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Septemberzeit

Septemberzeit

Nine-Eleven markierte den Beginn einer neuen Weltepoche, die mit Corona Fahrt aufnimmt — seitdem häufen sich die „Einschläge“.

Ich glaube, es war ein milchiger Tag. Es war auch eine milchige Zeit in meinem Leben.

Mein Vater war gestorben und beerdigt. Meine Liebe — zerbrochen, unabwendbar zog der Trennungstermin uns zu sich hin, doch wir wichen ihm noch aus. Stillschweigendes Einverständnis, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Ich vergrub mich in einen Nebel aus Balsamterpentinöl, in meine Farben, berauschte mich, war nicht da, sodass diese Realität nicht nach mir rufen konnte. Das Kind war im Kindergarten, ich stand im Atelier. Ein Bild wollte noch gemalt werden für eine kleine Ausstellung. Immer wieder waren Figuren zu konkret. Zeigen oder verbergen, beides gleichzeitig. Das heißt: ahnen.

Diese Ahnung war es, die mich an diesem Tag interessierte, und wie durch eine Drehtür bewegte ich mich in diesem Bild, das mehr sichtbar machte, je mehr es verbarg. Es ist dann ein Schmerz in jedem Pinselstrich, jedes Wischen voll wütender Zärtlichkeit zur Farbe, etwas geht durch diese Drehtür hinein, etwas anderes kommt heraus ... und so stand ich schließlich vor der Staffelei, denn ich war draußen, endgültig draußen, und ... sah nichts.

Fertig.
Innerlich stumm.
Kein Aufruhr.

Das Bild war dunkel. Mehr nicht. Es braucht immer Abstand, ein paar Tage, um wahrzunehmen, was im Bild von mir blieb. Erst einmal ist das Schauen nur ein stummer Abschied, ein stilles Verharren.

Ein Handyton zerriss dieses Dickicht. Ich ging ran und hörte die Stimme meines Sohnes im Hintergrund, dann seinen Vater. Offenbar hatte er den Kleinen vom Kindergarten abgeholt und war zu Hause. Das war ungewöhnlich.

Seine Stimme kam von irgendwoher: „Zwei Flugzeuge sind in das World-Trade-Center geflogen, die Türme sind zusammengestürzt. Ein Flugzeug ist ins Pentagon gerast. Es gibt Krieg! Komm nach Hause!“ Es war vollkommen unwirklich. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was er sagte. Trotzdem fügte sich diese Unwirklichkeit in den ganzen Malprozess, den ich hinter mir hatte.

Für Erstaunen oder Fassungslosigkeit war da kein Platz mehr.

Mechanisch wusch ich meine Pinsel aus, ging meine ganz normalen Abläufe durch. Ich zog meinen Overall aus und schlüpfte in meine Alltagsklamotten, schloss die Tür.

Warm-feuchte Septemberluft, eine verschleierte Sonne lugte durch gelbliche Birken, verfing sich in den Spinnweben. Wie in einer Blase fuhr ich zum Supermarkt, um die geplanten Einkäufe zu erledigen, die Bewegungen gingen irgendwie automatisch, doch fühlte ich mich nackt und schutzlos, ausgesetzt, zugleich zurückkatapultiert irgendwie in das Dunkel der Malerei, von dieser Eihaut ummantelt, ohne Kontakt zu den Dingen.

Die konkrete Welt war surreal: Die Regale voller Brotsorten, Süßigkeiten, die übervolle Käsetheke. Nutzlos. Schließlich entschied ich mich für Milch und Erdnussflips. Das half irgendwie weiter.

Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin, erinnere mich nur an das Gefühl, wie geduckt unter einer drohenden Wolke zu fahren. Und das begleitet mich noch heute.
Dieser elfte September ist noch nicht vorbei. Er hat etwas sichtbar gemacht. Er ist ein Synonym geworden für eine Politik, die sich um jeden Einzelnen, jede Einzelne, immer mehr wie eine Schlinge zuzieht ... im Namen der Freiheit.

Beklommenheit tropft in den Alltag, eine schleichende Verunsicherung erzieht zum Gehorsam.

„Das gibt Krieg“, sagte er zu Hause wieder. Ich sagte: „Wir haben ihn schon lange, er hat nie aufgehört.“

Die Pläne liegen in den Schubladen. Tatsächlich landen sie jetzt auf den Tischen, werden aller Welt verkündet, ungeniert. Es darf wieder von Schurkenstaaten gesprochen werden. So wurde Polen überfallen. Es werden Kreuzzüge verkündet.

Gregor und Ludwig reiten ins Byzantinische Reich und wieder werden Kinder verschifft. Nicht nach Alexandria diesmal, sondern von dort nach Europa. Menschen werden aussortiert, an unseren Grenzen: Wer nützt dem Wohlstand, wer darf krepieren.

Der Rauch der Krematorien nistet in unseren Köpfen, doch wir bauen sie nicht mehr im eigenen Land. Wir haben den Faschismus in Bilder gebannt, in Fernsehdokumentationen abgearbeitet flimmert Geschichte.

Voodoo: Mach dir ein Bild von deinem Gegner, dann ist er erledigt. Wir brauchen ihn nicht mehr, denn wir haben ihn inhaliert. Inzwischen richtet jeder sich selbst nach den Spielregeln sozialer Selektion und Konkurrenz. Ein Kreuzzug im Ich.

„Das gibt Krieg!“, sagte er noch mal, als wir an diesem Nachmittag vor dem Fernseher saßen, fassungslos. Das Kind rannte umher, spielte die Bilder weg, die wir nicht aussperren konnten: immer wieder, diese zusammenstürzenden Türme, Verkündung immer neuer, sensationellerer Aufnahmen. Sie erklärten ... nichts.

Stete Wiederholung aus verschiedensten Perspektiven — nichts, nur das Gefühl, in einer surrealen Zeit zu leben. Denn diese Bilder, das war wie der Einbruch der Fiktion in die Realität, und die konnte mit dem, was Filmszenarien sich bereits ausgedacht haben, schon lange nicht mehr konkurrieren, um unsere Aufmerksamkeit. Allenfalls als ästhetisches Bild. Und das war es, was an diesen zusammenkrachenden Türmen so befremdete: Es war ein großartiges Szenario von ästhetischer Kraft. Dass es da um Menschen ging, das Blut, das Sterben, blieb abstrakt. Erst die Trauerfeiern der folgenden Tage, diese endlosen Einschwörungen auf das Grauen, ließen erkennen, dass es hier um Menschen ging, schließlich gab es Angehörige.

Schon wurde Afghanistan bombardiert.

Meine Bilder mussten gerahmt werden, der Ausstellungstermin rückte näher. Das letzte, fertige Bild stand noch auf der Staffelei.

Das Bild ist sehr dunkel. Rötliches Licht. In der oberen Bildmitte gleißendes Weiß, mit Rot. Und unten rechts laufen zwei nackte Figuren aus dem Bild, kaum sichtbar, ein Mann, eine Frau.

Schleichender Schrecken, unter der Haut, in der Magengrube. Was man nicht sah, auf den Fernsehbildern, stand mir hier gegenüber, und es war die Ahnung, die in Farbe gebannt von der Realität sprach:

Wie ist es, vom Feuer umzingelt, zu fliehen? Wie ist es, nackt um dein Leben zu bangen?
Wie fühlt sich das an?

Mann und Frau rennen nackt aus dem brennenden Paradies.

Und tatsächlich sprachen alle von der Apokalypse, die die Welt verändern wird. Die Vertreibung aus dem Garten Eden, nur für wen? Erstmals: für die Amerikaner.

Denn sie leben von fremden Früchten, das Grauen anderer wird als Heimkino inszeniert, in dem amerikanische Leinwandhelden doch immer wieder siegen. Noch stets wurde die Apokalypse abgewendet — von Amerikanern, natürlich.

Fantasie unendlicher Potenz. Mit den stürzenden Türmen bekam sie einen Riss, nur einen Moment lang. Und durch ihn kehrt der Tod zurück, aus Lateinamerika, aus dem Irak, aus Chile, das seinen elften September 1973 erlebte. Er dauerte zwanzig Jahre.

Das Paradies der Neuzeit ist schon längst verloren, für alle anderen. Es starb im Bombenhagel der Weltkriege, mit den Sklaven der Südstaaten, in den Vernichtungslagern der Nazis, auf dem Balkan, mit den Cherokee, Navahos und Apachen, in den Gefängnissen der Diktaturen, in Israel und Palästina und jetzt auch in Afghanistan, und Morgen im Irak.

Eine Hochzeitsgesellschaft, Menschen voller Lebensfreude und Zukunftswünschen — zerstört von amerikanischen Bomben, aus Versehen. Vierzig Menschen erlitten ihren elften September. Denn es gibt keinen Unterschied im Getötetwerden: Man stirbt, und es ist immer die gleiche Angst, ob man erstickt, ertrinkt, verblutet, verdurstet, verhungert oder zerfetzt wird. Dafür gibt es keine Bilder, wir tragen sie in uns, als geheime Angst, als geheimes Wissen. Im Tod sind wir alle gleich.

Darum erklärten diese einstürzenden Phallussymbole nichts über die Menschen, nichts über das Grauen, sondern nur etwas über die Welt, in der wir leben.

Das ließ uns so gebannt vor dem Fernseher sitzen an diesem Nachmittag. Wieder und wieder stürzten die Zwillingstürme ein, und wieder, aus einer anderen Perspektive.

Das Kind freute sich über die Ausnahmesituation, denn es gab Flips, doch irgendwann schrie es nach Abendbrot und holte mich auf den Boden und in diese Realität zurück, um die es geht, für die immer weniger Platz ist. Diese Bodenständigkeit des Alltages, mit Kindern, mit der Liebe, all das, was gelebt werden will, wie auch der Tod, der uns aus der Bahn schmeißt. Immer stärker werden die Rechtfertigungszwänge, wenn man sich entzieht, weil das Kind geboren, weil es genährt, weil es beschützt werden muss, Märchen erzählt werden wollen, Bilder sich malen müssen. Weil Väter, Großväter sterben müssen, begleitet werden wollen, zu Grabe getragen, betrauert werden müssen.

Es gibt keine Zeit mehr für Rituale des Lebens, das Leben selbst stört. Und wie der Tod verbannt wird aus unserem Bewusstsein, aus unserem Alltag, so auch zunehmend das Leben.

Der elfte September war eine Chance, das endlich wahrzunehmen.

Seit diesem Tag verharren die Farben, schweigend.
Sie warten noch.
Auf neue Bilder.
Vom Leben.

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