Ich bin gerade aus dem Wald zurück, wo ich am Ende einer unvergeßlichen, siegreichen Woche die letzten zwei Tage noch den Aufbau eines neuen Lagers unterstützt habe. Der Prinz grüßt die dortigen Waldkrieger.
Und quer durch den Wald gilt: die Baumhäuser wachsen wieder in den Himmel, überall entstehen neue Strukturen.
Die Polizei dagegen hat sich heute Morgen aus dem Wald zurückgezogen. Die Beamten sind in ihrer übergroßen Mehrheit zweifellos heilfroh darüber. Die Gesichter der Polizisten, als am Samstag wieder die ersten Hämmer im Wald erklangen, waren unbezahlbar.
Die Logistik der Waldmenschen ist sensationell. Die Unterstützung von außen ist enorm. Schlafsäcke, Zelte, Lebensmittel, Wasser, Werkzeug, Baumaterial - alles kommt von außen in den Wald. Dazu gehen jeden Tag 2000+ Euro Spenden ein.
Die ersten Küchen laufen bereits wieder, Komposttoiletten werden gebaut. Es herrscht eine rege Bautätigkeit vor, um einige Baumhäuser rechtzeitig winterfest zu bekommen. Am 24. - 28. Oktober gibt es die nächsten Aktionstage von „Ende Gelände“, zu denen erneut Tausende kommen werden. Wer kann, komme unbedingt hin!
Pfadfinder, Krieger, Wandergesellen
Es entstehen nicht nur „Strukturen“. Eine neue Generation von Aktivisten findet sich im Hambacher Wald. Pfadfinder und Wandergesellen spielen eine herausragende Rolle. Die Lieder und Traditionen der bündischen Jugend sind stark im Hambacher Wald. Gestern am Lagerfeuer lag der Altersdurchschnitt bei 22 oder 23 Jahren, würde ich schätzen.
Diese jungen Waldkrieger sind von jeder Form von Parteipolitik und auch von Greenpeace, Gewerkschaften und jeder anderen Großorganisation herzlich unberührt.
Das bedeutet nicht, dass solche Akteure keine Rolle spielen im Kampf gegen die Braunkohle und für den Wald. Die Gewerkschaften spielen bisher zum Beispiel eine sehr schlechte Rolle, der BUND eine herausragend gute. Die Grünen spielen eine sensationell verlogene Rolle, einige örtliche Strukturen der LINKEN, etwa im Erftkreis, sind seit Jahren für den Hambacher Wald aktiv.
Aber im Wald selbst gelten eigene Gesetze. Die Menschen entwickeln neue Formen des Zusammenlebens, die mit der Unkultur vieler traditionspolitischer Moloche nicht zusammengehen. Alle reden sich im Wald mit „Mensch“ an. Der Egofaktor ist extrem zurückgefahren. So richtig berühmt ist keiner, aber irgendwie sind alle berühmt. Handytelefonate werden außerhalb des Waldes erledigt. Vor taktischen Besprechungen werden alle Handys eingesammelt. Eine Erlösung!
Strategische Dezentrale
Die Idee eines strategischen Zentrums, das die Aktionen im Hambacher Wald quasi von hinten her steuert, ist nun angesichts der Professionalität und taktischen Finesse des Widerstands naheliegend. Sie entspricht aber nicht der Realität.
Es gibt natürlich Absprachen, Kommunikationskreisläufe und einen Aktionskonsens. Aber vor allem gibt es eine unübersehbare Zahl von Kleingruppen und aktiven Zusammenhängen, die selbstorganisiert ihre jeweilige Arbeit machen.
Und es gibt sechs Jahre Erfahrung in diesem Wald und in dieser Bewegung. Ein Zentralkomitee, einen Vorstand oder Führer gibt es nicht, und ich hatte auch zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, dass das irgendwie sinnvoll wäre oder irgendwem fehlt.
Es gibt eine großartige Dynamik der Selbstorganisation in einem unübersehbaren Netz, das den Myzelien der Pilze eher verwandt ist als den Organigrammen zentralistischer Strukturen.
Helden lachen, Helden weinen
Identitätsfragen und quasireligiöse Zugehörigkeiten zu Ideologien oder Organisationen sind derweil von nachgeordnetem Interesse. Die Menschen im Wald sind halt Mensch. Und diese Menschen sind emotional intakt oder heilen miteinander aus. Sie lachen mit ganzer Seele und sie weinen ohne Scham. Die Achtsamkeit untereinander ist grenzenlos.
Denn diese Menschen haben alles durchlebt.
Die Eroberung des Waldes. Den jahrelangen Aufbau einer neuen Welt im Schatten der Bedrohung. Hoffnung und Verzweiflung. Den Angriff einer wahren Armee, mit Räumpanzern, schweren Maschinen, und dem SEK in den Bäumen. Den Tod eines guten Freundes. Die restlose Zerstörung ihrer wunderschönen Waldbauten, ihrer Heimat. Die Abholzung der Bäume, in und mit denen sie gelebt haben. Und dann, als die Niederlage unausweichlich schien: eine Welle der Solidarität, den Einzug von Hunderten, dann Tausenden und am Ende Zehntausenden aus ganz Europa.
Schließlich der Triumph des Rodungsstopps, die erstweilige Rettung des Waldes.
Die Waldmenschen schreiben sich ein in die Geschichte der großen Kämpfe. Wackersdorf ist als positiver Mythos in aller Munde. Ein Vorbild, wie man siegen kann. Der Hambacher Wald gehört schon jetzt in diese Reihe unserer seltenen, großen Siege.
Die Krieger im Wald sind sich dessen bewusst. Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg werden begeistert aufgenommen oder sind bereits bekannt. Es gibt einen Hambi-Text auf die Warschawjanka, das legendäre Arbeiterlied Polens: „Auf die Barrikaden! Auf die Barrikaden! Erstürme die Welt, Du Arbeitervolk“.
Gewaltlosigkeit & Militanz
Auch meine „Kleine Geschichte des Barrikadenbaus“ wurde sehr gerne gehört. Von Dresden 1848, als der Architekt Gottfried Semper den Plan für die Anordnung der Barrikaden entwarf, über die Frauen der Pariser Commune 1871 bis hin zur „Welthauptstadt der Barrikadenbaukunst“, wie Friedrich Engels Barcelona nannte.
Dieser schöne Titel geht in unserer Zeit an den Hambacher Wald. Und am Tag der Großdemonstration fanden im Wald wahre Massenworkshops in diesem alten Handwerk statt.
Nebenbei haben die Menschen in diesem Wald eine zentrale Dauerstreitfrage der Linken aufgelöst. Es ist dies die leidige „Gewaltdebatte“. Die Baumhirten waren zu allem bereit und haben alles riskiert, oft das Leben. Aber sie gaben sich niemals dazu her, ihr eigenes Menschsein zu verraten. Sie haben bewiesen, dass Gewaltlosigkeit und Militanz keinerlei Widerspruch darstellen.
Die Besetzer sind gewaltlos geblieben. Konsequent. Sie wussten auch, dass die Polizei nichts lieber hätte, als dass man durch Gewalt von Seiten der Besetzer Vorwände für noch brutaleres Vorgehen in die Hand bekäme.
Also blieben die Besetzer gewaltlos. Sie waren offensiv, sie haben gekämpft wie die Löwen, mit Zähigkeit und kleinen Gemeinheiten, als Viele und mit geheimen Aktionen. Sie haben vier Meter hohe Barrikaden gebaut und tiefe Gräben gezogen. Und sie haben sich niemals geschlagen gegeben. Aber sie blieben bei all dem gewaltlos.
Diese Kombination von militanter Entschlossenheit und Gewaltlosigkeit hinterließ die Eliteeinheiten der Polizei fassungs- und oftmals hilflos.
Die Blätter von Lorien
Menschen haben sich in die Barrikaden um Oaktown, Cozytown, Gallien und Beechtown einbauen lassen, um deren Räumung zu erschweren. Sie haben sich angekettet, einbetoniert und eingemauert, um Bäume, Wälle und Bauten zu schützen.
Menschen hielten tagelang in einer Hängematte in schwindelerregender Höhe aus. Der Einfallsreichtum der Baumschützer war eine unerschöpfliche Quelle immer neuer, zum Teil geradezu aberwitziger Methoden, die Räumung immer wieder zu verzögern.
In Lorien, das als letztes fiel, im wunderschönen Lorien, dem magischen Zentrum des Waldes, wurde mitten in der Belagerung konsequent weitergebaut, am Tag und vor allem in der Nacht. Die Polizei schaffte am ersten Tag der Räumung mit Ach und Krach den Abbau eines Tripods - einer aus drei Baumstämmen und einer Plattform gebauten Struktur.
Am nächsten Tag stand ein neuer Tripod in Lorien, der die Polizei wiederum bis in den Nachmittag hinein beschäftigte. Noch während die Kletterspezialisten der Höhlenerkundungseinheit der Polizei sich Ast für Ast heranarbeiteten, haben die Besetzer von Lorien immer weitergebaut, neue Plattformen noch weiter oben im Baum errichtet oder sich dort mit Hängematten verschanzt.
Dieser Heldenmut hat die Herzen von Millionen Menschen entflammt. Dies ist keine Übertreibung, wenn alleine das Video einer einzigen Aktivistin, in schlechter Ton- und Bildqualität, über 3,5 Millionen Zugriffe auf Facebook generiert. Wir reden hier tatsächlich über einen politischen Effekt auf Millionen Menschen.
Wie das Vorbild in J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“ kam der Entlastungsangriff jedoch zu spät, um die alte Welt und Lorien zu retten. Dort, wo der Wald jetzt tiefe Wunden aufweist, zeugen noch die Kettenspuren der Räumpanzer und stumme Schreie von epischen Schlachten und einer verzauberten Welt, die hier vor wenigen Tagen unterging.
Aber der Wind hat die Blätter Loriens über den ganzen Hambacher Wald verteilt und sogar noch weiter, in die Welt hinaus getragen. Und wo Loriens Blätter hinfallen, so will es die neuzeitliche Sage, da wachsen Baumhäuser von nie gesehener Schönheit in den Himmel, immer höher hinauf: der Erinnerung an das untergegangene Lorien im Hambacher Wald entgegen.
Heldentum & Juristerei
Die Helden des Waldes sind auch die Sieger des Waldes. Sie haben durch ihren zähen und erbitterten Widerstand das Zeitfenster offengehalten, damit die Massenmobilisierung am 6. Oktober in dieser Form stattfinden und der öffentliche Druck seine Wirkung entfalten konnte.
Und es soll bitte niemand glauben, dass das Münsteraner Gerichtsurteil zum Rodungsstop juristische Gründe gehabt hätte. Da wurden schon ganz andere Schweinereien durchgewunken rund um diesen Braunkohleabbau. Ganze Kleinstädte hat RWE enteignet und die Gerichte haben es abgesegnet. Wie in Manheim, wo weiterhin jeden Tag die Häuser fallen - auch so ein Thema, mit dem man sich aktivistisch beschäftigen sollte.
Der jetzige Entscheid des Gerichts liegt nicht an einer einzigen Fledermausart, so schützenswert die Bechsteinfledermaus selbstvertändlich ist. Das liegt an einer Art von Aktivismus, der den politischen Preis für die Abholzung des Waldes in unermeßliche Höhen und die Aktien von RWE und die Umfragewerte der CDU in NRW in den Keller getrieben hat.
Jetzt ist der Wald erst einmal gerettet. Der Rodungsstopp wird jede Baumfällung in den kommenden zwei Jahren unmöglich machen. Der Wald kann sich erholen. Die Strukturen im Wald können wieder aufgebaut werden. Wir haben noch nicht das Finale gewonnen, in dieser Auseinandersetzung. Aber ein 6:0 im Rückspiel des Halbfinales gegen einen vermeintlich unbezwingbaren Gegner ist durchaus ein ausreichender Anlass, einen Sieg zu feiern.
Große Siege und eine neue Offensive
Man muss große Siege aber auch gut verwalten und nutzen, wenn man weitere Siege einfahren will. Und nachdem wir mit großen Siegen eher wenig Erfahrung sammeln konnten in den letzten drei Jahrzehnten, haben wir wenig Routine darin, große Siege effektiv zu nutzen.
Den Sieg auszubauen bedeutet jetzt: in die Offensive überzugehen. Nicht in eine hektische Offensive. Sondern in eine gut geplante, auf lange Sicht angelegte Offensive, die den Geländegewinn des jetzigen Sieges nutzt, um dem Gegner weitere Niederlagen beizufügen.
Denn immer noch verrichten gigantische Monster ihr Zerstörungswerk. Das Grundwasser rund um den Tagebau wird abgepumpt. Das Kieswerk ist noch in Betrieb. Die Kohlebahn fährt auch noch, also: meistens.
Während im Wald neue Strukturen entstehen und wahre Triumphbögen in die Bäume gebaut werden, geschieht deshalb genau das Richtige, indem die Störaktionen gegen den Braunkohleabbau weitergehen und an Intensität gewinnen.
Gestern wurde einmal mehr die Kohlebahn blockiert. Am Tag der Großdemonstration kam der Tagebau für einige Stunden komplett zum Stillstand. Und von vielen kleineren Aktionen erfährt man gar nichts und das darf auch so bleiben.
Es geht neben der Rettung dieses einmaligen Waldgebietes schließlich darum, eine radikale Öko-Wende durchzusetzen. Rund um den Hambacher Wald die Entscheidungsschlacht gegen den Wahnsinn der Kohleverfeuerung zu erzwingen und zu gewinnen, ist dafür der strategische Schlüssel. Und er liegt jetzt in den Händen einer Massenbewegung.
Ende Gelände, Waldspaziergang, Geld, Werkzeug, Material
Das Feld unterhalb der Abbruchkante liegt jetzt offen vor uns. Die herausragenden Aktivisten von „Ende Gelände“ werden es bei ihrem Aktionscamp vom 24. - 28. Oktober erneut berennen oder sie werden sich eben eine andere Aktionsidee von gewohnter Brillanz ausgedacht haben oder noch ausdenken.
Weiterhin gibt es an jedem Sonntag den Waldspaziergang. Es ist von großer Bedeutung, dass dieses sonntägliche Ritual weiterhin massenhaft ausgeübt wird.
Auch Geld, Material und handwerkliche Unterstützung werden dringend benötigt, denn die Menschen im Wald haben nur mehr wenig Zeit, sich auf den Winter im Wald vorzubereiten. Sie sind weiterhin auf aktive Solidarität angewiesen.
Vor allem aber werden weitere Siege benötigt, wenn wir in diesem Land und in unserer Zeit endlich aus der Defensive herauskommen wollen. Kantersiege wie den vom Hambacher Wald braucht es auch gegen Rassisten, an der Streikfront, für höhere Renten, gegen den Plastikwahnsinn, gegen Aufrüstung und so weiter und so fort…
Aber das siegen lernt man beim gewinnen. Manche Orte sind dafür besser geeignet als andere. „Hic Hambus, hic salta!“, würde der alte Aesop gesagt haben: „Hier ist der Hambacher Wald, hier springe !“ Und beweise Deine Kraft, Du Mensch.