Das Sprichwort, dass etwas „vor die Hunde geht“, erhält in Schanghai eine gänzlich neue Bedeutung. Künstliche Roboterhunde patrouillieren, Warnhinweise „bellend“, durch die Straßen, während echte, lebende Hunde getötet werden, um das „Infektionsgeschehen“ einzudämmen.
Selten wurde eine sterile, nekrophile Technokratie so treffend veranschaulicht wie in diesem Fallbeispiel. Das Leben, das Lebendige weicht der Technik, der kalten Rationalität, dem bloßen, nackten Überleben.
„Kontrollieren Sie Ihre Sehnsucht nach Freiheit!“
Dazu mahnten Drohnen die eingepferchten Bürger Schanghais, während sie über die Hochhausschluchten surrten. Konkret übersetzt lautete die Anweisung: „Kontrollieren Sie die Sehnsucht Ihrer Seele nach Freiheit. Öffnen Sie nicht das Fenster und singen Sie nicht.“ Das Wort „Seele“ verleiht der ganzen Menschenverachtung noch ein zusätzliches Gewicht. Die Menschen werden dazu aufgefordert, sich von ihrem seelischen Verlangen abzuwenden. Das ist der Traum eines jeden technokratischen Herrschers. In Abwendung von Immanuel Kant lässt sich sagen, dass der Mensch nicht länger selbst ein Zweck ist, sondern zu einem Mittel für Ziel X degradiert wird.
Da draußen — so das offizielle Sujet — wütet ein böses Virus. Die Menschen müssten folglich ihr ganzes Sein auf den Vorwurf reduzieren, sie seien wandelnde Keimüberträger, und sich in einer betonierten, quadratischen Quarantäne verbarrikadieren.
Bevor wir uns genauer mit dem auseinandersetzen, was sich derzeit in Schanghai zuträgt, muss darauf hingewiesen werden, dass die zahlreichen Videos auf Social Media nicht mit absoluter Sicherheit als authentisch verifiziert werden können. Die mittlerweile im erschreckenden Maß entwickelten Technikmöglichkeiten der Manipulation wie VFX, Deep Fake und Bluestream bergen ein bislang fatal unterschätztes Potenzial der Realitätserzeugung beziehungsweise der Verzerrung selbiger, bei welcher der Rezipient es nicht länger Kraft seiner Sinne vermag, zwischen Realität und Fake zu unterscheiden. Was die Motivation hinter derlei potenziellen Fakes sein könnte, steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Und selbst wenn diese Aufnahmen zu 100 Prozent echt sein sollten, fehlt uns natürlich der raumzeitliche Kontext: Was hat sich vor und nach der Videoaufzeichnung an diesem Ort zugetragen? Hier sind der Beobachtung und der Bewertung des Gesehenen bestimmte Grenzen gesetzt.
Doch auch ohne die Gewissheit um die Echtheit der Inhalte der im Nachfolgenden analysierten Video- und Social-Media-Beiträge, lohnt es sich, die dazugehörigen Gedanken auszuformulieren. Auch gesetzt dem Fall, dass es sich bei allen viral gehenden Videos in irgendeiner Weise um Fakes handeln sollte, haben sie dennoch eine wahrhaftige Basis, als dass sie reale Missstände überspitzt darstellen und sichtbar werden lassen.
Schreie in den Hochhausschluchten
Die „Schreie von Schanghai“ gingen weltweit durch Mark und Bein. Ein Phänomen, welches es wohl in dieser Form wohl so noch nicht gab. Dabei beschrieb Michel Foucault die Ansätze diesen Zustand bereits im Kontext der Pest im 17. Jahrhundert:
„Schließung der Stadt (…); Verbot des Verlassens unter Androhung des Todes; Tötung aller herumlaufenden Tiere (…). Am bezeichneten Tage muß sich jeder in seinem Haus einschließen (…). Der Syndikus schließt selbst die Tür eines jeden Hauses von außen ab. (…). Jede Familie muß ihre Vorräte gespeichert haben (…). Müssen Leute unbedingt aus dem Haus gehen, so geschieht es nach einem Turnus, damit jedes Zusammentreffen vermieden wird. (...) Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. Die Überwachung ist lückenlos“ (1).
Nun befinden wir uns in diesem Falle weder im 17. Jahrhundert noch in Europa, sondern in dem Hightech-Überwachungsstaat China, dessen technische Möglichkeiten das eben beschriebene um ein Vielfaches potenzieren:
→ Bei dem „Syndikus“ muss es sich nicht zwangsweise um einen Menschen handeln — nun kontrollieren sogar Drohnen und Roboterhunde die Einhaltung der Quarantäne. In China sind die Menschen so weit, dass sie von Maschinen eingesperrt werden oder ihr Eingesperrtsein zumindest von Maschinen überwacht wird. „Terminator“ wurde wohl nicht als Warnung verstanden.
→ Wie oben schon beschrieben, werden in Schanghai Hunde, Katzen und andere frei laufende Tiere eingefangen und getötet, da sie ja potenziell Virenträger sein könnten. Indes können künstliche Hunde frei herumlaufen. Eine Verachtung des Lebens par excellence.
→ Die Tür wird nicht, wie bei Foucault beschrieben, von einem „Syndikus“ abgeschlossen, stattdessen werden an den Wohnungstüren Bewegungssensoren angebracht, die die Bewohner augenblicklich zur Rückkehr anmahnen, sollten sie es wagen, ihre Türschwelle zu übertreten.
→ Wer sich nicht rechtzeitig mit Vorräten eindeckte, hat in Schanghai ein ernsthaftes Problem. Zum Einkaufen darf die Wohnung nicht verlassen werden, was mitunter zur Folge hat, dass Schanghais Einwohner hungern müssen — für die Gesundheit versteht sich.
Schanghai ist aktuell die Zuspitzung und digitale Verfeinerung dessen, was Foucault beschrieb. Diese Verschärfung bringt allerdings auch Neuerungen mit sich, sodass die naturgegebenen Regungen der Menschen unter dem noch höheren Druck noch intensiver ausbrechen.
Es beginnt bereits mit dem Lebensraum, der nicht mehr mit den europäischen Städten des 17. Jahrhunderts vergleichbar sind. Die Betontürme, also die mehrere Stockwerke umfassenden Wohnhäuser, sind die neuen Gefängnisse der eigenen vier Wände. Die Freiheit ist über den (Smog)-Wolken keineswegs grenzenlos. Das kollektive Eingesperrtsein wird hier auf eine Weise sichtbar, wie es in Foucaults Szenario nicht möglich war. Konnte man damals durch die Schlitze der verbarrikadierten Fenster vielleicht noch zu den gegenüberliegenden Häusern spähen, so sehen die Bürger Schanghais — je höher sie wohnen — von ihren Balkonen im Panoramablick Abertausende ihrer Leidgenossen. Sie sind gemeinsam einsam.
Für jeden sichtbar, teilen sie das gleiche Schicksal: Auf unbestimmte Dauer im Bewegungsradius eingeschränkt, beginnt der Raum der Wohnung zu schrumpfen, die Decke kommt näher, während sich die Zeit in dem fortwährenden Dauerzustand der Sinn- und Ziellosigkeit der Quarantäne zu dehnen beginnt. Dicht an dicht sind die Menschen in ihren Zellen eingeschlossen, harren gemeinsam und dennoch getrennt aus. Außerhalb der jeweiligen vier Wände bewegt sich nur derjenige frei, der die Unfreiheit der anderen überwacht.
Irgendwann gelingt es den Menschen nicht mehr, ihren aufgestauten Energieüberschuss und die Verzweiflung durch das Eingepferchtsein länger zu unterdrückten. Es kommt zur emotionalen Entladung, der Schmerz drückt sich verbal aus und das kollektiv.
In China ist nichts mehr übrig von der Quarantäneromantik, so es in China je eine wie in Europa gab. Nein, die Bürger Schanghais klatschen dem Pflegepersonal auf den Straßen nicht zu und wenn sie auf Balkonen musizieren, dann um ihrer Verzweiflung Ausdruck zu verleihen und nicht um der Regeltreue und einer „Solidarität“ zu frönen. Das Gold der Käfiggitterstäbe ist vollends abgebröselt und zeigt den Käfig schonungslos als solchen. Statt Musik ertönen die Schmerzensschreie infolge des Eingesperrtseins.
Vielleicht muss hier die Vogelperspektive eingenommen werden, um das Ausmaß dieses Schreckens und der menschlichen Entfremdung deutlich zu machen. Betrachten Sie diese riesigen Wohnblöcke aus der Top-Shot-Perspektive und werden Sie sich anschließend der Beziehung der darin befindlichen Menschen zu ihrer Umwelt bewusst. Und das auf dem Zeitstrahl der Menschheitsgeschichte eingebettet. Der Mensch hat zeit seines Daseins einen Großteil in der wilden, ungezähmten Natur verbracht. Im Schanghai-Lockdown befindet er sich — teils Hunderte Meter — über der Erde — und damit entwurzelt — in einer eckigen Höhle aus Beton. Das Herausreißen des Homo sapiens aus seinem natürlichen Habitat wurde selten so deutlich wie in diesem Szenario.
Ist das nicht die menschengemachte Hölle? Stellen Sie sich vor, ein zeitreisender Chinese aus der Qing-Dynastie (1644 bis 1911) würde im Jahr 2022 zwischen diesen Hochhäusern Schanghais landen und Zeuge dieses Elends werden. Das kalte Grauen würde ihn ergreifen. Was wird er bei seiner Rückkehr in seine Zeit erzählen? Er würde von einer Zukunft berichten, die dystopischer nicht sein könnte.
Nach „fest“ kommt „ab“
Doch wie es scheint, hat die kommunistische Partei Chinas (KPCh) in Schanghai den Bogen der Machtausübung überspannt. Die Namensherkunft der Stadt Schanghai (deutsch: „Stadt über dem Meer“) liefert uns einen symbolischen Anknüpfungspunkt zu einem konfuzianischen Gleichnis. Dem konfuzianischen Philosophen Xunzi wird folgendes Zitat nachgesagt:
„Der Herrscher kann mit dem Boot und das Volk mit dem Wasser verglichen werden. Das Wasser kann das Boot tragen, aber es kann auch das Boot umkippen.“
Das chinesische Verständnis von Staat und Herrschaft ist von dem Gedanken getragen, dass die Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat gehorsam sein, jedoch keinesfalls amoralisches Verhalten gutheißen, gar umsetzen müssen. Wenn ein Herrscher sich durch sein Handeln moralisch delegitimiert, steht es den Menschen frei, sich gegen diesen aufzulehnen (2).
Und die Menschen in Schanghai lehnen sich — trotz brutaler Konsequenzen — nun auf. Ein guter Social-Credit-Score stillt nicht den knurrenden Magen. So protestieren die Bürgerinnen und Bürger, stürmen Supermärkte oder beliefern ihre Nachbarn per Drohne mit Gemüse.
Um hier das klischeebeladene und abgedroschene aber in diesem Fall so passende Bildnis zu bemühen — in Schanghai bricht der Löwenzahn der Menschlichkeit durch den Asphalt der Lockdownrestriktionen.
Auch wenn diese zarten Ansätze noch lange nicht das Ende dieses massenhaften Eingesperrtseins bedeutet, die Restriktionen immer noch für alle Betroffenen vor Ort und Mitfühlenden anderorts unerträglich sind, wird an den oben beschriebenen Dynamiken doch eines deutlich: Das Leben wendet sich immer dem Licht zu. So lassen die Bürger Schanghais ihren Frust nicht nur im Netz über Touchscreens raus, sondern recken ihre Köpfe aus den Fenstern, in Richtung Licht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Siehe Foucault, Michel: Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main, 2021, Suhrkamp, Seite 251.
(2) Vergleiche Baron, Stefan; Yin-Baron, Guangyan, Die Chinesen: Psychogramm einer Weltmacht, Berlin, 2018, Ullstein-Verlag, Seite 306 fortfolgende.