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Sein statt Selbstoptimierung

Sein statt Selbstoptimierung

Ein gesundes Körperempfinden ist entscheidend für ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben.

In einem Jahr, in dem ich selbst endlich zu meinem Körper gefunden habe, scheinen so viele andere den ihren aufzugeben. Dabei habe ich gelernt, wie unendlich wertvoll es ist, sich selbst zu spüren und auf das eigene Gefühl zu hören. Ich glaube, dass diese Erkenntnis vielen Menschen helfen kann, daher möchte ich hier über Folgendes schreiben: Wie habe ich zu meinem Körper gefunden? Wie gelangt man überhaupt zu seinem Körperempfinden? Was behindert die Ausbildung von Körperempfinden? Wie sieht es in der heutigen Gesellschaft mit dem Körperempfinden aus? Und schließlich, wie kann man wieder zu Körperempfinden kommen?

Die Prägungen der Kindheit

Das Jahr 2020 verbrachte ich, seit Beginn der ersten Lockdown-Maßnahmen, in meinem Elternhaus. Nach knapp drei Jahren Masterstudium und WG-Leben zog ich zurück zu meiner Familie. Einerseits genoss ich das: Zurück in der Heimat zu sein, war das Beste, was ich in dieser Zeit sein konnte. Andererseits stellte es mich vor große Herausforderungen ― die jedoch, im Nachhinein betrachtet, ebenfalls zum Besten gehörten, was mir passieren konnte.

Es war psychisch keine leichte Zeit in meiner Familie. Und das nicht (nur) wegen der äußeren, gesellschaftspolitischen Situation. Vielmehr traten tieferliegende Strukturen hervor oder kamen erneut zum Vorschein. Seit mehreren Jahren kämpfte meine Schwester bereits mit einer Depression, die wiederum die Depression meines Vaters herausforderte. Gerade mit dem Einsetzen des Lockdowns erlebten beide eine besonders tiefe Phase.

In dieser Gemengelage fand ich mich oft als Vermittlerin wieder, als Schlichterin, Dolmetscherin ― als Therapeutin. Dabei kamen meine eigenen Untiefen zutage, und ich hätte selbst eine Therapie gebrauchen können. Der Widerspruch schien mir frappant: Mit der Rückkehr in mein Elternhaus rutschte ich in die Rolle des Kindes, und wurde doch gleichzeitig in einer Art Elternrolle gefordert. Überfordert. Meine Grenzen waren überschritten.

Schließlich waren es zwei Bücher, die mir halfen, meine Grenzen wieder zu festigen und dahinter noch mehr zu entdecken: Das Kind in dir muss Heimat finden von Stefanie Stahl und Auch alte Wunden können heilen von Dami Charf. Beide berichten darüber, wie unsere frühesten Erfahrungen in der Kindheit uns für später prägen und wie wir aus traumatischen Erlebnissen bestimmte Schutzstrategien entwickeln, die uns als Erwachsene oft mehr schaden als nützen. Der vorliegende Artikel stützt sich insbesondere auf das Buch von Dami Charf, denn durch dieses begriff ich meinen Körper klarer als je zuvor. Sollte ich eine Liste der zehn wichtigsten Bücher in meinem Leben aufstellen, dieses stünde darauf.

Im Körper ankommen

Um deinen Körper zu begreifen, gilt es, ganz an deinen Anfang zurückzugehen: die Geburt. Charf demonstriert eindrücklich, wie wichtig bereits diese für unser Selbstempfinden ist. Aus der Säuglingsforschung weiß man mittlerweile, dass Babys bei der Geburt „absolut präsent und aktiv“ (1) sind. Entsprechend bedeutsam ist dieses Erlebnis für uns aus zwei Gründen:

„Zum einen bekommen Säuglinge hier zum ersten Mal ein Gefühl für ihre eigene Verkörperung, da sie in der Enge des Geburtskanals ihre körperlichen Grenzen spüren. Zum anderen geht man davon aus, dass die Geburt, wenn sie reibungslos verläuft, das erste Erfolgserlebnis des Kindes darstellt“ (2).

Auch nach der eigentlichen Geburt ist es für die Verkörperung ― das Ankommen im eigenen Körper und damit in der Welt ― immens wichtig, Kontakt zu anderen Körpern zu haben. Vor allem zu dem der Mutter: Da wir mit einem nicht vollständig ausgebildeten Nervensystem geboren werden, sind wir in den ersten drei Lebensjahren Teil des Nervensystems der Mutter und lernen, uns über dieses selbst zu regulieren (3).

Selbstregulation ist eine der wichtigsten Grundfähigkeiten unseres Lebens. Sie hilft uns dabei, mit Erregung umzugehen, sowohl mit positiver als auch mit negativer Erregung. Wenn man sich selbst regulieren kann, bedeutet das zum Beispiel: Man kann sich in Stresssituation selbst beruhigen, man kann mit Frustration umgehen, eine Pause zwischen Reiz und Reaktion machen, seine Aufmerksamkeit fokussieren und Glück empfinden (4).

Wir lernen Selbstregulation nicht nur über die Mutter, sondern über auch über andere Familienmitglieder und primäre Bezugspersonen. Wichtig ist, dass diese mit uns in Resonanz gehen und uns das Gefühl geben, gesehen und gefühlt zu werden. Damit antworten sie auf die grundlegende Frage, mit der wir auf die Welt kommen: „Wo bist du?“ (5). Nur wenn es ein Du gibt, können wir ein Ich entwickeln. Nur wenn wir ein Du spüren können ― über tatsächlichen körperlichen Kontakt ―, können wir auch uns selbst spüren.

Vom Körper getrennt

Die Abwesenheit eines Du stürzt uns in eine existenzielle Krise. Dami Charf schreibt:

„Soziale Zurückweisung oder Einsamkeit aktivieren dieselben Hirnkreisläufe wie akute Gefahr durch eine gefährliche Wildkatze. Schauen wir uns unsere evolutionäre Entwicklung an, so wird dies verständlich ― wir waren nur fähig zu überleben, wenn wir einer sozialen Gruppe angehörten“ (6).

Evolutionär bedingt verfügen wir über drei Arten von Reaktionen auf Stress: Kampf, Flucht oder Erstarren. Diese wählen wir nicht bewusst, sondern sie werden vom Stammhirn, dem ältesten Teil unseres Gehirns, ausgelöst und sollen schlicht unser Überleben sichern. Dabei ist die Erstarrungsreaktion ― Dissoziation, Kollaps, Totstellreflex ― der letzte Ausweg. Im Angesicht eines Raubtieres kann das durchaus sinnvoll sein, denn ein bewegungsloser Körper ist als Beute oft nicht interessant.

In einer Welt, in der wir nicht mehr ständig mit Raubtieren konfrontiert sind, kommen solche Reaktionen dennoch zum Zuge: Körper und Psyche werden „diese dissoziative Reaktion, die mindestens einmal das Überleben erfolgreich gesichert hat, immer wieder wählen ― und zwar auch in Situationen, die in der Realität nicht lebensbedrohlich sind, aber mit ähnlichen Emotionen und Körperempfindungen einhergehen“ (7).

Für Säuglinge können viele Situation lebensbedrohlich erscheinen, etwa, alleine schlafen zu müssen. Auf seine Hilflosigkeit wird ein Baby zunächst mit Empörung reagieren und versuchen, durch schreien auf sich aufmerksam zu machen. Dabei steckt hinter dem Schreien keine tiefere Absicht: „Kinder unter zwei Jahren haben jedoch noch keine Absichten oder Pläne, und dieses Erleben von Hilflosigkeit ist absolut grausam für sie“ (8). Schreien ist schlicht die einzige Reaktion, auf die ein Baby in einer solchen Lage zurückgreifen kann. Wenn niemand darauf reagiert, wird es irgendwann aus purer Erschöpfung aufgeben.

Hält die bedrohliche Situation dann noch immer an, kommt die nächste Reaktion auf Stress ins Spiel. Da sich ein Säugling weder wegdrehen noch ablenken kann, hat er nur noch eine Rückzugsmöglichkeit:

„Um diesem Schmerz auszuweichen, bleibt Babys keine andere Wahl, als sich von ihrem Körper zu distanzieren und ihre Lebensenergie in den Kopf und tief in die Knochen zurückzuziehen. Durch diesen Schutzmechanismus findet nur eine partielle Verkörperung statt“ (9).

Dieser Vorgang folgt dem Motto „Wo kein Körper ist, ist auch kein Tod“ (10). Traumatische Ereignisse machen uns unsere Sterblichkeit bewusst. Diese manifestiert sich eben auch in unserer Körperlichkeit und so findet durch eine Dissoziation eine Abspaltung von unserem Körper statt. Gleichzeitig erfolgt dadurch jedoch auch eine Trennung von uns selbst und unserer Lebendigkeit, denn auch diese ist im Körper manifest.

Wenn wir als Säuglinge und Kleinkinder immer wieder Stresssituationen erleben, die zu Dissoziation und Entkörperung führen, entstehen Entwicklungstraumata. Dami Charf beschreibt das wie folgt:

„Solche sich wiederholenden Stressoren haben eine völlig andere Wirkung auf Menschen als ein Schockerlebnis, denn sie werden zu einem Teil ihrer Persönlichkeit. (…) Durch lang anhaltenden Stress prägen sich das gesamte Weltbild und Selbstbild eines Menschen vollkommen anders und tiefgreifender als durch einen Schock. (…) Durch Entwicklungstraumata werden Muster angelegt, wie wir die Welt wahrnehmen. Wer beständig in der Erwartung von Gefahr lebt, beobachtet seine Umgebung genau und nimmt diese durch eine Brille wahr, die darauf ausgerichtet ist, entsprechende ‚gefährliche‘ Signale auszulesen“ (11).

Epidemie der Traumata

Solche gefährlichen Signale scheint es in unserer modernen, technisierten Zeit viele zu geben: „Durch Umwelt- und Lebensfaktoren werden so häufig Stressreaktionen ausgelöst, dass es für uns nicht gesund sein kann“ (12). Wie oben erwähnt, führt Stress zu Kampf, Flucht oder Erstarrung. Trotz einer stark veränderten Umwelt hat unser Körper keine anderen Reaktionen auf Stressoren entwickelt. Daher ist es wichtig, sich dieser Reaktionen bewusst zu sein und den Umgang mit ihnen zu lernen.

Diesbezüglich besteht noch immer großer Nachholbedarf. Dami Charf hält Entwicklungstraumata mittlerweile für „ein epidemisch auftretendes Phänomen. Sie sind inzwischen zu einem Merkmal unserer Gesellschaft geworden“ (13).

Dieses Phänomen hat auch eine geschichtliche Dimension. Von den 1950er- bis 1970er-Jahren ging man davon aus, dass Babys „keine Emotionen hätten“ und keine „eigenständige Person mit Gefühlen und Bedürfnissen“ seien (14). Entsprechend wurden sie oft gleich nach der Geburt für längere Zeiträume von ihren Bezugspersonen getrennt und teilweise sogar „ohne Anästhesie operiert“ (15). Hinzu kommt:

„Deutschland war und ist noch zusätzlich von einem Buch aus dem Nationalsozialismus geprägt, das Bindungsunterbrechungen geradezu propagiert und Müttern predigt, dass sie ihr Kind nicht ‚verzärteln‘ sollen. Dieses Buch, ‚Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind‘, war in Deutschland bis in die späten 1970er-Jahre auf dem Markt. Es hat die Erziehung in Deutschland massiv geprägt und sorgt bis heute für viele Entwicklungstraumata“ (16).

Angesichts der oben beschriebenen Bedeutung der Geburt und frühen Kindheit sind die Auswirkungen solcher gefühllosen Ansichten nicht zu unterschätzen. Offenkundig prägen sie das Körpergefühl ganzer Generationen. In unserer Gesellschaft ist die Beziehung zum Körper oft von Erwartungen geprägt: „Er soll funktionieren, gut aussehen und vor allem nicht schmerzen“ (17). Solange dies so ist, gilt man „als einigermaßen gesund und unauffällig“ (18). Leben wird zum reinen Funktionieren. Das scheint mittlerweile zum Normalfall geworden zu sein. Dami Charf formuliert es so:

„Selbstoptimierung ist inzwischen Teil unserer Kultur. Machen und Tun sind bedeutender als Fühlen und Sein. Erich Fromm sprach noch von ‚Haben oder Sein‘, ich sehe es heute tatsächlich mehr als ‚Tun oder Sein‘. Menschen sind dauernd beschäftigt“ (19).

Dabei zeugen selbst Beschäftigungen, die oberflächlich den Körper engagieren, wie zum Beispiel Sport treiben, nicht unbedingt von einer guten Beziehung zu diesem. Vielmehr wird „der Körper mehr und mehr funktionalisiert und gilt auf eine pervertierte Art als eine Visitenkarte für uns selbst“ (20).

Dami Charf kritisiert, dass Körperlichkeit und Verkörperung in Psychotherapien oft zu wenig berücksichtigt werden. Menschen mit frühen Entwicklungstraumata können ihre Probleme oft ausgiebig analysieren und daraus Erkenntnisse ziehen. Solange diese Erkenntnisse allerdings nicht mit Körpergefühlen verknüpft werden können, bringen sie keine längerfristige Erleichterung (21).

Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: „Unsere Gesellschaft ist besessen von Autonomie, Individualität und Selbstverwirklichung“ (22). Entsprechend schwierig ist die Vermittlung der oben geschilderten Erkenntnis: Wir können nur ein Ich entwickeln, wenn es ein Du gibt ― und nur dann können wir ein gutes Verhältnis zu unserem Körper entwickeln. Zu betonen ist daher:

„Wir müssen lernen, Menschen als offene Systeme zu sehen. Offene Systeme sind ständig auf Informationen und Feedback von außen angewiesen. Sie sind nicht rein auf sich selbst bezogen und nicht in der Lage, ganz für sich, quasi vollkommen autonom zu existieren“ (23).

Körperempfindungen spüren

Auch unser Körper ist ein offenes System. Er ist darauf ausgerichtet, mit seiner Umwelt in Resonanz zu gehen:

„Wir fühlen Emotionen im Körper, Lebendigkeit, Verbindung, die Erde, wir machen sinnliche Erfahrungen und genießen den Geschmack unseres Essens. Wir fühlen andere Menschen und brauchen Hautkontakt, um uns mit uns selbst wohlzufühlen. Wir benötigen unseren Körper als Feedbacksystem, um zu wissen, was wir brauchen und wollen von uns selbst, anderen Menschen und dem Leben“ (24).

Der erste und wichtigste Schritt zu einem besseren Lebensgefühl und der Etablierung von neuen Handlungsmustern besteht darin, unseren Körper wieder zu fühlen, ihn nicht mehr abzuspalten und zu funktionalisieren. Dabei hilft uns die Fähigkeit der Interozeption, die reine Wahrnehmung von Körperempfindungen. Körperempfindungen sind nicht mit Emotionen gleichzusetzen, sondern „sind mit dem Stammhirn verbunden und umfassen alle rein körperlichen Wahrnehmungen ohne jegliche Interpretation“, beispielsweise „Wärme, Spannung, Kribbeln, weich, fest“ (25).

Erst aus der Interpretation von Körperempfindungen entstehen Emotionen. Diese Interpretationen sind allerdings ein Stück weit willkürlich. So können ein rasendes Herz, schwitzige Hände und ein flatternder Magen entweder als Angst oder als aufgeregte Verliebtheit interpretiert werden ― je nach Situation (26). Auch die Interpretation unserer körperlichen Regungen lernen wir im Kleinkindalter durch unsere Eltern. Sie benennen für uns die jeweiligen Emotionen ― oder auch nicht, was später dazu führen kann, dass wir diese selbst nicht ausdrücken können (27).

Nach Dami Charfs Einschätzung werden Emotionen in Psychotherapien ― und folglich auch in der Gesellschaft ― oft zu wichtig genommen. Ihre „Erfahrung jedoch sagt, dass es für Menschen wichtiger ist, noch eine Ebene tiefer vorzudringen und die Empfindungen unter den Emotionen spüren zu können“ (28). Durch das Spüren des Körpers lassen sich auch scheinbar überwältigende Emotionen „erden“ (29).

Interozeption hilft uns entscheidend dabei, unsere Selbstregulation und damit unser Lebensgefühl zu verbessern. Dabei ist sie Teil eines Prozesses, eines Weges, den wir Schritt für Schritt gehen können. Fangen wir also an, in unseren Körper hineinzuspüren. Das können wir gleich jetzt tun, beim oder nach dem Lesen dieses Artikels: Wie fühlt sich mein Körper an? Bin ich angespannt? Wenn ja, wo genau ― welche Muskeln sind angespannt? Ist mir kalt oder warm? Wie geht mein Atem? Langsam oder schnell? Wo kann ich ihn fühlen?

Und dann beginnen wir zu verinnerlichen:

„Wir sind unser Körper“ (30).


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Charf, Dami. Auch alte Wunden können heilen: Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wie wir uns davon lösen können. München: Kösel-Verlag, 2018. Seite 106.
(2) Charf, Seite 107.
(3) Charf, Seite 48/49.
(4) Charf, Seite 35 bis 40.
(5) Charf, Seite 47.
(6) Charf, Seite 203.
(7) Charf, Seite 19.
(8) Charf, Seite 117.
(9) Charf, Seite 111/112.
(10) Charf, Seite 121.
(11) Charf, Seite 26/27.
(12) Charf, Seite 20.
(13) Charf, Seite 25.
(14) Charf, Seite 64/65.
(15) Charf, Seite 65.
(16) Charf, Seite 65.
(17) Charf, Seite 110.
(18) Charf, Seite 179.
(19) Charf, Seite 161.
(20) Charf, Seite 178.
(21) Charf, Seite 110 bis 112.
(22) Charf, Seite 47.
(23) Charf, Seite 47.
(24) Charf, Seite 194.
(25) Charf, Seite 197.
(26) Charf, Seite 197/198.
(27) Charf, Seite 199.
(28) Charf, Seite 198.
(29) Charf, Seite 197.
(30) Charf, Seite 100.

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