„Für Menschen ohne Migrationshintergrund, für Männer, für weiße Menschen und alle anderen Mitglieder der unsichtbaren Gruppe der ‚Normalen’ gibt es diese Erfahrung nicht ― ein Wort wie Kartoffel vermittelt höchstens ein schwaches Echo davon. Statt auf dieses schwache Echo mit einem verletzen Ego zu reagieren, könnte es ein erster Schritt zur Reflexion der eigenen Privilegien sein.“
Soso.
„Denn der Kern des Kartoffelwesens ist die Stärke ― die Kartoffelstärke. Sie ist stark, indem sie bindet, Glukoseteilchen, also Energie, organisch bindet. Das ist gut für den Darm. Auf die Gesellschaft übertragen heißt das, dass die deutsche Kartoffel die gesellschaftlichen Kräfte, die das Gemeinwesen zu spalten drohen, so vermanscht, dass die gesellschaftliche Energie, im Guten wie im Schlechten, keine großen Sprünge mehr machen kann, keine Ausreißer mehr produziert.“
Äh.
Deutschland im Kartoffelwahn. Seit die Publizistin Ferda Ataman vom Bundeskabinett als neue „Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung“ zur Wahl vorgeschlagen wurde, tobt die Kartoffelschlacht: Diskriminiert die designierte Antidiskriminierungsbeauftragte selbst ― nämlich Deutsche als „Kartoffeln“?
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In der ZEIT finden sich der Ataman verteidigende Kommentar sowie die allegorische Glosse, aus denen hier anfangs zitiert wird. Die Tageszeitung zeigt sich solidarisch und ebenso erwartungsgemäß die Welt sich kritisch. Und im Focus schießt Jan Fleischhauer:
„Ich kenne Ferda Ataman vom ‚Spiegel‘. Wir waren zeitweise Kolumnistenkollegen, bis ihr die Chefredaktion die Kolumne wieder wegnahm, weil zu viel Quatsch drinstand. Sie hätte rasend gerne weitergemacht, aber es ging einfach nicht mehr. (…)
Ataman ist der Beweis, dass man mit dem schlechten Gewissen anderer Leute weit kommen kann.
Sie hat inzwischen sogar eine Firma gegründet, die Unternehmen dabei berät, wie man ‚Diversity managt‘, wie das auf Neudeutsch heißt. ‚Diversity Kartell‘ nennt sich das Unternehmen.“
In Fleischhauers Artikel wird auch die „Goldene Kartoffel“ erwähnt. Gemeint ist allerdings nicht das bekannte Hotel-Restaurant in der Märkischen Schweiz, sondern ein vergifteter Preis. Während das Gasthaus „glückliche Hochzeitspaare, entspannte Geschäftsleute und zufriedene Gäste“ kennt, richtet sich die seit 2018 durch „die Neuen deutschen MedienmacherInnen“ verliehene Auszeichnung an „Medien oder JournalistInnen, die ein verzerrtes Bild vom Zusammenleben im Einwanderungsland Deutschland zeichnen, Probleme und Konflikte stark übertreiben, Vorurteile verfestigen und gegen journalistische Standards verstoßen“ ― sprich: ein Preis für „besonders unterirdische Berichterstattung“.
Überirdisch gut hingegen ist, dass es in Deutschland „MedienmacherInnen“ gibt, die genau wissen, welche Berichterstattung korrekt ist und auf welche dies nicht zutrifft. „Anzeige ist raus!“ krakeelt der Biederdeutsche, doch von solch dumpfem Spießertum sind die „Neuen deutschen MedienmacherInnen“ natürlich weit entfernt und verleihen stattdessen einen witzigen Preis, der das Kartoffel-Stereotyp total hintergründig ironisiert.
Ja, der Deutsche als „Potato-Fritz“ ― so hieß auch ein deutscher Western von 1976 unter der Regie von Peter Schamoni und mit der Musik von Udo Jürgens. In der Hauptrolle Hardy Krüger und in einer Nebenrolle ― kein Witz ― der Fußballer Paul Breitner, der ja in die Annalen der legendären Fußballerzitate einging mit der Äußerung:
„Dann kam das Elfmeterschießen. Wir hatten alle die Hosen voll, aber bei mir lief‘s ganz flüssig.“
Und dann glänzte er noch mit dem Kommentar:
„Sich nicht impfen zu lassen, ist potenzielle vorsätzliche Körperverletzung.“
Kulinarischer Rassismus
Der „Spaghettifresser“ und der „Knoblauchfresser“ sind die Klassiker des kulinarisch eingefärbten Rassismus, wobei nicht gegessen, gespeist oder verzehrt wird, sondern, mit animalischer Note versehen, gefressen. Okay, Titulierungen wie „Mehmet, du Knoblauchgourmet!“ oder „Luigi, alter Spaghettifreund!“ würde natürlich schon das rassistische Element abgehen.
Hingegen hat es den „Olivenölsäufer“ in Bezug auf die Griechen nie gegeben. Wenn doch, der griechische Finanzminister Giannis Varoufakis hätte wohl auch noch den zweiten Mittelfinger gereckt.
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Und der „Kümmeltürke“? Es handelt sich um einen Begriff aus der Studentensprache des 18. Jahrhunderts. Die Wiener Presse erklärt:
„Der Kümmeltürke kommt nämlich eigentlich aus dem heutigen Sachsen-Anhalt. Rund um Halle an der Saale wurde einst Kümmel angebaut. Angelehnt an den Orient, wo viele Gewürze herkamen, nannte man das Umland Kümmeltürkei. Und wer dort studierte, wurde Ende des 18. Jahrhunderts gern abwertend als Kümmeltürke bezeichnet. Erst später wurde das Schimpfwort auf türkische Gastarbeiter übertragen.“
„Frosch“ oder „Froschfresser“ oder auch „Froggie“ werden die Franzosen von den Briten genannt, jene wiederum kontern mit „Rosbif“. „Was kann man von Leuten erwarten, die Frösche essen?“, fragte schon im 18. Jahrhundert der britische Schriftsteller Samuel Johnson. Für zahllose Briten sind die Franzosen, getreu ihres einstigen Wappentieres, aufgeblasene, aber eigentlich schlaffe Gockel, die verlogenem Pomp frönen.
Den Franzosen wiederum gelten die Briten als unzivilisierte Inselbarbaren, die den einen oder anderen Evolutionsschritt verpasst haben. Die beiden Völker sind sich in tiefer Abneigung verbunden ― ja verbunden, denn was gibt es Besseres als eine so wunderbare Projektionsfläche für Aggression, Verdruss und Groll wie das jeweilige Volk jenseits des großen Wassers. „An schlechten Tagen kann man Frankreich sehen“ sagen die englischen Küstenbewohner, die Franzosen fragen:
„Welcher Unterschied besteht zwischen einem Unfall und einer Katastrophe? ― Ein Unfall ist, wenn ein Schiff mit Engländern untergeht, eine Katastrophe, wenn sie auch noch schwimmen können.“
Quelle: Diesunddas.net
Lettische Kartoffeln
Aber wir waren ja bei der Kartoffel ― die ohne den Zusatz „Fresser“ auskommt ― und welcher der besondere Bezug zu Deutschland und den Deutschen absolut fehlt. Genauso gut könnte man einen Schweizer als „Sushi“ oder einen Japaner als „Bratwurst“ betiteln.
Der hiesige Kartoffelverbrauch liegt entgegen der landläufigen Meinung nämlich europaweit im Mittelfeld ― Platz 12 von 29 ―, und sogar noch unter dem europäischen Durchschnitt.
Der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch betrug, wie die folgenden Grafiken zeigen, 2018 in den EU-Staaten 61,3 Kilogramm, in Deutschland jedoch lediglich 58,7 Kilogramm. Selbst der in der Corona-Krise um zwei Kilogramm gestiegene Pro-Kopf-Verbrauch lässt Deutschland nicht über den EU-Durchschnitt klettern.
Die drei führenden Länder mit 112,7, 99,5 und 97,7 Kilogramm heißen Lettland, Polen und Rumänien. Auf diese folgt mit 86,9 Kilogramm Belgien mit seinen berühmten Pommes Frites.
Screenshots von Statista.com
„Lettische Kartoffel“ wäre also die angemessenste Bezeichnung. Und im Dienste der Wissenschaft wäre ein Vor-Ort-Test eigentlich nun das Mittel der Wahl. Die Übersetzungen in der jeweiligen Landessprache sind schnell in den einschlägigen Online-Übersetzern zu finden, und schon kann’s losgehen. Wie werden Letten, Polen, Rumänen in den Straßen Rigas, Warschaus oder Bukarests auf eine Titulierung als „Kartoffel“ reagieren? Eher unentspannt oder begreifen sie dieses schwache Echo doch als ersten Schritt zur Selbstreflexion der eigenen Privilegien?
Wir haben da so eine Vermutung.
Bildquelle: Amazon