„Es waren einmal ein guter Wolf, der von den Schafen malträtiert wurde, ein böser Prinz, eine wunderschöne Hexe und ein ehrlicher Pirat.“ So beginnt das Gedicht El mundo al revés — Die umgekehrte Welt des 2017 verstorbenen spanischen Schriftstellers José Agustín Goytisolo. Er erkannte die Verdrehungen in der Welt und sah den Verführer hinter dem Wohltäter und den Helden hinter dem Verfemten. Es war eine Zeit, in der Menschenrechtler als Terroristen verfolgt und Friedensaktivisten und Umweltschützer ermordet wurden, eine Zeit, in der man angab, Frieden mit Krieg erreichen zu können — möchte ich hinzufügen.
Wir wissen heute nicht mehr, wo oben und wo unten ist. In den modernen Märchen sind die Guten nicht mehr gut und die Bösen nicht mehr böse, und in der Politik werden linke und rechte Extreme so miteinander verdreht, dass es immer schwieriger wird zu erkennen, aus welcher Ecke der Wind eigentlich weht. Ein einfaches „Cui bono? — Wem zum Vorteile?“ degradiert heute den Fragenden zum Verschwörungstheoretiker und macht ihn zum Systemfeind. In unserer verkehrten Welt werden Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen wollen, zu Verbrechern und Forschende, deren Erkenntnisse nicht in den Mainstream passen, zu Verfolgten. Währenddessen kommt von den Persönlichkeiten, die im Rampenlicht stehen und die sich von den Massen bewundern lassen, kaum ein Mucks.
Kaum noch jemand weiß, aus welcher Quelle er seinen Optimismus schöpfen soll, ohne lächerlich zu wirken. Auch ich bin immer wieder ratlos, stehe voller Fassungslosigkeit, Wut und Traurigkeit vor den Geschehnissen und habe Mühe, meine Hoffnung und mein Vertrauen in der Realität bestehen zu lassen. Dabei hilft mir meine Schwäche für das Märchenhafte, Wundervolle, Magische, das ich mir aus meiner Kinderzeit bewahrt habe. Ich habe mich nie mit dem zufriedengeben können, was ich vor Augen habe und mich immer von dem angezogen gefühlt, was sozusagen zwischen den Zeilen steht.
So möchte ich für einen Augenblick Märchenfee sein, und es den Alchimisten gleichtun, die seit Menschengedenken Blei in Gold verwandeln. Schweres, Dunkles und scheinbar Wertloses finde ich zuhauf um mich herum. Wenn ich nur den Kopf hebe, dann sehe ich genug Bedrückendes, Beängstigendes und Bedrohliches, um damit mehr als 1001 Nacht zu füllen. Nur Mut also, Scheherazade, und an die Arbeit! Es geht um dein Leben!
Ich nehme also meinen Zauberstab mit dem Stern oben drauf, den mir eine Freundin geschenkt hat. Sie hat den gleichen und benutzt ihn zum Beispiel in der Métro in Lyon, wenn Leute aneinandergeraten. Ssssssss!!! Dabei wirkt sie so verrückt, dass die meisten augenblicklich verdattert innehalten. Mancher Streit fand so ein jähes Ende. Daher keine Angst, sich lächerlich zu machen. Kümmere dich nicht darum, was andere denken und sag, was du glaubst.
Unterbrochene Gespräche
Mit meinem Stab in der Hand trete ich vor meine Haustür, vor der der Nachbar nicht mehr parkt, seit ich ihm gesagt habe, dass das, was man austeilt, zu einem zurückkommt. Das allein lässt mich an Wunder glauben. Ich gehe hinaus in die Weinberge und das, was von der Natur heute übrig geblieben ist. Sie leidet hier wie überall. Ökosystem heißt sie heute. Das klingt wissenschaftlich und bringt Distanz. Denn es fühlt sich nicht gleich an, ob ein System ins Schlingern kommt oder unsere Mutter Erde, die uns hervorgebracht hat und trotz allem weiter nährt.
Während ein System irgendwie abstrakt wirkt, haben ein Baum, eine Blume und eine Weinrebe etwas mit mir zu tun. Ich kann sie berühren, ihren Duft einatmen, ihren Saft trinken. Und ich kann mich mit ihnen unterhalten — mit oder ohne Zauberstab. Das Lebendige ist gesprächig. Ob über chemische Botenstoffe, über Bewegungen oder über Gedanken und Worte — wir alle drücken uns ohne Unterlass aus. Jede Zelle, jede Mikrobe, jedes Organ, jeder Organismus tauscht unaufhörlich Informationen mit seiner Umgebung aus.
Das Leben da draußen leidet stumm. Wir können seinen Schmerz nicht hören. Es vertrocknet, verkümmert und stirbt vor sich hin. „Wir ziehen uns zurück“, flüstert es. „Wo wir nicht geachtet werden, da machen wir uns rar.“ Das leuchtet ein. Da kann ich auch mit meinem Zauberstab nichts ausrichten. Doch ich kann eines tun: Ich kann versuchen, genauer hinzuhören. Bei einer Krankheit, so habe ich es erfahren, teilt uns das Symptom ja nicht nur mit, dass etwas nicht stimmt. Es informiert uns auch darüber, dass der Organismus gerade dabei ist, das Problem zu lösen. Er tut das auf seine Weise. Es ist an uns, uns dafür zu interessieren.
Mehr als Fleisch und Blut
Die Natur zeigt es uns also gerade: Wälder brennen. Das Wasser steigt. Stürme verwüsten den Planeten. Beben jeder Art rütteln alles durcheinander. Wie im Roman Zorn von Denis Marquet mag es manchem scheinen, als schüttele sich die Erde, um sich von den Bewohnern, die sich die Krone der Schöpfung aufgesetzt haben, zu befreien. Zu verstehen wäre das — nach alldem, was wir dem Planeten antun. Doch ich möchte mich nicht dem Abgesang auf den schlechten Menschen anschließen. Ich will nicht in der fatalen Opferrolle steckenbleiben und weder mich selbst noch andere beschuldigen. Ich will, dass sich etwas ändert.
An dieser Stelle nehme ich meinen Zauberstab und frage: Geht es hier wirklich darum, die Menschheit wie eine Invasion lästiger Flöhe abzuschütteln? Sicher: Wenn wir uns selbst als eine Art defekt gewordene Maschine sehen, wie es uns das materialistische Denken suggeriert, dann sind wir wohl tatsächlich eine Fehlkonstruktion. Ab auf den Müll damit. Doch das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass wir nichts weiter sind als eine Form aus Fleisch und Blut, in der kurze Zeit ein Bewusstsein aufflammt, bevor es wieder im Nichts verglimmt. Ich glaube, dass man uns hier ein in wissenschaftliches Gewand gehülltes Märchen erzählt. Ich glaube im Gegenteil, dass wir unsterbliches Bewusstsein sind, das in einem Körper Form annimmt.
Mit meinem Zauberstab in der Hand darf ich so etwas sagen. Wissenschaftler haben es da schwerer. Forscher und Mediziner etwa wie Pim van Lommel, Mario Beauregard oder Eben Alexander müssen mindestens damit rechnen, als Pseudowissenschaftler diffamiert zu werden, wenn sie behaupten, dass das Bewusstsein nicht an den Körper gebunden ist. Die durch ihre Arbeit zur Sterbebegleitung bekannt gewordene Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hatte mit Morddrohungen zu kämpfen, weil sie behauptete, dass mit dem körperlichen Tod das Leben nicht zu Ende ist.
Seit Wikipedia sich zum Monopol gemausert hat, haben es diejenigen, die nicht mit dem neoliberalen Weltbild übereinstimmen, besonders schwer. So wird auch dem Schweizer Philosophen, Vedenforscher und ehemaligem Mönch Armin Risi die zurzeit häufig bemühte Trias Rechtsesoterik — Verschwörungstheorie — Antisemitismus angeheftet. Seine Schriften und Vorträge zeugen von einem geradezu enzyklopädischen Wissen und erinnern an die seit langem ausgestorbene Spezies des Universalgelehrten. Während heute Spezialisten die Welt auseinandernehmen und dabei immer mehr den Überblick verlieren, führt er die Dinge wieder zusammen. Eines seiner größten „Vergehen“ ist das Ersetzen der Evolutionstheorie durch das Konzept der Involution, nach dem das Leben aus einem liebenden und vereinigenden Geist heraus entspringt, zu dem es wieder zurückstrebt.
Da wir uns seit Menschengedenken auf diese Weise fortpflanzen, befremdet mich dieser Gedanke nicht. Auch die Vorstellung eines unsterblichen Bewusstseins ist mir sehr sympathisch. Stellen wir uns vor: Wir sind nicht hier, um zu arbeiten, zu konsumieren und zu schlafen, sondern um Erfahrungen zu machen, um zu wachsen und zu unserem ursprünglichen Potenzial zurückzufinden. Das gefällt mir deutlich besser als die „Klappe zu, Affe tot“-Theorie.
Das Potenzial in den Ereignissen
Ich gerate zunehmend auf rutschiges Terrain, denn hier sind die Dinge nicht mehr mit Formeln und Statistiken erklärbar. Es bedarf eines offenen, sensiblen und poetischen Geistes, um sich der Bewusstseinsfrage anzunähern. Der ist heute rar. Aber ich habe ja meinen Zauberstab. Wenn wie also tatsächlich hier wären, um uns zu ent-wickeln, um sozusagen wie die Raupe zum Schmetterling zu werden, dann erscheinen die Ereignisse um uns herum in einem anderen Licht. Wir sehen nicht mehr nur die Katastrophen. Wir erkennen auch das Potenzial in den Ereignissen, die Tatsache, dass ein Symptom immer auch den Hinweis einer Lösung in sich trägt.
Wenn ich da draußen in der Natur bin, dann höre ich kein „Hau ab!“. Was ich wahrnehme ist die Bitte, besser hinzusehen, hinzuhören, hineinzuspüren, aufmerksamer, respektvoller und sorgsamer mit den Dingen umzugehen. Wenn ich auf die Ereignisse in der Welt blicke, dann sind sie für mich gleichzeitig Bedrohung und Appell:
Sieh, was du getan hast und begreife, wohin dich der Versuch führt, die Welt in ihre Einzelteile zu zerlegen. Glaubst du nicht, dass es an der Zeit ist, das Kinderzimmer aufzuräumen und erwachsen zu werden? Jetzt bist du dran, die Dinge sich wieder zusammenfügen zu lassen und in Ordnung zu bringen.
Alle zusammen stehen wir nun vor einem riesigen Durcheinander und müssen, als ob das nicht genug wäre, zudem noch damit rechnen, dass sich die Magnetpole unseres Planeten demnächst so weit verschieben, dass uns eine komplette Umpolung bevorsteht. Damit bricht möglicherweise tatsächlich eine Zeit an, in der die Schafe, wie in dem Gedicht von José Agustín Goytisolo, die Wölfe ersetzen und die ehrlichen Piraten die bösen Prinzen. Bis es jedoch so weit ist, scheint alles kopfzustehen. Wir rennen verwirrt hin und her, bevor uns womöglich der Himmel auf den Kopf fällt.
Und wenn es langsam genug damit wäre, unseren Kopf so wichtig zu nehmen? Wenn auch hier gerade eine Umkehrung stattfindet? Schließlich zeigt uns die Mikrobenforschung heute, dass unser Darm mindestens genauso intelligent ist wie unser Gehirn. Offensichtlich hängen alle wichtigen Entscheidungen mit unserem Verdauungstrakt zusammen und werden von dem Organ aus gesteuert, über das wir bisher die Nase rümpften. Damit nicht genug: Nicht nur unser Gehirn verfügt über Intelligenz, sondern jede einzelne unserer Körperzellen. Mehr noch: Es scheinen die Mikroben zu sein, die kleinsten und ältesten aller Lebewesen, die wir als die am wenigsten entwickelten ansehen, die das letzte Wort haben.
Die aktuellen Erkenntnisse aus der Biologie sind ein herber Schlag für unser Selbstbewusstsein. Gleichzeitig gelingt es der Physik und den Neurowissenschaften nachzuweisen, dass die Energie unseres Denkens und Fühlens, unseres Fürchtens und Sehnens Realitäten schafft. Bisher völlig unausgeschöpfte Möglichkeiten kommen ins Spiel, die das Ende einer Epoche und den Beginn einer neuen bedeuten können. Eine Zeit, die nicht mehr spaltet und in der es keine Dominierten und keine Dominierenden mehr gibt, weil wir begriffen haben, dass wir ein und demselben Bewusstsein entspringen, das uns wieder zu sich zurückruft.
Lesen lernen
Der Stab in meiner Hand hüpft ganz aufgeregt. Ja! Lasst uns die Dinge wieder zusammenführen: Mensch und Natur, Mann und Frau, Körper und Geist, Kopf und Herz! Hier hat Scheherazade alle Hände voll zu tun und eine Menge neuer Geschichten zu erfinden! In der umgekehrten Welt werden diejenigen, die sich für den Schutz des Lebendigen engagieren, geschätzt und gefördert. Forschung und Wissenschaft werden frei, die Medizin arbeitet wieder im Interesse der Patienten und die Erfindungen dienen dem Wohle aller. Die Politik befreit sich vom Joch der Wirtschaft. Rechts und links arbeiten zusammen wie die beiden Hemisphären eines Gehirns.
Kinder können sich frei entwickeln, um das, was in ihnen angelegt ist, zum Wachsen zu bringen. Sie streifen ab, was sie daran hindert, und lernen richtig lesen. Sie drehen die Dinge in ein neues Licht und entschlüsseln die in den Ereignissen enthaltenen Informationen. Anhand der globalisierten Gemeinschaft erkennen sie, wie subtil und unauflöslich die Dinge miteinander verbunden sind. Vor der Verantwortung, die damit einhergeht, können sie nicht fliehen. Sie haben den Mut, sich dem Offensichtlichen zu stellen: Wir sind dran!
Was es auch ist — wir haben die Macht, jede Schreckensmeldung umzukrempeln und einen Appell in ihr wahrzunehmen. In jedem Ereignis steckt die Chance, unser Bewusstsein weiter wachsen zu lassen. Wenn um uns herum die Artenvielfalt schwindet, dann kann uns das vor Augen führen, wie einzigartig und unersetzlich jedes einzelne Lebewesen auf diesem Planeten ist, wir selbst eingeschlossen. Jeder Konflikt kann ein Aufruf sein, uns in unsere Schwächen hineinzuwagen und Frieden mit ihnen zu schließen. Jede Krankheit, die unsere Immunität bedroht, kann eine Gelegenheit sein, uns darüber klarzuwerden, was ihr psychisches Pendant ausmacht: unsere Identität.
Die zunehmende Überwachung kann als ein Appell an unsere Souveränität gedeutet werden. Wenn wir nicht mehr wissen, wem oder was wir glauben sollen, dann ist es an uns, uns auf die Suche nach unserer eigenen Wahrheit zu machen. Lassen wir uns also von dem berühren, was um uns herum geschieht. Nehmen wir den sich erhitzenden Planeten und die wachsende soziale Ungerechtigkeit zum Anlass, die Schichten der Bequemlichkeit abzustreifen und unser revolutionäres Potenzial freizusetzen. Trennen wir uns von dem, was uns nach unten zieht, und kommen wir gemeinsam ins Handeln.
Der Stab in meiner Hand liegt nun ganz ruhig. Für heute hat er seinen Teil getan. Vielleicht hat er kein Wunder bewirkt. Wie sollte ein Plastikstab mit rosa Glimmer und einem Stern an der Spitze auch magische Kräfte entfalten? Sei’s drum. Vielleicht ist es auch gar nicht nötig, dass Wunder geschehen. Es reicht, wenn wir daran glauben, dass sie möglich sind und uns entsprechend in Bewegung setzen.