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Ungewisse Zukunft

Ungewisse Zukunft

Was bedeutet der geplante US-Rückzug aus Syrien für die Kurden vor Ort?

Die Kurden nach den Amerikanern
von Mohammad Ballout und Walid Scharara

Fast vier Jahre dauerte der Versuch der USA, in Syrien direkt und militärisch zu intervenieren. Der Versuch ist gescheitert, und nun wollen die Amerikaner hektisch und so schnell wie möglich das syrische Territorium verlassen. Also müssen die syrischen Kurden ihre Lage überdenken und ihre hochgesteckten Ziele revidieren. Sie müssen darüber nachdenken, wie sie einige ihrer politischen und administrativen Errungenschaften behalten können.

Die sich abzeichnende Entwicklung wird unter den Kurden keine Freude auslösen, die auf dem syrischen Territorium als die engsten Freunde der amerikanischen Streitkräfte gelten. Allerdings haben sie ihre Zukunftspläne zu eng mit der Anwesenheit der 2000 amerikanischen Spezialkräfte verknüpft, die jetzt nur noch damit beschäftigt sind, ihre Koffer zu packen und den Rückzug vorzubereiten.

Für den syrischen Staat ist die aktuelle föderale Struktur im Norden des Landes kein unüberbrückbares Hindernis bei der zukünftigen strukturellen Planung des Staates. Die bewaffneten kurdischen Verbände werden es nicht mit der syrischen Armee aufnehmen können, sollten die Amerikaner dem Euphrat-Tal den Rücken kehren. Das Pentagon hatte bei seinen kurdischen Verbündeten die Illusion genährt, dass die amerikanische Militärpräsenz in Syrien lange genug dauern werde, um die Grundlagen für einen zukünftigen kurdischen Staat ausreichend zu festigen. Etliche kurdische Delegationen pilgerten ins Pentagon, wo sie immer wieder großes Lob hörten. Gelobt wurden ihre Kämpfer, die sich – ausgestattet mit US-militärischer Ausrüstung – von einer Miliz zu einer straff organisierten Armee entwickelten. Mit Unterstützung der US-Luftwaffe nahmen sie die härtesten Kämpfe auf sich und zogen von einer erfolgreichen Schlacht gegen den „Islamischen Staat“ zur nächsten: von Ain al Arab/Kobani, nach Rakka und in das Umland von Hasakeh bis schließlich nach Deir Ez-Zor.

Schon bevor Donald Trump ankündigte, er werde seine „Jungs“ nach Hause holen, waren unter den Kurden Zweifel aufgekommen. Der ehemalige Außenminister Rex Tillerson hatte unermüdlich an die Türen in Ankara geklopft und versucht, mit Präsident Recep Tayyip Erdogan zu verhandeln. Tillerson beauftragte seinen Berater Rich Austen, in Ankara die Lage zu sondieren. Austen, der mit einer Türkin verheiratet und für seine Nähe zu Ankara bekannt ist, sollte die Beziehungen zur türkischen Regierung wieder in Ordnung bringen. Und er sollte die Kurden davon überzeugen, Manbij zu verlassen. Ziel des Vorhabens war, das Gebiet nahe der syrisch-türkischen Grenze gemeinsam mit der Türkei zu verwalten. Damit sollte die „Re-Arabisierung“ im gesamten Euphrat-Tal bei einem gleichzeitigen Rückzug der Kurden vorangetrieben und ein zweites Afrin vermieden werden.

Erdogan wiederholte seine Drohungen, er werde nach Rakka, Tell Abiyad oder Qamischli marschieren, das verunsicherte die Kurden. Ihre Sorgen lösten sich auch nicht auf, als Tillerson sich von der politischen Bühne zurückzog. Im Gegenteil wurden sie durch die überraschende Ankündigung der US-Administration weiter verstärkt, dass die amerikanischen Militäreinheiten aus Syrien baldmöglichst abgezogen werden sollten. Hinzu kam, dass eine zuverlässige Ausrichtung der amerikanischen Strategie für Syrien offensichtlich fehlte.

Überstürzt hatten die Amerikaner ihren Plan für eine Exit-Strategie präsentiert. Vorgesehen war der Aufbau bewaffneter Verbände aus den Reihen der arabischen Stämme, die östlich des Euphrat siedeln. Diese sollten die durch den Abzug der Amerikaner entstehenden Freiräume kontrollieren. Dazu gehörten die amerikanischen Militärbasen entlang des Euphrat, die unweit der Verbindungsroute Beirut-Damaskus-Teheran liegen. Und um ein Nachrücken des syrischen Staates in die Gebiete zu verhindern, sollte die neue Truppe auch die Gebiete übernehmen, aus denen die kurdischen Verbände nach Norden abgezogen werden sollten.

Das „Wall Street Journal“ berichtete, die USA hätten Saudi Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten aufgefordert, nach dem US-Abzug das Vakuum in den Gebieten östlich des Euphrat ebenfalls zu füllen. Nach dem Willen von Trump sollten sie entweder ein 4 Milliarden US-Dollar schweres Wiederaufbauprogramm für die Region (östlich des Euphrat) finanzieren oder Truppen dorthin entsenden, um die geplante Streitkraft von 30.000 Mann aus den Reihen der arabischen Stämme zu rekrutieren und auszubilden. Aufgabe der arabischen Soldaten sollte die Überwachung eines Gebietes sein, das dreimal so groß ist wie die Fläche des Libanon. Sie sollten verhindern, dass die syrische Armee dorthin vorrückt. Gut informierte Anhänger der regionalen Opposition versicherten gegenüber Al Akhbar, aktuell seien nicht mehr als 6000 Kämpfer rekrutiert worden.

Die Amerikaner sind in so großer Eile, dass sie sogar das Gespräch mit dem Gründer der Killerbanden von Blackwater suchten, mit dem „Prinzen“ Eric Prince, den sie an seinem derzeitigen Wohnsitz in den Emiraten trafen. Geht es nach dem entschiedenen Wunsch von US-Präsident Donald Trump, sollen die US-Truppen innerhalb von sechs Monaten, spätestens bis Ende dieses Jahres (2018) aus Syrien abziehen. Wie gut informierte Kreise „Al Akhbar“ bestätigten, entspricht das auch einer Vereinbarung innerhalb der US-Administration. Die Übereinkunft wurde getroffen, nachdem Trump nicht davon überzeugt werden konnte, die Stationierung amerikanischer Verbände auf syrischem Boden um weitere zwei Jahre zu verlängern.

Die von den USA verfolgte Strategie hat allerdings wenig Aussicht auf Erfolg. Auf die Söldner des „Prinzen“ zurückzugreifen weist darauf hin, dass die USA nur wenige Optionen und Möglichkeiten hat, unter den arabischen Bündnispartnern allgemein und konkret bei den Stämmen östlich des Euphrat Soldaten auszuwählen und zu rekrutieren. Jahrelange Versuche, aus den Reihen dieser Stämme eine schlagkräftige Truppe aufzubauen, sind gescheitert.

Der US-Geheimdienst versuchte, eine „Neue Syrische Armee“ unter Führung von Oberst Muhannad al-Talla' aufzustellen. Dessen Rekruten wurden schon bei ihrem ersten Kampf bei Al Tanf (im Dreiländereck Irak-Jordanien-Syrien) geschlagen und in alle Winde verstreut. Vor etwa zwei Jahren wurden Dutzende dieser Soldaten von IS-Kämpfern abgeschlachtet, als sie versuchten mit einer Fallschirmoperation den Flughafen Al Hamadan einzunehmen. Das Beste, was erreicht werden konnte, war die Rekrutierung ehemaliger IS-Elemente durch Ahmed Abu Khaoula vom Militärrat Deir Ez-Zor. Die erste Aufgabe der neu Rekrutierten wird sein, ihre ehemaligen Kampfgenossen zu bekämpfen und an der Rückkehr zu hindern.

Auch die Golfstaaten, die Trump vor die Wahl stellte, entweder für die neue Armee aus den Reihen der arabischen Stämme zu bezahlen oder sie auszubilden, haben seit (der Niederlage der Kampfgruppen in) Aleppo de facto keine Möglichkeit mehr, in Syrien zu rekrutieren. Die syrische Armee nahm zudem die letzten Bastionen von „Dscheisch Al-Islam“ und „Feilak al-Rahman“ in der östlichen Ghouta ein. Die Zusammenarbeit mit diesen Formationen in den Gebieten östlich des Euphrat war vor vier Jahren gestoppt worden, als der „Islamische Staat“ (Daesch) sie vernichtete oder zum Verlassen der Gebiete gezwungen hatte. Auch der alternative Plan von (dem jordanischen, kl) König Abdullah II, wonach die Beduinen-Stämme östlich des Euphrat mit dem Königreich der Haschemiten (Jordanien, kl) verbunden werden sollten, stagniert mangels US-Unterstützung. Saudi Arabien und die Emirate sind zudem tief in den Jemenkrieg verwickelt.

Bisher haben sie keine rasche Exit-Strategie vorgelegt und können sich nicht ernsthaft anderweitig und effektiv engagieren. Ägypten wiederum ist auf der Sinai-Halbinsel und landesweit in einem Anti-Terror-Krieg gegen den „IS“ gebunden. Kairo lehnt ohnehin aus Prinzip ein militärisches Vorgehen gegen die syrische Armee ab und hält vielmehr alle Kanäle mit Damaskus offen, um hochrangige Delegationen in Sicherheitsfragen auszutauschen. Alternativ die Türkei einzubinden, steht überhaupt nicht zur Debatte. Ankara will gegen die mit den USA verbündeten Kurden vorgehen und sie vernichten. Darüber hinaus hat sich die Türkei Vorteile durch ihre Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen des Astana-Prozesses verschafft.

Es gibt also viele Hindernisse für den Exit-Plan von Trump, an dem er auch nach den Luftangriffen auf Syrien (14. April 2018) festhalten will. Trump will den Rückzug aus Syrien wegen der hohen Stationierungskosten und anderer, innenpolitischer Faktoren.

Für die Kurden bleibt jetzt nur noch eine Frage: Was tun?

Eine ranghohe Führerin der Volksverteidigungseinheiten hat eingeräumt, dass die Amerikaner „kaum länger als ein Jahr auf syrischem Boden bleiben“ werden. Früher hieß es, sie würden keinesfalls früher als in drei Jahren abziehen. Der Countdown zum Abzug der schützenden amerikanischen Hand über dem Aufbau einer föderalen Alternative auf syrischem Boden hat begonnen, damit hat der Faktor Zeit seine Bedeutung verloren. Andererseits gibt es jetzt eine offene Konfrontation zwischen den Kurden und Russland, denn die Kurden betrachten den Angriff auf Afrin als türkisch-russische Schlacht gegen die Kurden.

Die Schlacht um Afrin zeigte den Kurden sowohl die Grenzen der realen amerikanischen Unterstützung auf, als auch die realen Grenzen ihrer eigenen militärischen Kraft, die sie nicht endlos gegen alle lokalen und regionalen Mächte in Stellung bringen können. Sie müssen ihren politischen Plan überdenken und auf der Grundlage einer Verständigung mit dem syrischen Staat einerseits sowie mit Offenheit gegenüber den Regionalstaaten andererseits neu gestalten.

Ein kurdischer Offizieller verwies darauf, dass die „Ausbreitung der militärischen kurdischen Einheiten die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des autonomen kurdischen staatlichen Projekts auf syrischem Boden verschleiert“ habe. Die unterschiedliche Verteilung der kurdischen Bevölkerung im Norden Syriens, den die Kurden bisher als Hochburg bezeichneten, schwächte die verbreitete Darstellung, dort in der Mehrheit zu sein. Tatsächlich überschreitet die gesamte kurdische gesellschaftliche Präsenz im syrischen Norden nicht mehr als 40 Prozent.

Die Kurden stehen an einem Scheideweg: Einerseits sind ihnen die wahren Kräfteverhältnisse klarer geworden. Der syrische Staat und seine iranischen und russischen Verbündeten bilden den übermächtigen Pol auf syrischem Boden. Andererseits wird die russisch-türkische Kooperation im Norden Syriens verstärkt und expandiert. Auf der Suche nach einer alternativen Vision für die Zeit nach dem Abzug der amerikanischen Truppen stellte ein kurdischer Vertreter gegenüber Al Akhbar fest: „Schon allein die Forderung einer Föderation in Syrien wird als Provokation gewertet. Sowohl in Syrien als auch von allen regionalen und lokalen Kräften wird es als Separatismus verstanden, als Versuch sich abzuspalten.“

Die grundsätzliche Analyse der politischen und geostrategischen Realität deutet auf einen baldigen Abzug der Amerikaner hin. Der Plan der Kurden wird an den regionalen Kräften scheitern. Von der Türkei über den Irak bis zum Iran wird ihr Projekt nicht akzeptiert, der syrische Staat sieht ohnehin nicht mehr als eine „Selbstverwaltung“ vor, wie es im Gesetz Nr. 107 festgelegt ist. Doch nach wie vor gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Kurden und dem syrischen Staat.

Sowohl Präsident Assad als auch Außenminister Walid Al Mou’allem sehen in einer erweiterten administrativen Dezentralisierung eine Grundlage für den innenpolitischen Kompromiss. Sich bewusst auf dieses Fundament zu stützen, trägt dazu bei, den Plan einer föderativen Struktur für Syrien zu überwinden, der nie realistisch war. So könnte man sich von der Illusion lösen, die von den USA vor den Kurden aufgebaut worden, aber nie ernst gemeint war. Die USA interessierten sich nie wirklich für die Ambitionen der Kurden. „Weder die Amerikaner noch die Europäer spielen noch eine wichtige Rolle in Syrien. Russen, Iraner und die syrische Regierung werden die weitere Entwicklung bestimmen und früher oder später wird es eine Lösung ohne den Westen geben“, sagte der Nahostexperte Guido Steinberg. Werden die Kurden dann auf das richtige Pferd setzen?


Mohammad Ballout ist langjähriger Kriegsberichterstatter und gilt, wie Walid Scharara, als wichtiger politischer Analyst im Libanon. Ballout und Scharara arbeiten für die libanesische Tageszeitung Al Akhbar. Rubikon bedankt sich für die Genehmigung der Autoren, den Artikel in deutscher Übersetzung exklusiv zu veröffentlichen. Die Übersetzung des Textes erfolgte durch Issam Haddad, die deutsche Bearbeitung durch Karin Leukefeld.

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