Die ökonomische Entwicklung seit 1980
Seit etwa 1980 sehen wir in den USA, aber auch in vielen anderen Industrienationen, eine zunehmende Ungleichverteilung. Die Schere zwischen arm und reich, genauer, zwischen den Wohlhabenden und der Mittelschicht beziehungsweise den unteren Einkommensschichten ist aufgegangen. Das war auch politisch durchaus so gewollt. Von der „konservativen Revolution“, die 1980 in den USA und Großbritannien begann, ging das Motto aus: Macht die Reichen reicher, entlastet die Unternehmen steuerlich, dann wird mehr investiert und das Wachstum steigt. Das hat auch funktioniert, allerdings unter Inkaufnahme zunehmender Ungleichverteilung, das heißt, dass ein großer Teil des zunehmenden materiellen Wohlstands nach oben, zu den ohnehin schon Wohlhabenden geflossen ist (1).
Massenproduktion ist aber nur möglich bei Massennachfrage und diese setzt wiederum Massenkaufkraft voraus. Aber just die Massenkaufkraft ist nur sehr wenig gestiegen, da die Löhne zurückgeblieben sind. Wie war also das starke Wirtschaftswachstum überhaupt möglich? Wer hat mit welchem Geld die ganzen zusätzlichen Produkte und Dienstleistungen gekauft? Das funktionierte nur über zunehmende Schulden (2). Die weltweiten Schulden sind derzeit mit 296 Billionen Dollar, das entspricht 353 Prozent der weltweiten Wirtschaftskraft— so hoch wie noch nie (3), und können unmöglich jemals zurückbezahlt werden.
Was ist also von 1980 bis heute geschehen? Das zusätzliche Geld und Kapital hat sich mehr und mehr bei einer kleinen Oberschicht konzentriert. Von dieser wurde es wieder renditemaximierend in neue Investitionen gesteckt, für die eigentlich die Massenachfrage gefehlt hat. Die Massennachfrage hat man dann über zusätzlich Kredite geschaffen. Es hat also ein nicht organisches, nicht gesundes, sondern krankes, krebsartiges Wachstum stattgefunden.
Im Jahr 2007 war ein unhaltbarer Zustand dieser Entwicklungen erreicht. Die Schulden waren zu hoch geworden, und insbesondere die Immobilienmärkte — aber nicht nur diese — waren krebsartig gewachsen. Das führte zu der Finanzkrise 2007 bis 2009, die die Welt an den Rand eines Zusammenbruchs des Weltfinanzsystems führte. Das Schuldenproblem wurde „gelöst“, indem neue Schulden aufgenommen wurden. Das war möglich, weil die Notenbanken in fast allen Industriestaaten die Zinsen auf oder nahe null gesetzt und frisches Geld in noch nie da gewesenem Maße gedruckt haben — der Fachausdruck dafür ist Quantitative Easing, Quantitative Lockerung beziehungsweise Geldmengenausweitung. Die USA haben die Zentralbankgeldmenge seit 2007 grob verelffacht, die Europäische Zentralbank (EZB) etwa verneunfacht.
So stehen wir heute nicht nur vor einem unlösbaren Schuldenproblem, sondern auch vor einer riesigen Geldblase, die beide das finanzielle Spiegelbild des eigentlich zugrunde liegenden ökonomischen Problems sind.
Die Massennachfrage ist zu gering, die Produktionskapazitäten sind gemessen an den Masseneinkommen viel zu hoch, weil die Ungleichverteilung ständig gestiegen ist. Ein großer Teil des Wirtschaftswachstums der vergangenen 40 Jahre war krebsartiges, ungesundes, schuldenfinanziertes und daher nicht nachhaltiges Wachstum.
Krieg als Lösung der ökonomischen Probleme? Welche Interessen haben die USA?
„Die“ Lösung „der“ Finanzmarkt- oder Überkapazitätsprobleme ist zu allgemein. Ich möchte daher auf ganz bestimmte, konkrete Interessenlagen eingehen. Wie stellt sich die polit-ökonomische Lage aus US-Sicht dar? Aus Perspektive der USA ist Mitteleuropa, insbesondere Deutschland, ein beachtlicher ökonomischer Rivale. Deutschland ist die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt. Technik, Produktion, Produktivität, Effizienz sind im internationalen Vergleich ausgezeichnet. Dazu kommt, dass Deutschland seit der Wiedervereinigung von der Einwohnerzahl her deutlich größer als Frankreich, Großbritannien und Italien ist und daher zumindest das Potenzial hat, sich politisch stärker geltend zu machen. Ich fürchte, weder ein starkes Europa noch ein starkes Deutschland sind unter machtpolitischen Aspekten im Interesse der USA, im Gegenteil, das sind unangenehme Konkurrenten.
Von daher könnte die Schwächung Europas, insbesondere Mitteleuropas, ein mögliches wichtiges Kriegsziel der USA im Ukrainekonflikt sein. Spinnt man diesen Gedanken fort, könnten Truppenbewegungen und das Austragen militärischer Konflikte auf mitteleuropäischem Boden, möglicherweise auch über den Rhein hinweg in französische, holländische und belgische Industriezentren hinein aus US-Sicht vorteilhaft sein: Das würde europäische Industriekapazitäten zerstören, damit Konkurrenz ausschalten und die problematischen weltweiten Überkapazitäten reduzieren — auf fremdem Boden und daher zugunsten der US-Industriebasis.
Ich sehe daher unter rein hegemonialpolitischen Gesichtspunkten keinen triftigen Grund für die USA, bei einem möglichen Vormarsch russischer Truppen nach Westen Polen oder Deutschland militärisch ernsthaft zu unterstützen. Im Gegenteil: Aus machtpolitischer Sicht könnte ein solcher militärischer Vorstoß nach Mitteleuropa den USA durchaus willkommen sein. Ich rechne daher für den nicht unwahrscheinlichen Fall russischer Truppenbewegungen nach Westen mit vergleichsweise geringem, lediglich gesichtswahrendem militärischen NATO-Beistand für Polen und Deutschland. Von daher könnte ein Vorstoß russischer Truppen bis tief nach Mitteleuropa hinein recht schnell gehen.
Unter Hegemonialgesichtspunkten wären für die USA eine echte, tiefe Völkerverständigung und Kooperation zwischen Russland und Deutschland geradezu ein Albtraum.
Das riesige russische Land in einer Allianz mit Mitteleuropa, das technische, geistige, ökonomische Know-how, die Effizienz Mitteleuropas kombiniert mit der gewaltigen Landmasse Russlands und dessen vielen Menschen: Eine solche Allianz wäre eine gewaltige machtpolitische Bedrohung für die Hegemonialinteressen der USA. Daher ist meines Wissens seit mehr als 100 Jahren ein zentraler Eckpunkt angelsächsischer Außenpolitik, zwischen Russland und Deutschland einen Keil zu treiben, Misstrauen und Feindschaft zu erzeugen. Durch den Ukrainekonflikt bietet sich den USA eine neue hervorragende Chance dazu, die beiden Länder zu entzweien.
China
Unter machtpolitischen Gesichtspunkten wäre ein großer Konflikt zwischen der NATO und Russland auf europäischem Territorium für China vorteilhaft. Als lachender Dritter könnte man die kriegführenden Parteien mit allen Arten von zivilem und gegebenenfalls auch mit Kriegsmaterial beliefern. China hat daher großes Interesse daran, den Konflikt zu schüren und zum Krieg zu ermuntern. Es hat sich bislang stark auf die Seite Russlands gestellt (4), was eine mögliche Eskalation des Krieges umso wahrscheinlicher macht, da Putin nicht mit einem Zweifrontenkrieg rechnen muss, im Gegenteil.
Die Lösung ökonomischer Probleme?
Schon heute zeichnet sich ab, dass man durch den Ukrainekonflikt sehr gut von eigenen Problemen ablenken und Putin leicht zum Sündenbock für viele Arten von ökonomischen und Finanzproblemen in der Weltwirtschaft machen kann. Ihm wird schon heute die Schuld an einer kommenden Inflation oder Stagflation gegeben (5) — und nicht etwa dem Gelddrucken der Notenbanken oder den für die Finanzbranche lukrativen Schuldenexzessen der vergangenen Jahrzehnte oder den explosionsartig wachsenden Vermögen der Milliardäre.
In Kriegszeiten kann über Notstandsgesetze in die Märkte und in die Preise administrativ relativ einfach und ohne nennenswerte Widerstände der Bevölkerung eingegriffen werden, sodass beispielsweise tatsächlich vergleichsweise einfach über Inflationsprozesse ein Schuldenschnitt herbeigeführt werden könnte.
Die Toleranz der Menschen gegenüber gravierenden Staatseingriffen, Inflation oder Vermögenseingriffen ist in Kriegszeiten und angesichts täglicher schauerlicher Kriegsbilder ungleich höher als in Friedenszeiten. Falls größere Teile der Produktionsanlagen in Mittel- und Osteuropa durch einen Krieg zerstört werden sollten, würde sogar das ursprünglich zugrunde liegende Problem der Überkapazitäten gelöst — zugunsten der Länder, auf deren Territorien keine Kampfhandlungen stattfinden. Man kann danach am Wiederaufbau gleich mitverdienen.
Was kommt?
Bereits vor dem Ukrainekonflikt gab es reichlich Grund zur Sorge um das Wohl und Wehe der Weltwirtschaft: Die hohen Schulden, die Geldblase, überbewertete Aktien- und Immobilienmärkte, starke Armut und Hunger in Entwicklungsländern und so weiter — was alles durch die Coronamaßnahmen noch dramatisch verschlimmert wurde (6). Durch die Kriegshandlungen schnellen derzeit (Stand 4. März 2022) die Energie- und Lebensmittelpreise sowie die Preise einiger Rohstoffe in die Höhe. Das dürfte für sehr viele Unternehmen, Länder und zahllose Menschen eine große, vielleicht nicht mehr tragbare Belastung darstellen. Die Aktienbörsen sind seit den Kampfhandlungen abgestürzt und schwanken dramatisch. Wenn der Konflikt weiter anhält, womit ich rechne, dürften die Weltkapitalmärkte vor großen Turbulenzen und vermutlich einem Crash stehen. Große Teile der Weltwirtschaft dürften dann abstürzen, Arbeitslosigkeit, Leid und Elend 2022 und 2023 stark zunehmen. Möglicherweise kommen Hunger und soziales Chaos auf uns zu. Ich fürchte, die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Christian Kreiß: Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft, tredition 2019, https://menschengerechtewirtschaft.de/wp-content/uploads/2020/07/Buch-Mephisto-30.4.20-mit-Bild-1.pdf, Seite 60 und folgende.
(2) Vergleiche Christian Kreiß: Profitwahn, Marburg 2013, Tectum, Seite 89 und folgende.
(3) Global Debt Monitor September 2021.
(4) Lingling Wei: China Declared Its Russia Friendships had „No Limits”. It’s Having Second Thoughts, Wall Street Journal, 3. März 2022:: https://www.wsj.com/articles/china-russia-xi-putin-ukraine-war-11646279098.
(5) Stagflation: EZB-Ratsmitglied schiebt Probleme im Euro-Raum auf Krieg in Ukraine ab; Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 3. März 2022,
https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/517904/Stagflation-EZB-Ratsmitglied-schiebt-Probleme-im-Euro-Raum-auf-Krieg-in-Ukraine-ab.
(6) Christian Kreiß: Lockdowns: Wer gewinnt, wer verliert?, Telepolis, 23. Januar 2022, https://www.heise.de/tp/features/Lockdowns-Wer-gewinnt-wer-verliert-6335550.html?seite=all.