Wie viele Kinder- beziehungsweise Schüler-Selbstmorde verträgt eine Gesellschaft, bevor sich betroffene Eltern und Lehrkräfte dazu aufraffen, das Opferwerden durch Gewalt — diesen „stillen Alptraum“ — nicht mehr zu tolerieren, sondern zu stoppen? Wissen sie nicht, dass von der Politik, den vorgesetzten Schulbehörden wie auch von Eltern- und Lehrerorganisationen keinerlei Unterstützung zu erwarten ist?
In Nordnorwegen führten Anfang der 1980er-Jahre drei Schüler-Selbstmorde als Folge schwerer Gewalttätigkeiten durch Gleichaltrige dazu, dass der Psychologe Dan Olweus im Auftrag des norwegischen Erziehungsministeriums im ganzen Land eine Anti-Tyrannisierungs-Kampagne („Antibullying Campaign“) durchführte. Im Laufe von nur zwei Jahren verringerte dieses Interventionsprogramm die unmittelbaren und mittelbaren Gewaltausübungen um 50 Prozent.
Zunehmende Angst und Aggressivität an deutschen Schulen
In meinem Offenen Brief „J‘accuse…!“ an den Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier vor genau einem Jahr, in dem ich ihn (ohne Erfolg!) um Unterstützung bat, schrieb ich:
„Die Gewalt in unserem Land nimmt epidemische Ausmaße an. Es vergeht kein Tag, an dem die Medien nicht über Gewalttaten an Schulen berichten. Schwere körperliche Übergriffe, Messer und andere Waffen spielen dabei eine immer größere Rolle. Die Brutalität nimmt zu und zugleich nehmen Hemmschwellen für aggressives Verhalten ab. An vielen Schulen herrscht ein Klima der Angst und Aggressivität. (…).
Die Not der Lehrerinnen und Lehrer ist inzwischen so groß, dass sie für ihre Schulen Sicherheitsdienste einstellen und sich in Brand-Briefen Hilfe suchend an die Öffentlichkeit wenden. Doch sie werden in der Regel im Stich gelassen. Wenn es uns nicht gelingt, diese Gewalt zu stoppen, wird sie sich weiter ausbreiten und nur noch schwer einzudämmen sein“ (1).
Am 18. Dezember 2018 befasste sich auch die ARD-Sendung „Report Mainz“ mit dem Thema „Kinder brutal: die zunehmende Gewalt von Minderjährigen überfordert Schule“. Berichtet wurde vom „Tatort Schule“, von einer „beunruhigenden Statistik“ sowie von einem „dramatischen Anstieg“ und einem „neuen Ausmaß schwerer und gefährlicher Körperverletzungen“ unter Schulkindern (2).
Inzwischen hat sich an einer Berliner Grundschule ein elfjähriges Mädchen das Leben genommen. Der „Tagesspiegel“ zitiert am 3. Februar 2019 unter der Überschrift „Tödliches Mobbing an Berliner Grundschule. Eltern berichten über Gewalt an ihrer Schule — und Beschwichtigungen“ einen Vater mit der Aussage:
„Seit mehr als einem Jahr gibt es massive Mobbingfälle an der Schule. Es wurde immer wieder den Lehrern und der Schulleitung gegenüber angesprochen, vom Elternbeirat, aber auch von Müttern und Vätern, deren Kinder betroffen waren. Doch man hat alle Fälle einfach abgetan — nach dem Motto, das sei doch alles nicht so tragisch, oder die gemobbten Kinder seien ja auch nicht gerade Engel“ (3).
„Peer Victimization“ — ein „stiller Alptraum“ für immer mehr Schüler
Der renommierte Kriminologe und Psychologe Professor H. J. Schneider bezeichnete die Gewalt in der Schule als verborgene und tolerierte Gewalt. Das Kernproblem der Gewalt in der Schule sei das Problem des Tyrannisierens (Bullying) von Schülern oder Schülerinnen durch Schüler oder Schülerinnen. Bei dieser Viktimisierung durch Gleichaltrige (Peer Victimization) handele es sich um ein verstecktes, verborgenes Opferwerden durch Gewalt, um einen „stillen Alptraum“ vieler Kinder. Ihr Selbstkonzept werde dadurch nachhaltig geschädigt und ihr Selbstwertgefühl geschwächt. Instabile und unbehütete Schüler liefen zudem Gefahr, die vermeintlich mutigen Schläger, die in Wirklichkeit Feiglinge sind, als Vorbilder zu glorifizieren und nachzuahmen (4).
Über die Opfer und deren Lehrer schreibt er:
„Auf dem kindlichen und jugendlichen Opfer lastet ein enormer gesellschaftlicher Druck, seine Viktimisierung nicht aufzudecken. (...) Das Opfer verneint seine Viktimisierung. (...) Die meisten Lehrer bemerken das Tyrannisieren nicht oder wollen es nicht wahrnehmen. Sie unternehmen wenig, um ihm Einhalt zu gebieten. Meist schauen sie weg, um sich Schwierigkeiten und Belastungen zu ersparen“ (5).
Fatales Versagen von Politik und Gesellschaft
Am 19. Dezember 2018 schrieb ich in einem Artikel in der NRhZ „Gewalt in der Schule — ein fatales Versagen unserer Gesellschaft!“:
„Warum bringen wir in unserem Land nicht den Willen auf, die ausufernde Gewalt einzudämmen, wo wir doch das nötige Wissen besitzen? Wir weichen immer wieder vor der Gewalt zurück und ermutigen damit die Gewalttäter — anstatt ein entschiedenes Stoppzeichen gegen jede Form der Gewalt zu setzen. Warum führen wir keine breite gesellschaftliche Werte-Diskussion? Sie müsste geführt werden ohne Tabuisierung und Abstempelung anderer Meinungen und sich an den einschlägigen internationalen Forschungsergebnissen orientieren.
Oder wollen wir dieses Problem in Wahrheit nicht lösen, weil die herrschenden Akteure in der Politik eine aggressive Jugend für zukünftige politische Entwicklungen im In- und Ausland gut gebrauchen können? Die psychologische Kriegsführung läuft ja bereits auf Hochtouren!“ (6).
Auf meinen bereits erwähnten Offenen Brief an den deutschen Bundespräsidenten und von den zirka einhundert anderen Adressaten — Gewerkschaften, Kultusminister, Lehrer- und Elternverbände —, denen ich den Brandbrief zur Kenntnisnahme und mit der Bitte um Unterstützung weiterleitete, erhielt ich keine einzige Antwort.
Erweitertes Interventions- und Präventionsprogramm nach Dan Olweus
Der norwegische Psychologe Professor Dan Olweus, der als Gründervater der Gewaltprävention in der Schule gilt, macht in der Zusammenfassung seines bereits 1993 erschienenen Buches „Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollen — und tun können“ (7) deutlich, dass wir im Besitz des Wissens sind, was zu tun sei. Nötig sei aber der Wille, einem Zustand entgegenzuwirken, der so viel Leid und Elend (und in Extremfällen sogar Suizid) für viele junge Menschen bedeute.
Auf der Grundlage einer Reihe von Grundprinzipien, die bei Kindern die Entwicklung positiven — also prosozialen — Verhaltens anstatt aggressiven Verhaltens begünstigen, entwickelte Olweus eine Reihe spezieller Maßnahmen, die auf Schul-, Klassen- und individueller Ebene angewendet werden können und bei der alle Lehrkräfte, Eltern und Schüler aktiv beteiligt sind.
Die Maßnahmen seines Interventionsprogramms führten in Norwegen zu einer Verringerung der unmittelbaren und auch der mittelbaren Gewaltausübung — und zwar in der Schule, in den jeweiligen Familien und auch in der Umgebung der Schule. Im Laufe von zwei Jahren ging nicht nur das Tyrannisieren um 50 Prozent zurück; auch Diebstähle, Vandalismus, Schlägereien und das Schuleschwänzen verminderten sich — und die Zufriedenheit der Schülerinnen und Schüler mit dem Schulleben nahm zu.
Das Interventions- und Präventionsprogramm von Dan Olweus sollte jedoch um einige pädagogisch-psychologische Elemente erweitert werden, damit Kinder prosoziale Verhaltensalternativen nicht nur lernen und üben, sondern auch internalisieren. Dann ist die Chance gegeben, dass sie im späteren Leben in persönlichen und gesellschaftlichen Konfliktsituationen auf gewaltfreie Lösungen zurückgreifen.
Gewaltprävention in der Schule leistet schließlich einen Beitrag zur Friedenserziehung. Die Stichworte lauten: Ein deutliches Stoppzeichen gegen Gewalt setzen, Wiedergutmachung statt Strafe, geduldige Anleitung zu friedlichen Konfliktlösungen, Aufbau positiver Werte und Schulerfolg als Schutzfaktor gegen Gewalt (8).
Quellen und Anmerkungen:
(1) NRhZ Nr. 651 vom 21.03.2018
(2) A.a.O.
(3) htpps://www.tagesspiegel.de/berlin/tragischer-vorfall-toedliches-mobbing-an-berliner-grundschule/23940174.html
(4) Schneider, H. J. (2001) Kriminologie für das 21. Jahrhundert. Münster-Hamburg-London, S. 234f.
(5) A.a.O.
(6) NRhZ Nr. 687 vom 19.12.2018
(7) Bern; Göttingen; Toronto; Seattle
(8) Hänsel, R. und R. Gewaltprävention in der Schule als Beitrag zur Friedenserziehung. In: Krebs, U. / Forster, J. (Hrsg.) (2003). Vom Opfer zum Täter? Gewalt in Schule und Erziehung von den Sumerern bis zur Gegenwart, S. 219-235