Triumph des Willens
Der Elitarismus bedient sich bis heute medialer Inszenierungen eines Führerkults, der Zweifel und Gegenmeinungen ausklammert. Exklusivabdruck aus „Umgekehrter Totalitarismus“.
Sie predigen öffentlich Demokratie und besaufen sich heimlich am Wein des Autoritarismus. Eliten heute hängen sich gern ein tolerantes Mäntelchen um, um dann umso ungenierter von „oben“ nach „unten“ durchzuregieren. Sie spielen dabei geschickt auf der Klaviatur archaischer Gefühle, die ihre Untergebenen trotz Jahrzehnten fassadendemokratischer Prägung in Wahrheit nie vollständig unterdrücken konnten. Wem von Staats wegen Freiheit befohlen wurde, so wissen die Weltenlenker, der sehnt sich insgeheim danach, dominiert zu werden. Wer von den langwierigen wägenden und kontroversen Prozessen der Demokratie genug hat, der wünscht sich Eindeutigkeit: schnelle Entscheidungen, durchgesetzt von einem starken Anführer, widerstandslos umgesetzt von einer hingebungsvollen Befehlsempfängerherde. Die äußerliche Nüchternheit der parlamentarischen Inszenierung verlangt gelegentlich nach ihrem Gegenteil: Pomp, Pathos und Symbolik. Dies zeigen besonders deutlich bestimmte Propagandainszenierungen in Geschichte und Gegenwart. Die Art, wie heutige Willensheroen der US-Politik in den Medien dargestellt werden, unterscheidet sich nur unwesentlich von der Propaganda in Diktaturen.
„ … (vermittelt) den hohen Rang und den Reichtum eines Reichs, das zu einer Großmacht geworden (ist)“ — deutscher Beobachter bei der Einweihung der neuen Reichskanzlei 1939 (1).
I
Triumph des Willens — Leni Riefenstahls berühmte (oder berüchtigte) Propaganda-Huldigung an Hitler, in der sie den Reichsparteitag der NSDAP 1934 in Nürnberg dokumentiert — beginnt mit einer dramatischen und äußerst aufschlussreichen Einstellung. Die Kamera ist auf einen dicht bewölkten Himmel gerichtet. Wie von Zauberhand teilen sich plötzlich die Wolken, ein kleines Flugzeug gleitet durch sie hindurch und stößt hinab zur Erde. In Uniform entsteigt ihm der „Führer“ und schreitet triumphierend an der jubelnden Menge und den Parteigetreuen vorbei.
Am Ende des Films richtet sich das Auge der Kamera auf eine scheinbar endlose Parade, auf Reihe um Reihe uniformierter Nazis, die im Licht von Fackeln Schulter an Schulter im Gleichschritt dahinmarschieren. Noch heute hinterlässt der Film den Eindruck stählerner Entschlossenheit einer Macht, die auf Eroberung aus ist, einer geistlosen Macht, deren Gewalt mythisch eingehüllt ist.
Am 1. Mai 2003 wurde den Fernsehzuschauern in einem ebenfalls sorgfältig inszenierten „dokumentarischen“ Filmbericht eine amerikanische Version strenger Entschlossenheit und ihrer Verkörperung in einem Führer präsentiert. Eine Militärmaschine stößt vom Himmel herunter und landet auf einem Flugzeugträger. Die Kamera erzeugt die Illusion eines weit draußen auf hoher See befindlichen Kriegsschiffs als Symbol für eine Macht, die geografisch nicht auf ihr Heimatland beschränkt ist und sich überall auf der Welt durchsetzen kann.
Der Führer erscheint — nicht als schlichter, demokratischer Amtsinhaber, sondern als jemand, dessen symbolische Autorität antidemokratisch ist. Er schreitet entschlossen voran, den Fliegerhelm unter den Arm geklemmt, ausstaffiert wie ein Militärpilot. Über ihm das Banner „Mission Accomplished“. Er salutiert vor einer arrangierten Gruppe von militärischem Personal in Uniform.
Kurz darauf erscheint er erneut, wieder stolzierend, dieses Mal aber zivil gekleidet, ohne jedoch die Aura antiziviler Autorität abzulegen. Gebieterisch spricht er vom inzwischen geräumten Deck des Flugzeugträgers Abraham Lincoln, wobei die Militärangehörigen akkurat um ihn herum geschart sind. Er steht allein in einem rituellen Kreis, der das Sakrament von Führung und Gehorsam symbolisiert. Auf Kommando wird geklatscht und gejubelt. Er beschwört den Segen einer höheren Macht. Auch er verspricht einen Triumph des Willens:
Die USA werden:
- sich für das Streben nach Menschenwürde einsetzen;
- Allianzen stärken, um den globalen Terrorismus zu besiegen;
- (…) regionale Konflikte entschärfen;
- unsere Feinde daran hindern, uns (und) unsere Verbündeten (…) mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen;
- eine neue Ära wirtschaftlichen Wachstums einleiten;
- Spielräume für Entwicklung erweitern, indem sie Gesellschaften öffnen und die Infrastruktur der Demokratie aufbauen;
- Amerikas nationale Sicherheitseinrichtungen umgestalten (2).
Mythos umhüllt von Macht? Wille zur Macht?
II
Beide Inszenierungen sind Beispiele für den spezifisch modernen Modus der Mythenbildung. Es handelt sich um reflektierte Konstrukte der visuellen Medien. Kino und Fernsehen teilen die Eigenschaft, in einem bestimmten Sinne tyrannisch zu sein. Sie sind imstande, alles auszublenden, zu eliminieren, was Kompetenz, Ambiguität oder Dialog ins Spiel bringen könnte, alles, was die ganzheitliche Kraft ihrer Schöpfung, des Gesamteindrucks schwächen oder kompliziert machen könnte.
Auf eine sonderbare, gleichwohl bedeutsame Weise stehen diese medialen Effekte im Einklang mit religiösen Praktiken. In vielen christlichen Glaubensgemeinschaften nimmt der Gläubige auf ähnliche Weise an den Zeremonien teil, wie der Kino- oder Fernsehzuschauer an dem dargebotenen Spektakel teilnimmt.
In keinem der beiden Fälle partizipieren sie so, wie es der demokratische Bürger tun sollte, nämlich durch aktive Beteiligung an Entscheidungen und Teilhabe an der Machtausübung. Sie nehmen als Kommunikanten an einer Zeremonie teil, die von den Zeremonienmeistern vorgeschrieben ist. Die in Nürnberg oder auf der USS Abraham Lincoln Versammelten hatten an der Macht ihrer Führer keinen Anteil. Ihre Beziehung beruhte auf Thaumaturgie: Sie wurden von einer wundersamen Macht nach deren Gutdünken und zu einem Zeitpunkt von deren Wahl begünstigt.
Die den Träumen von Ruhm, von einem „amerikanischen Jahrhundert“, von einer Supermacht zugrunde liegende Metaphysik offenbarte sich in den Überlegungen eines hochrangigen Regierungsbeamten, als er oder sie den Reportern eine spezifische Sichtweise der „Realität“ zuschrieb und diese dann mit derjenigen der Regierung kontrastierte: Reporter und Kommentatoren gehörten „zu dem, was wir (das heißt die Regierung) die realitätsbasierte Gemeinschaft nennen, die glaubt, dass Lösungen aus dem vernünftigen Studium der erkennbaren Realität hervorgehen. Aber so funktioniert die Welt längst nicht mehr. Wir sind ein Imperium und schaffen unsere eigene Wirklichkeit. Und während Sie sich mit dieser Realität beschäftigen — nach Maßgabe der Vernunft —, werden wir bereits wieder handeln und andere neue Wirklichkeiten schaffen, mit denen Sie sich dann ebenfalls beschäftigen können, und auf diese Weise werden sich die Dinge klären. Wir sind Akteure der Geschichte (…) und Ihnen allen wird nichts übrig bleiben, als sich mit unseren Handlungen zu beschäftigen“ (3).
Es wäre schwierig, einen loyaleren Vertreter des totalitären Glaubensbekenntnisses zu finden, wonach wahre Politik im Wesentlichen eine Angelegenheit des „Willens« ist, der Entschlossenheit, mit der Macht umzugehen und sie einzusetzen, um die Wirklichkeit umzugestalten. Die Aussage ist ein passendes Epigraph zu Riefenstahls Triumph des Willens — ist sie zugleich ein mögliches Epitaph für die Demokratie in Amerika?
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie“ von Sheldon S. Wolin.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Zitiert in Richard J. Evans, Das Dritte Reich, Bd. 11/1: Diktatur (München: DVA, 2006), Seite 225.
(2) National Security Strategy of the United States, Abschnitt. 1, Seite 3 folgende, folgend NSS. Ich habe den Text nytimes.com vom 20. September 2002 entnommen. Dieses Dokument wurde vom Nationalen Sicherheitsrat als „Erklärung der Regierungspolitik“ zwecks Weiterleitung an den Kongress verfasst und im September 2002 veröffentlicht.
(3) Zitiert in Ron Suskind, „Without a Doubt«“ New York Times Magazine, 17. Oktober 2004.