass das Schicksal der Palästinenserinnen und Palästinenser durch die gleichen Verbrechen in der Vergangenheit bestimmt worden ist.
Die deutsche Politik kann sich nicht ihrer Verantwortung für das jüdische Volk durch den Verzicht des palästinensischen Volkes auf ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben entledigen. Deutschland wird sich so lange nicht von der Hypothek seiner Verbrechen befreien können, wie nicht eine von allen akzeptierte Lösung des Konflikts gefunden wird und Frieden zwischen Juden und Palästinensern herrscht.
Und so müssen wir uns wohl von den Nachkommen der Opfer des Holocausts sagen lassen, was wirklich die Verantwortung der Deutschen ist. Unlängst schrieb die Linguistin und Schriftstellerin Ilana Hammerman, was am 23. Januar in der Wochenzeitung Der Freitag veröffentlicht wurde:
„Wenn Deutschland wirklich Verantwortung für seine Nazi-Vergangenheit übernähme, würde es kompromisslos die Lehren aus dem damaligen Hass auf den Anderen ziehen, aus der rassistischen Gesetzgebung, aus der Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat und dem Gebrauch von Waffengewalt zu diesem Zweck. Und Deutschland würde diese Lehren auch auf die Politik der israelischen Regierung anwenden, anstatt sie zu verdrehen und zu entstellen, um sich an deren Seite zu stellen bis hin zur Diskreditierung aller ihrer Gegner als Antisemiten. Ganz im Gegenteil, die Bundesregierung hätte schon längst ihre führende Rolle in Europa und der Welt nutzen müssen, um Druck auf Israel auszuüben, damit es seine militärische und zivile Kontrolle über jene Gebiete beendet, die im Rahmen aller internationalen Resolutionen einem palästinensischen unabhängigen Staat zuzuweisen sind — und damit schrittweise die Schaffung von Bedingungen für eine friedliche Lösung ermöglicht.“
Bundesregierung und Bundestag haben diese Lehren nicht gezogen. Sie haben sich Jahrzehnte der Politik der israelischen Regierungen untergeordnet und ihre eigene Verantwortung halbiert. Sie konnten keinen Beitrag zum Frieden leisten, da sie die Palästinenser und Palästinenserinnen vergessen haben und glaubten, sie mit finanzieller Hilfe befrieden zu können. Und ich wage die Behauptung, hätten die Bundesregierung und die anderen Regierungen der EU ihre Nahostpolitik konsequent an Menschenrechten und Völkerrecht ausgerichtet, hätten Trump und Netanjahu nicht diese Farce eines Friedensplanes in Washington inszenieren können.
Am gleichen Tag, dem 23. Januar, hat Gideon Levy im Haaretz seine Kritik am Holocaust-Gedenken veröffentlicht:
„Man darf den Holocaust niemals vergessen, klar. Man darf auch nicht die Tatsache verwischen, dass er direkt gegen das jüdische Volk gerichtet war. Aber genau aus diesem Grund darf man auch nicht das Verhalten seiner Opfer zu den weiteren Opfern des jüdischen Holocaust vergessen, das palästinensische Volk. Ohne den Holocaust hätten sie nicht ihr Land verloren und wären jetzt nicht eingesperrt in einem gigantischen Konzentrationslager in Gaza oder würden nicht unter brutaler militärischer Besatzung im Westjordanland leben.
Wenn sie heute bis zum Erbrechen „nie wieder“ zitieren, sollte man seine Augen ehrlicherweise nach Süden und Osten richten, nur einige Kilometer entfernt von der Gedenkstätte Yad Vashem. Da gibt es keinen Holocaust, nur Apartheid. Keine Vernichtung, aber eine systematische Brutalisierung einer Nation. Nicht Auschwitz, aber Gaza. Wie kann man das übersehen an einem internationalen Holocaust-Gedenktag?“
Man kann es übersehen. Die Bundesregierung und der Bundestag haben es jahrzehntelang übersehen, wie jüngst auch der Bundespräsident in seiner kitschigen Rede in Yad Vashem. Darin sagte er:
„Im Erschrecken vor Auschwitz hat die Welt schon einmal Lehren gezogen und eine Friedensordnung errichtet, erbaut auf Menschenrechten und Völkerrecht. Wir Deutsche stehen zu dieser Ordnung und wir wollen sie, mit Ihnen allen, verteidigen.“
Das bleibt gerade an dem Ort, an dem er gesprochen hat, nur hohle Festtagslyrik, die schon im Augenblick, in dem sie gesprochen wird, sich als Lüge entpuppt. Wer in Israel von Menschenrechten und Völkerrecht spricht, darf Gaza und das Westjordanland nicht unerwähnt lassen, die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht vergessen, es sei denn um den Preis, unglaubwürdig zu werden. Aber das ist das Elend der deutschen Nahostpolitik.
Quellen und Anmerkungen:
(1) DIE WELT vom 16. Juni 2013
(2) Interview im Deutschen Fernsehen zum Stand der deutsch-arabischen Beziehungen vom 30. April 1981
(3) Interview im israelischen Rundfunk am 4. Mai 1981
(4) Interview der Deutschen Welle zum Tod von Helmut Kohl vom 17. Juni 2017
(5) Joschka Fischer, Die rot-grünen Jahre, München 2008, Seite 411
(6) ebenda Seite 416
Die Rede wurde auf der Konferenz des Deutschen Koordinationskreises Palästina Israel (KOPI) gehalten, Berlin 31. Januar — 1. Februar 2020.