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Selbstgerechte Grausamkeit

Selbstgerechte Grausamkeit

In vielen Fällen sind Strafen ein größeres Verbrechen als die Taten, die bestraft werden sollen.

Die Edo sind eigentlich ein freundliches, heiteres Volk, das auf seinem Planeten ein wahres Paradies geschaffen hat. Zwischen gut gepflegten Rasenflächen bunte Blumenbeete. Alles wirkt sauber und aufgeräumt — allseitig herrschen Harmonie und Frieden. Auch als Besucher aus einer anderen Welt kann man sich bei den hübschen und netten Edo wohlfühlen. Der Sternenflotten-Fähnrich Wesley Crusher jedenfalls war überaus angetan von seinen Gastgebern — bis ihm ein kleines Missgeschick passierte.

Er stolperte über eine Absperrung und krachte in ein verglastes Treibhaus mit Blumen. Die Augen seiner einheimischen Begleiter weiteten sich vor Entsetzen, etwas Furchtbares musste passiert sein. Zwei Ordnungskräfte, „Mediatoren“ genannt, eilten im Laufschritt herbei:

Mädchen: Er kann die Regel nicht kennen, er ist ein Besucher.
Mediator: Es tut mir sehr leid, aber das hier ist zurzeit die Bestrafungszone.
Junge: Das konnte er doch nicht wissen.
Mediator: Das schützt ihn nicht. Er muss bestraft werden.
Riker: Es kommt nicht wieder vor, wir entschuldigen uns.
Mediator: Es tut mir sehr leid, aber das Gesetz wird nicht geändert. (…) Bist du bereit, die Strafe zu empfangen?
Riker: Was ist die Strafe für dieses Vergehen?
Mediator: Der Tod natürlich. Erschweren Sie die Sache nicht unnötig!

Das Gesetz der Edo

„Das Gesetz der Edo“ ist eine außergewöhnliche, philosophische Episode aus „Star Trek — The Next Generation“. Ein Mitglied der Besatzung des Raumschiffs „Enterprise“ gerät darin wegen einer harmlosen Ordnungswidrigkeit auf einem fremden Planeten mit dem rigiden Justizsystem der Aliens in Konflikt und landet in der Todeszelle. Die Lage ist für Captain Picard, der sein Crewmitglied rauspauken will, nicht ganz einfach, denn er ist verpflichtet, die Sitten und Gesetze anderer Welten zu respektieren. Das Gesetz der Edo existiert nämlich nicht von ungefähr, und man kann ihm eine gewisse Stimmigkeit nicht absprechen.

Edo-Sprecher: Unsere Gebote sind uns aus der Vorzeit überliefert worden. Die Ruhe und der Frieden, die auf unserer Welt herrschen, sind nur durch sie ermöglicht worden.
Edo-Sprecherin: Wir respektieren unser Gesetz. Manchmal bereitet uns das Trauer, aber wir haben uns angepasst.

Die Folge dieser beliebten Serie beschreibt auf anschauliche Weise zwei Aspekte des Strafens:

  1. Die Funktion der Abschreckung. Sie dient dem Ziel, dass Regelübertretungen möglichst gar nicht mehr vorkommen. Wäre Abschreckung die einzige relevante Straffunktion, so wäre die Todesstrafe für „alles“, auch für das Betreten eines verbotenen Rasenstücks, die perfekte Lösung. Da gibt es aber noch einen zweiten Grundsatz, der zu beachten ist:
  2. Verhältnismäßigkeit. Die Schwere der Strafe muss mit der Schwere des Vergehens in einem sinnvollen Verhältnis stehen. Jeder wird verstehen, dass man nicht Mord mit einem Verwarnungsgeld von 10,- Euro bestrafen kann — oder die fehlende Parkscheibe am Auto mit dem Tod.

In Deutschland wurde dieser Grundsatz bisher jedenfalls einigermaßen eingehalten, bei den Edo nicht.

In der Serie konnte das Problem relativ elegant gelöst werden. Nach kurzem Ringen mit der „Obersten Direktive“, dem Nichteinmischungsgebot der Sternenflotte, entschied Captain Picard, den Todeskandidaten einfach auf die „Enterprise“ beamen zu lassen und mit ihm davonzufliegen.

Wer aber beamt uns heraus aus diesem ganzen brutalen Strafen-Wahnsinn?

Die Bußgeld-Gesellschaft

So manchen terrestrischen Politiker kann man geradezu als Gesinnungs-Edo bezeichnen. Etwa den repressionsverliebten Markus Söder oder den als Verkehrsminister eher glücklos agierenden Andreas Scheuer. Fast geräuschlos und im Schatten des Corona-Geschehens haben sich Politiker Mitte April auf einen neuen Bußgeldkatalog für „Verkehrssünder“ geeinigt. Dabei wurden Strafzahlungen für Verstöße festgesetzt, die teilweise das Doppelte, das Vierfache oder das Fünffache der bisher fälligen Summen ausmachten. Eine Kostprobe:

„Der allgemeine Halt- und Parkverstoß wird anstatt wie bisher bis zu 15 Euro mit einem Verwarnungsgeld bis zu 55 Euro geahndet.

Die vorschriftswidrige Nutzung von Gehwegen, Radwegen und Seitenstreifen durch Fahrzeuge wird statt bis zu 25 Euro mit bis zu 100 Euro Geldbuße geahndet.

Die Geldbuße für das Verursachen von unnötigem Lärm und einer vermeidbaren Abgasbelästigung sowie dem belästigenden unnützen Hin- und Herfahren wird von bis zu 20 Euro auf bis zu 100 Euro angehoben.

Wer rast, muss mehr zahlen. Die Regelung für Pkw und innerorts: 10 km/h zu schnell: künftig 30 statt 15 Euro; 11 km/h — 15 km/h zu schnell: 50 statt 25 Euro usw.“

Andreas Scheuer sprach von einem „Riesendurchbruch“, Bremens Verkehrs- und Mobilitätssenatorin Maike Schaefer (Grüne) sagte:

„Das mag für diejenigen, die es trifft, sehr schmerzhaft sein, das soll es aber auch. Die Menschen erwarten, dass wir sie vor solch einer Raserei schützen.“

Sachliche Gründe für die Verschärfung — etwa eine Zunahme der Verkehrsdelikte in jüngster Zeit, zum Beispiel um das Doppelte, Vierfache oder Fünffache, wurden nicht angegeben.

Es ist also anzunehmen, dass einfach eine größere Regeltreue erzwungen werden soll. Viele mögen dem mit Blick auf Verkehrstote durch Raser zustimmen. Man muss aber die Frage der Verhältnismäßigkeit auch hier stellen. Wer garantiert uns, dass „allgemeine Halt- und Parkverstöße“, die jetzt 55 statt 15 Euro kosten, nicht nächstes Jahr mit 100 und übernächstes Jahr mit 200 Euro zu Buche schlagen? Irgendwann wäre Gefängnis für die Ordnungshüter dann eine praktikable Option. Oder gleich eine Regelung wie bei den außerirdischen Edo.

Die Corona-Abzocke

Wer Freude dabei empfindet, anderen Schmerzen zuzufügen, kann aus dem Bußgeldkatalog für Verstöße gegen die Corona-Regeln reichlich Lustgewinn ziehen. Corona hat zu einer Blütezeit des Delikt-Designs geführt. Verhaltensweisen wurden verboten, von denen noch vor 14 Monaten niemand auch nur im Traum geahnt hatte, dass sie schlimm sein könnten. Hier ein Auszug aus dem Bußgeldkatalog für Hessen:

„Unterlassen gruppenbezogener betrieblicher Hygienemaßnahmen und Vorkehrungen zur Kontaktvermeidung außerhalb der Arbeitsgruppe (200 bis 1.000 Euro).

Verstoß gegen die Pflicht zur Duldung der Testung (250 bis 1.000 Euro).

Öffnung eines Dienstleistungsbetriebs im Bereich der Körperpflege oder Verstoß gg. Pflicht zur Erfassung von Daten (200 bis 1.000 Euro).

Anbieten von Übernachtungen zu nicht notwendigen oder touristischen Zwecken (200 bis 1.000 Euro).

Durchführung von Veranstaltungen oder Zusammenkünften ohne Genehmigung, unter Verstoß gg. Abstands- und Hygieneregeln oder ohne Erfassung der Daten (500 bis 1.000 Euro).

Verstoß gegen Hygiene- und Abstandsvorgaben für den Betrieb von Verkaufsstätten und ähnlichen Einrichtungen (500 bis 1.000 Euro).

Betretenlassen von Einrichtungen trotz Verbotes nach § 2 Abs. 2 Zweite VO durch Beschäftigte (1.000 Euro).

Öffnung von Verkaufsstätten des Einzelhandels (500 bis 5.000 Euro).

Öffnung von Bars, Schankwirtschaften, Kneipen (500 bis 5.000 Euro).“

Das kann nicht nur für die Betreiber von Geschäften, bei denen die Strafen rasch vierstellig werden, sondern auch für einfache Passanten sehr schnell konkret werden. Ein Freund von mir erntete wegen Nichttragens der Maske an der frischen Luft auf einem öffentlichen Platz in Augsburg einen Zahlungsbefehl über 250,- Euro.

Da fühlt man sich rasch wie in einem dystopischen Science fiction-Film. Es überkommt einen ein Gefühl von Unwirklichkeit. Die Erfinder derartiger Strafenlisten agieren ganz offensichtlich nach dem Motto „Abschreckung ist alles“. Ihre Haltung gegenüber der Bevölkerung ist: „Scheiß auf Angemessenheit — die sollen parieren!“

Ein unfassbarer Irrtum

Gerade Corona zeigt, dass Strafen für den Staat ein ganz wesentliches Disziplinierungsinstrument darstellen. Strafen erhöhen sich oft umgekehrt proportional zu ihrem Sinngehalt. Wenn die Regierenden zu Recht befürchten, sehr viele Menschen würden sich niemals freiwillig an eine Vorschrift halten, steigern sie einfach die Brutalität der Strafandrohung beziehungsweise die Höhe des „Ordnungsgeldes“. Draußen die Maske aufsetzen — da würden sehr viele nicht mitmachen, müssten sie bei Zuwiderhandlung nur 10 Euro bezahlen. Bei Androhung der Todesstrafe dagegen …

So ist die Höhe von Strafen auch ein indirekter Indikator dafür, dass sich Regierende bezüglich ihrer Vorschriften unsicher sind und dass sie demokratiewidrig gegen das gesunde Empfinden sehr vieler Menschen handeln.

Zum Thema „Strafen“ haben große Denker schon sehr schöne Gedanken hinterlassen. Das russische Literaturgenie Lev. N. Tolstoi widmete am Beispiel seines Helden Nechljudow einen ganzen Roman, „Auferstehung“, dem Sinn und Unsinn des Strafens.

„Nachdem Nechljudow die Gefängnisse und Etappenstationen näher kennen gelernt hatte, sah er, dass alle die Laster, die sich unter den Häftlingen entwickeln (…), keine Zufälligkeiten oder Symptome der Entartung, des kriminellen Typs, der Degeneration waren, wie dies der Regierung zuliebe stumpfsinnige Gelehrte auslegen, sondern die unausweichliche Folge des unfassbaren Irrtums, dass Menschen andere Menschen bestrafen dürfen.“

Es mutet bis heute kühn an, nicht nur die eine oder andere Bestrafungsart — oder die Höhe der Strafe —, sondern gleich das Prinzip Strafen als Ganzes für einen „unfassbaren Irrtum“ zu halten. Bei vielen, selbst bei liberalen Lesern regen sich da schnell Bedenken: „Sollen Verbrecher etwa ungestraft davonkommen?“ Pauschal ist das sehr schwer zu sagen, denn es gibt historisch keine Beispiele für eine Gesellschaft ohne Strafen. Wir können die gewohnten Denkmuster jedoch ein bisschen aufbrechen, wenn wir einen Blick auf die Geschichte der staatlichen Sanktionen gegen Regelbrecher beleuchten.

Strafe ist terrorisierend

In seiner schon klassischen Abhandlung „Überwachen und Strafen“ deutete der französische Philosoph Michel Foucault das Gefängnis als verfeinerte Form der in früheren Jahrhunderten dominierenden Leibesstrafen. Letztlich als weiße Folter, die Zufügung von Qualen zum Zweck der Selbstpositionierung und Stabilisierung von Macht.

Die Marter „als Sieg über das den Souverän verletzende Verbrechen entfaltet sich vor den Augen als eine unüberwindliche Kraft. Sie soll weniger das Gleichgewicht wiederherstellen als vielmehr die Asymmetrie zwischen dem Subjekt, welches das Gesetz zu verletzen gewagt hat, und dem allmächtigen Souverän, der das Gesetz zur Geltung bringt, bis zum Äußersten ausspielen. (…) Die Strafzeremonie ist ‚terrorisierend‘.“

Mit fortschreitender Strafpraxis vollzieht sich über die Jahrhunderte „eine Anpassung und Verfeinerung der Apparate, die das alltägliche Verhalten der Individuen, ihre Identität, ihre Tätigkeit, ihre scheinbar bedeutungslosen Gesten erfassen und überwachen“ (Foucault). Die Justiz wird „kleinlicher“, das heißt, sie erstreckt ihre Repressionsmacht auf immer mehr „Delikte“ und versucht so, menschliches Verhalten auf immer mehr Gebieten zu normieren.

Es kommt „zu einem lückenlosen Durchkämmen des Gesellschaftskörpers“, wobei „die Unduldsamkeit gegenüber Eigentumsdelikten zunimmt, die Kontrollen dichter werden und die Strafmaßnahmen früher einsetzen und zahlreicher werden“. Neu kreierte Straftatbestände im Zusammenhang mit Verstößen gegen Corona-Regeln sind ein durchaus treffendes Beispiel für diese Tendenz.

Das gesellschaftliche Ideal, das dem zugrunde liegt, ist nach Foucault ein militärisches. Dieses „berief sich nicht auf den Naturzustand, sondern auf die sorgfältig montierten Räder einer Maschine; nicht auf einen ursprünglichen Vertrag, sondern auf dauernde Zwangsverhältnisse; nicht auf grundlegende Rechte, sondern auf endlos fortschreitende Abrichtungen; nicht auf den allgemeinen Willen, sondern auf die automatische Gelehrigkeit und Fügsamkeit“.

Die „Abrichtung“ wurde — neben dem Militär — auch auf viele zivile Bereiche ausgeweitet: etwa in Schulen oder am Arbeitsplatz. Sie umfasste eine Dressur des Verhaltens wie auch der Körperhaltung sowie der inneren Haltung, einschließlich der Sauberkeitserziehung und der Sexualität. Bei fortschreitender Radikalisierung der Staatsmacht kommt es zu einer Ausweitung nicht nur der Anzahl der Strafanlässe, sondern auch der Formen des Strafens.

„Einerseits sollen die kleinsten Verhaltensfehler mit Strafen belegt werden, andererseits sollen anscheinend harmlose Elemente des Disziplinierungsapparats zu Strafen umfunktioniert werden; bis alles dazu dienen kann, alles zu bestrafen; bis jedes Subjekt in einem Universum von Strafbarkeiten und Strafmitteln heimisch wird.“

Wenn wir heute sehen, dass es als „Verbrechen“ gelten kann, sich nicht auf Corona testen zu lassen, und die „Strafe“ darin bestehen kann, dass man nicht in einen Baumarkt darf, um ein paar Schrauben zu kaufen, dann erweist sich Foucaults Analyse als prophetisch. Alles kann dazu dienen, alles zu bestrafen.

Hier noch ein paar Argumente allgemeiner Art gegen das Strafen.

Nicht-Strafen wäre vielleicht gefährlich, strafen ist es mit Sicherheit.

In den USA saßen laut Wikipedia 655 von 100.000 Bürgern im Gefängnis, in Deutschland sind es nur 78. Fast jeder zweite ehemalige Gefängnisinsasse wird in Nordrhein-Westfalen wieder straffällig. Das ist nur ein Beispiel von vielen Vergleichbaren.

Diese erbärmliche Bilanz des „Systems Gefängnis“ steht in auffallendem Kontrast zu der zunehmenden Arroganz der „Harten Kerle“ unter den Sicherheitspolitikern in Deutschland und anderswo. Wie viele Menschen wurden in Gefängnissen erst zu aggressiven, traumatisierten, verzweifelten Wesen, deren Leben — nach der Bestrafung seitens der „Guten“ — verpfuscht und unheilbar erkrankt ist? Strafen erschafft oft erst den „bösen“ Charakter, auf den es zu reagieren meint.

Strafen verursacht Verrohung bei den ausführenden Organen.

Das Strafsystem ist der bewusste und kalten Herzens exekutierte Versuch, eine künstliche Hölle zu kreieren. Die Frage beim Strafen ist immer: „Wie kann ich bewirken, dass der Bestrafte leidet?“ Natürlich gibt es in „zivilisierten“ Nationen gewisse Grenzen für das bewusste Schaffen von Leiden. Niemand soll sich aber einbilden, dass Gefängnis keine psychische Folter wäre. Die ganze „Logik“ des Strafens muss notwendig bei den Ausführenden zu einer Verrohung des Denkens und Fühlens führen. Speziell das Gefängnis als Arbeitsbereich dürfte nicht ohne gravierende psychische Folgen für die Vollstrecker von Strafen bleiben.

Der Rechtsanwalt Burkhard Benecken beschreibt Mentalität und Probleme der Wärter sehr anschaulich in seinem lesenswerten Gefängnisreport „Inside Knast“. Überforderte Beamte, so Benecken, haben mit dem schlechten Personalschlüssel, mieser Bezahlung, mit Gewalt unter Gefangenen, mit Drohungen und der deprimierenden Atmosphäre in Justizvollzugsanstalten zu kämpfen. Manche lassen sich zu Machtmissbrauch hinreißen oder werden selbst straffällig, weil sie, um ihr karges Gehalt aufzubessern, Gefangenen dabei helfen, Handys oder andere Gegenstände in den Knast zu schmuggeln.

Strafen ist anmaßend und hat projektiven Charakter

„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“, heißt es bei Matthäus in der Bergpredigt. Wer zu Strafen verurteilt oder an der Exekution von Strafen beteiligt ist, nimmt für sich willkürlich eine Position angemaßter „Reinheit“ in Anspruch. Seine eigenen Fehler und Sünden „tun nichts zur Sache“.

Wen Selbstzweifel anfechten, der wäre für seinen Dienst wohl nicht tauglich. Für den Richter, den Vollzugsbeamten, aber auch für die geifernde Menge, die sich — in unserer „zivilisierten“ Epoche nur im übertragenen Sinne — als Zuschauer unter dem Schafott sammelt, bedeutet das Strafen eine psychische Entlastung im Hinblick auf eigene möglicherweise unterdrückte Schuldgefühle. Der Exekutierte wird für die projektive Selbstentlastung der „Guten“ instrumentalisiert.

Kalkulierte Grausamkeit mit gutem Gewissen.

Friedrich Nietzsche hat diesen Punkt in „Genealogie der Moral“ sehr schlüssig dargestellt. Er nimmt eine raubtierhafte natürliche Grausamkeit als menschliche Grundkonstante an. Diese wurde zwar durch die Zivilisation gebändigt, bricht aber unter der dünnen Hülle der Kultur hervor, sobald Gründe auftauchen, die es dem Menschen erlauben, mit gutem Gewissen grausam zu sein.

Der häufigste dieser Vorwände ist, dass es sich bei dem Opfer um einen — tatsächlich oder vermeintlich — Schuldigen handele, den man nun nach Belieben beschimpfen, bespucken, berauben, demütigen und einsperren dürfe. Da die Grausamkeit nie ganz verschwindet, vom Menschen aber als uneingestandener Schatten nicht freimütig ausgelebt werden kann, ist die Existenz von „Schuldigen“, die guten Gewissens bestraft werden dürfen, ein willkommenes Ventil. Es wird immer solche Sündenböcke geben, die der anständige Bürger „als ein Unter-sich verachten darf“, so Nietzsche.

Strafen hat einen spezifischen Nutzen für den Strafenden.

Beim Gedanken an den Nutzen kann man zuerst ganz banal an die Stadt- oder Staatskassen denken, die durch fleißig verteilte Geldbußen aufgefüllt werden. In München — Stand: Ende März 2021 — wurden seit Beginn der Corona-Krise 25.000 Bußgeldbescheide in Höhe von insgesamt 2 Millionen Euro ausgestellt.

Wenn die beiden Bereiche „Strafen“ und „finanzielle Selbstversorgung des Staates“ vermengt werden, ist Ungerechtigkeit vorprogrammiert. „Vergebung“ würde in diesem Fall zum geschäftsschädigenden Verhalten, das sich kein Polizist, keine Ordnungskraft auf Dauer erlauben kann. Die Gnadenlosigkeit, an die man sich gewöhnt hat, erzeugt eine wachsende Unruhe im Volk, die bewirkt, dass man immer sehr gut informiert sein muss, um sich der jeweils gültigen Erlaubnis- und Verbotslage reflexartig anpassen zu können. Diese Unruhe zu erzeugen, bedeutet für diejenigen, die die Verbote verhängen, auch Macht, die vermutlich nicht wenige genießen.

Der Philosoph Gunnar Kaiser deutet in einem brillanten Video das Verhalten der Staatsmacht in der Corona-Krise als narzisstisch.

„Durch all diese Konflikte ist man dauernd gedanklich bei dem Täter, mit dem Täter beschäftigt, entfernt sich dadurch immer weiter von sich selbst, muss immer kucken, was man tun kann, um dem Täter zu gehorchen. Diese gedankliche Beschäftigung mit dem Täter ist für diesen eine Energiezufuhr. Von dieser Aufmerksamkeit lebt er.“

Kaiser geht also von einer Energieräuber-Funktion des narzisstischen beziehungsweise psychopathischen Charakters aus. Aus eben diesem Grund — um die Aufmerksamkeit der Unterworfenen dauerhaft an sich zu fesseln — sind ständig wechselnde Vorschriften, wie wir sie derzeit in der Corona-Krise erleben, auch „besser“ als gleichbleibende. Ausführendes Organ einer „Obrigkeit“ zu sein, kann so für den Betreffenden eine Quelle regelmäßiger Energiezufuhr sein, was vielleicht den Reiz solcher Berufe ausmacht. Es erklärt vielleicht auch, warum es kein noch so absurdes und schikanöses System in der Geschichte gegeben hat, das nicht über eine ausreichende Zahl willfähriger Büttel verfügt hätte.

Strafen bestätigt die Existenzberechtigung der richtenden, strafenden Instanzen.

Solange der Justiz- und Justizvollzugsapparat nicht irgendwann bereit ist, sich selbst aufzulösen, wird Strafbedarf auf geheimnisvolle Weise immer vorhanden sein. Man denke an eigens eingerichtete „Sonderstäbe“ zur Terrorismusbekämpfung. Diese müssen ihre Existenzberechtigung immer aufs Neue belegen, indem sie Handlungsbedarf behaupten und die Bedrohungslage drastisch schwarz färben.

Keiner der Beschäftigten möchte, dass Budgets gekürzt und Planstellen gestrichen werden. Der größte anzunehmende Unfall für Sicherheitsbehörden wäre das völlige Versiegen jeglicher kriminellen Energie im Volk. „Wenn Osama Bin Laden sich nicht selbst zur größten Bedrohung der westlichen Welt gemacht hätte, hätte man ihn erfinden müssen“, schreibt der amerikanische Polit-Bestsellerautor Morgan Spurlock.

Man stelle sich eine Welt vor, in der tausende von Richtern, Staatsanwälten, Polizisten, Ordnungsamt-Mitarbeitern, Vollstreckungsbeamten, Gefängnisdirektoren, Gefängnisverpflegungs-Unternehmern, Herstellern von Sträflingskleidung und so weiter arbeitslos den Hartz-IV-Behörden zur Last fielen. Eine ökonomische und menschliche Katastrophe!

Daher besteht indirekt eine Verpflichtung der Gesamtbevölkerung, immer genügend Delinquenten zur Verfügung zu stellen, die der Bestrafungsindustrie als Zielgruppe dienen können.

Droht die kriminelle Energie zu versiegen, muss es „Delikt-Design“ richten — die Schaffung neuer Straftatbestände.

Übermäßiges Strafen ist ebenso ein Verbrechen wie das Verbrechen selbst.

Wann ist Strafe „übermäßig“? Man denke dabei an das Theaterstück „Der Kaufmann von Venedig“ von Shakespeare. Darin muss der Kaufmann Antonio dem Geldverleiher Shylock erlauben, ein Stück von seinem Fleisch aus dem Körper zu schneiden, falls er seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Das Gerichtsverfahren wird folgendermaßen entschieden: Wenn Shylock nur um ein Gramm mehr Fleisch herausschneidet, als ihm zusteht, gilt er selbst als Verbrecher und wird straffällig. Das schreckt Shylock ab, und er verzichtet auf sein „Recht“.

Dieses Beispiel macht eines deutlich: Es gibt in der Justizordnung ein — gedachtes — ideales Strafmaß. Dies vorausgesetzt, begänne dann nicht exakt oberhalb dieses Strafmaßes der Bereich, wo der Strafende selbst zum Verbrecher wird? Und müssten Richter insofern nicht vorsichtig, ja übervorsichtig sein mit der Bemessung einer solchen Strafe?

Eigenartigerweise herrscht diesbezüglich aber große Unbedenklichkeit im Strafwesen. Man kann zwar für Gefängnisaufenthalte eine geringe Entschädigung erhalten — derzeit 75 Euro pro Tag —, wenn sich herausstellt, dass man eindeutig unschuldig war; ungerechte Richter müssen aber kaum Sanktionen befürchten, wenn sie „über ihr Ziel hinausschießen“.

Zerstörte Familien, zerstörte Lebenswege, zerstörte Seelen — Richter, Gefängnisdirektoren und Vollzugsbeamte werden mit den destruktiven Ergebnissen ihrer Arbeit kaum jemals konfrontiert. Wenn sie doch davon erfahren, nehmen sie wahrscheinlich an, die Straftäter hätten sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben. Es gibt keine noch so grausame, abstoßende und maßlose Strafe, für die sich nicht irgendjemand gefunden hätte, der sie getreulich exekutierte — und zwar, wohlgemerkt, mit gutem Gewissen.

Eine Hölle, von „Guten“ geschaffen

Der Rechtsanwalt Burkhard Benecken beschreibt in „Inside Knast“ gravierende Missstände in Gefängnissen, die teils vermeidbare Härten darstellen, teils aber auch mit dem destruktiven Wesen derartiger Einrichtungen zusammenhängen:

  • „Notorische Schwarzfahrer“, also Menschen, die Bagatellstrafen nicht bezahlen können oder wollen, sitzen zusammen mit Schwerverbrechern ein.
  • Haftplätze sind häufig überfüllt, was die Engegefühle und die Gereiztheit unter den Gefangenen weiter steigert. In Baden-Württemberg „fehlen“ zum Beispiel 1000 Haftplätze.
  • Zellen muss man sich meist mit mehreren anderen Gefangenen teilen. Vielfach läuft von morgens bis abends der Fernseher. Das Essen ist ein ungenießbarer, ungesunder Fraß.
  • In einem Frauenknast stand eine Kloschüssel mitten in einem nur acht Quadratmeter großen Haftraum für vier Insassinnen. Jede musste „öffentlich“ ihre Notdurft verrichten. Außerdem krochen dort mitunter Ratten aus der Toilette.
  • Vielfach kommt es zu Gewalt unter Gefangenen, Streit wird häufig unter der Brause „geregelt“. Die Wärter schauen meist weg, oder Opfer zeigen Gewalttaten aus Angst vor Vergeltung nicht an.
  • Ein Klient Beneckens gab verzweifelt zu Protokoll: „Dass ich hier nicht das Paradies vorfinde, war mir schon klar. Aber mir war nicht bewusst, dass es so eine Hölle ist.“

Benecken beklagt vor allem auch die vielen Selbstmorde hinter Gittern:

„Laut einer Statistik des Bundesamtes für Justiz haben sich binnen 20 Jahren fast 1400 Gefangene in deutschen Haftanstalten umgebracht. (…) Damit liegt die Rate hinter Gittern mit rund acht Suiziden pro 10.000 Inhaftierten gut siebenmal höher als außerhalb des Strafvollzugs. Häufigste Todesursache ist das Erhängen, gefolgt von selbst gelegten Zellenbränden.“

Natürlich tut das System etwas gegen die Selbstmordneigung seiner „Schutzbefohlenen“. Laut Burkhard Benecken kommen Risikokandidaten in einen „BgH“ (besonders gesicherten Haftraum), bekannt auch als der „Bunker“ — einen komplett videoüberwachten Raum. „Lediglich eine dünne Matratze nebst Toilette komplettieren die Ausstattung.“

Man kann sich denken, wie sich die Unterbringung in einer solchen Zelle — die übrigens auch als verschärftes Strafmittel für gewalttätige und renitente Insassen eingesetzt wird — auf die „Heilungschancen“ von verzweifelten und depressiven Menschen auswirkt. Solche Hafträume bedeuten verschärfte psychische Folter, die dem Gefangenen auch noch den letzten Ausweg — den Freitod — versperren.

Oscar Wilde, der selbst für das „Verbrechen“ der Homosexualität in einem Gefängnis einsaß und dabei schwerwiegende gesundheitliche Schäden erlitt, schrieb in seinem Essay „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ über das Strafen:

„Wenn man die Geschichte erforscht (…), dann wird man völlig von Ekel erfüllt, nicht wegen der Taten der Verbrecher, sondern wegen der Strafen, die die Guten auferlegt haben; und eine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmäßige Verhängen von Strafen verroht als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen.“

Picard: Es gibt keine Gerechtigkeit, wenn Gesetze so interpretiert werden. Die Hauptmerkmale jeder Intelligenz sind Verständnis und Mitleid.
Riker: Wahre Gerechtigkeit lässt sich nicht in Regeln pressen.


Quellen und Anmerkungen:

Literaturtipps:

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp Verlag, 408 Seiten, € 15,-
Burkhard Benecken: Inside Knast. Leben Gittern — der knallharte Alltag in deutschen Gefängnissen. Riva Verlag, 223 Seiten, € 19,99

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