Helge Timm, Kommandeur eines Leopard-2-Panzers, gibt seinem Richtschützen den Befehl: „Den Turm nach links schwenken. Genau dort ist der Sowjetski Hill.“ Die an der Übung beteiligten Panzer auf dem Truppenübungsplatz Sagan in Westpolen beginnen zu schießen, mit scharfer Munition. Es donnert und raucht.
Das ZDF war bei der Übung „Noble Jump“, bei der deutsche, niederländische, norwegische und polnische Soldaten im Juni dieses Jahres die Abwehr eines Feinds übten, dabei. Aufnahmen von der Übung hat das ZDF in dem Film „Alte Bündnisse — neue Bedrohungen“ verarbeitet.
In dem dramatisch aufgemachten Film hört man aus dem Off: „Der mögliche Feind — Russland“. Und an anderer Stelle: „Bündnis- und Landesverteidigung sind nicht mehr nur ein theoretisches Konstrukt, sondern 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auch für deutsche Soldaten wieder ein denkbares Szenario.“ Erschreckend diese Worte. Der Überfall auf die Sowjetunion war doch ein Angriffs-, und kein Verteidigungskrieg!
Unterwegs auf dem ehemaligen Schlachtfeld
Fast zur gleichen Zeit, als in Polen der Kampf gegen „die russische Bedrohung“ geübt wird, bin ich auf einem ehemaligen Schlachtfeld des Zweiten Weltkrieges 220 Kilometer südwestlich von Moskau unterwegs. Vor der Stadt Wasmja begleite ich 50 Angehörige von damaligen Freiwilligen durch Wiesen und Wälder. Die Väter, Großväter und Urgroßväter der Moskauer, mit denen ich auf Spurensuche bin, haben in dieser Gegend von Juli bis Oktober 1941 zur Unterstützung der Roten Armee gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft.
In einem Tannenwald stoßen wir auf verrostete Anti-Panzer-Granaten und Behälter für Gewehrmunition. Auf einer Wiese finden wir die Stelle, an der die Freiwilligen am 12. Oktober 1941 aus dem Kessel auszubrechen versuchten.
Bild 1: Suche nach den Spuren der Väter und Großväter auf dem Schlachtfeld von Wjasma, Foto: Ulrich Heyden
Die Väter und Großväter der Moskauer, die ich begleite, kämpften als Freiwillige in der 13. Freiwilligen-Division. Der Großteil der Division kam im Kessel von Wjasma um. Die Division wurde im Rostokinski-Bezirk im Norden von Moskau gebildet. Die Freiwilligen waren zwischen 16 und 60 Jahre alt. Viele hatten zuvor in der Fabrik Kalibr gearbeitet, die Messgeräte herstellte.
Die Wehrmacht machte 600.000 Gefangene
Am 7. Oktober 1941 war es der 4. und 9. Armee der deutschen Heeresgruppe Mitte von Süden und Norden kommend gelungen, die Stadt Wjasma zu besetzen. Damit schloss sich ein Kessel um große Teile der Roten Armee, welche den Deutschen bis dahin den Vorstoß nach Moskau versperrt hatten. Nur kleine Gruppen — insgesamt 85.000 Sowjetsoldaten und Freiwillige — schafften es, die Umzingelung zu verlassen.
Zur 13. Division gehörte auch ein Astronom. Dieser Mann war ein typischer Wissenschaftler, eigenwillig und, praktische Dinge des Lebens betreffend, nachlässig. Sein Essgeschirr hatte er in Moskau vergessen. Über den Wissenschaftler erzählte man sich folgende Anekdote: Er war nachts an der Front eingeschlafen. Als man ihn weckte — für Mitternacht war eine Militäroperation geplant — soll der Astronom, nachdem er zu den Sternen geblinzelt hatte, ganz ruhig gesagt haben: „Wir haben noch 15 Minuten“. Der Mann überlebte den Krieg nicht. Er wurde von einer Mine getötet.
Die meisten der Freiwilligen hatten keinerlei militärische Ausbildung. Erst an der Front wurden sie im Schießen und im Aufstellen nach Kommando trainiert. Zum Glück waren auch einige Arbeiterinnen dabei, die in der Fabrik Erste-Hilfe-Kurse belegt hatten und sich um die Freiwilligen kümmern konnten, die den hohen Belastungen bei den langen Märschen an die Front nicht gewachsen waren.
Die Aktiven unter den Angehörigen der Freiwilligen von damals betreuen ein 1956 in der Moskauer Schule Nummer 1.539 eingerichtetes Museum für die Kämpfer der 13. Division. In den letzten Jahren wurden auch an anderen Moskauer Schulen Museen eingerichtet, die an 1941 in Moskau gebildete Freiwilligen-Divisionen erinnern. Außerdem haben die Nachkommen dieser Freiwilligen nicht weit vom Dorf Cholm-Schirkowski, wo ein großer Teil der 13. Freiwilligen-Division umkam, einen Erinnerungspark mit Erinnerungstafeln und selbstgepflanzten Bäumen eingerichtet.
Bild 2: Angehöriger an einer Erinnerungstafel eines Verwandten, der seit der Schlacht von Wjasma verschollen ist, Foto: Ulrich Heyden
Hat Stalin die Soldaten verheizt?
Manche Russland-„Experten“ meinen, Stalin habe Hunderttausende Soldaten und Freiwillige vor Moskau einfach „verheizt“. Viele Soldaten hätten nur gekämpft, weil hinter der Front Bewaffnete standen, die Deserteure erschossen. Doch war es wirklich so?
Ich fragte Artjom Popow, dessen Großvater als Freiwilliger im Kessel von Wjasma gekämpft hatte. Popow, der sehr aktiv in der Erinnerungsarbeit ist, meint, „es gab alles — den ehrlichen Willen zu kämpfen, den Druck der Parteikomitees und die ungenügende Vorstellung davon, was einen an der Front erwartete.“ Die öffentliche Meinung in Russland schwanke leider zwischen zwei Extremen. Die einen meinten, „alle Soldaten waren Helden“, die anderen, „alle wurden an die Front gezwungen“. Dieses Schwarz-Weiß-Denken zeuge von einem ungenügend entwickelten Bewusstsein der russischen Zivilgesellschaft. Oft fehle die Bereitschaft, sich persönlich mit der Geschichte des Krieges zu beschäftigen.
„Wir Aktivisten der Gemeinschaft der Angehörigen der 13. Freiwilligen-Division finden jeden Tag Zeugnisse des Verrats, aber auch des Heroismus“, sagt Popow. So schrieb etwa der Direktor der Moskauer Filmhochschule WGIK, David Fajnschtejn, der selbst als Freiwilliger im Kessel von Wjasma war, in einem Brief vom 2. September 1941 von der Front: „Wenn meine Strapazen und sogar der Tod, ähnlich wie bei vielen mutigen Menschen im Land, euch und unser ganzes Volk von den Barbaren befreien, werde ich glücklich sein zu sterben.“
Artjom Popow, der unsere Reise auf das ehemalige Schlachtfeld vor der Stadt Wjasma organisiert hatte, meint:
„Für mich ist eins offensichtlich: Die Generation, die gekämpft hat, liebte die Heimat, wie sie diese Heimat auch empfunden hat, zärtlich oder hart. Und sehr viele, die sich nur schwer vorstellen konnten, was sie erwartet, waren bereit, sich zu opfern, indem sie sich als Freiwillige für die Front registrieren ließen.“
Die Freiwilligen mussten sich an der Front der militärischen Ordnung fügen. Doch Belege für eine übermäßige Strenge der sowjetischen Kommandeure gibt es nicht.
Im Jahre 2006 fanden Aktivisten, die nach gefallenen Soldaten suchten, im Smolensker Gebiet eine vergrabene Metallkiste, in der sich Dokumente und Stempel sowjetischer Militärstaatsanwälte befanden. Aus diesen Dokumenten ging hervor, dass es in den strafbaren Fällen meist nur um geringfügige Verfehlungen ging. Häufig las man in den Dokumenten: „Auf dem Posten eingeschlafen“. Die Strafe für diese Vergehen war jedoch milde. Man wurde einige Tage in die Hauptwache abkommandiert. Wenn Soldaten ihre Waffe verloren, folgte darauf keine Strafe, denn es war aufgrund des Kriegsgeschehens leicht erklärbar. Die Dokumente in dieser Angelegenheit trugen die Aufschrift „Verfahren eingestellt“.
Hart verfolgt wurden jedoch alle Versuche der Desertation, Versuche der Selbstverstümmelung oder Aufrufe, zum Feind überzulaufen. Derartige Vergehen wurden mit dem Tod bestraft. Die Dokumente zeigen, dass es zu einem Fall von Desertation auch einen Schauprozess gab.
In der Sowjetunion sprach man lange nicht über diese Niederlage vom Oktober 1941. Erst Anfang der 1960er Jahre lüftete Marschall Georgi Schukow, der am 9. Oktober 1941 das Kommando der sowjetischen Westfront übernommen hatte, das Schweigen. In einem Interview dankte der Marschall den Soldaten und Kommandeuren, die in den Kesseln von Wjasma und Brjansk eingeschlossen gewesen waren. „Sie banden um sich große Kräfte des Gegners. Sie halfen, Zeit zu gewinnen, um eine neue Verteidigungslinie vor Moskau aufzubauen.“ Doch es dauerte noch bis zum Jahr 1979, bis in Moskau ein Museum zur Verteidigung der sowjetischen Hauptstadt eingerichtet wurde.
Hitler hatte sich verzettelt
Hitler hatte sich gegen einen Vorstoß auf Moskau zunächst gesperrt. Er hielt die Besetzung der Ukraine und das Aushungern von Leningrad für wichtiger. Doch die deutschen Generäle hatten ihn überredet. Moskau müsse so schnell wie möglich eingenommen werden, sonst würde die Verteidigung ausgebaut und die Besetzung der Stadt sei dann nur noch schwer zu erreichen.
Wenige Tage nach der Einnahme von Kiew, am 30. September 1941, startete dann 250 Kilometer südöstlich von Moskau die deutsche „Operation Taifun“ mit Panzer-Angriffen an der Front Brjansk und am 2. Oktober mit Angriffen auf die Front Wjasma. Ziel dieses Doppelschlages, bei dem den sowjetischen Truppen in drei Kesseln schwere Verluste zugefügt wurden, war die Zerschlagung der sowjetischen Verbände vor Moskau, um so freien Zugang zur sowjetischen Hauptstadt zu bekommen.
Die „Operation Taifun“ war eine der letzten erfolgreichen deutschen Operationen vor Moskau. Im November 1941 kam der Vorstoß Richtung Hauptstadt ins Stocken. Der Angriff auf Moskau kam zu spät. Die deutsche Armee, die in propagandistisch angestachelter Siegesstimmung schnell nach Osten vorrückte, hatte mit vom Herbstregen aufgeweichten Straßen zu kämpfen. Für einen Stellungskrieg im Winter waren die Deutschen nicht vorbereitet.
Vor Moskau wurde dann deutlich: Die deutsche Militärführung und Hitler hatten sich verzettelt. Aus dem geplanten schnellen Feldzug bis weit hinter Moskau wurde nichts. Die deutsche Militärführung unterschätzte die Kampfkraft der Roten Armee. An der Eroberung Kiews waren auch Kräfte der deutschen Heeresgruppe Mitte — wie die Panzergruppe Guderian — beteiligt, die eigentlich für den Angriff auf Moskau gebraucht wurden.
40 Massengräber, deren genauen Ort niemand kennt
Die sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Kessel von Wjasma mussten Schreckliches erleiden. Sie wurden in zwei Durchgangslager (Dulags) in der Stadt Wjasma gebracht, wo sie unter freiem Himmel mit einer Suppe am Tag wie Tiere dahinvegetieren mussten. Viele wurden mit offenen Güterwaggons ins „Reich“ transportiert und — trotz ihres elenden Zustands — auch noch zum Ausheben von Schützengräben eingesetzt.
Im Winter 1941/42 starb ein Großteil der Kriegsgefangenen in den Lagern in Wjasma an Infektionskrankheiten, Hunger und Verwundungen. Die genaue Zahl der Toten ist nicht bekannt. Auf einem Denkmal im ehemaligen Lager Nummer 184 in Wjasma liest man, es seien „Zehntausende“ im Lager gestorben.
Bild 3: Denkmal auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Nummer 184 in der Stadt Wjasma, Foto: Ulrich Heyden
Nach Berichten von Einheimischen wurden die Toten in 40 Massengräbern beerdigt. Wo sich diese Massengräber exakt befinden, ist nicht bekannt. Manche meinen, dass sich auf den Massengräbern heute die örtliche Fleischfabrik, Garagen und Gärten befinden.
Große Aussprache nach dem Abendessen
Am Abend unseres Marsches über das ehemalige Schlachtfeld vor Wjasma kam es in einem Hotel der Stadt an einem hufeisenförmigen großen Tisch zu einer Aussprache. Mehrere Teilnehmer erzählten von ihren Vätern und Großvätern. Ein Gläschen Wodka half, die Schrecken des Krieges, die uns ganz nah schienen, abzuschütteln.
Ein junger Vater, der mit seiner Frau und seinen beiden schulpflichtigen Söhnen an unserer Fahrt teilnahm, erzählte, er habe als kleiner Junge seiner Großmutter versprochen, ihren Bruder oder zumindest sein Grab zu finden. Als der junge Mann das erzählt, kann er seine Tränen nur mit Mühe unterdrücken.
Von seinem Großonkel gab es einige Briefe, aus denen hervorging, dass er in der 15. Freiwilligen-Division gekämpft hatte. Im Alter von 25 Jahren — so erzählt der junge Vater — habe er selbst dann angefangen, in Archiven nach Dokumenten und Spuren zu suchen. Am Ende sagt er mit erleichterter Stimme, er habe jetzt Erde aus dem ehemaligen Kampfgebiet mitgenommen. Die werde er zum Grab seiner Großmutter bringen, die auf ihren Bruder so lange gewartet hat.
Die Reise nach Wjasma war anstrengend, aber auch lehrreich. Ich hatte Gelegenheit, den Krieg aus der Sicht der Angegriffenen noch einmal zu durchleben. Das geschah ganz unauffällig: Die Russen, mit denen ich durch Wiesen und Wälder lief, machten kein Aufhebens davon, dass unter ihnen ein Deutscher war.