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Schädliche Standards

Schädliche Standards

Bildungsstandards rauben unseren Kindern die Individualität und sind unmenschlich.

Lernziele und Lehrpläne: Standards überall

Wer Standards setzt, gilt als führend. Standards klingen toll: modern, nachweisbar, verbindlich. Nach Qualität. Auch im Schulkontext erfreuen sich Standards großer Beliebtheit. Doch Menschen brauchen keinen TÜV.

Schon im Referendariat bekam ich eingetrichtert: Das Wichtigste an der ganzen Stunde ist das Lernziel. Das muss klipp und klar definiert werden – von wem? Von mir, der Lehrerin natürlich! Und zwar mit glasklarem Bezug zum Lehrplan.

Der Lehrplan – die heilige Richtschnur. Dort sind sie genau erklärt, die Standard-Fähigkeiten, die jeder junge Mensch im Laufe der Schulzeit erwerben soll. Darunter zum Beispiel: Gedichte analysieren, Wortarten erkennen, einen Bericht schreiben, die Vorvergangenheit im Englischen und Lateinischen ausdrücken, biometrische Funktionen, den Feinbau der Zelle beherrschen und so weiter.

Doch was, wenn ein Junge oder ein Mädchen sagt: „Nein, Wortarten will ich nicht lernen!“, „Das interessiert mich nicht.“ oder „Ich habe heute keine Lust dazu“?

Da heißt es entweder weghören, drüber reden – „Ach komm, nur die eine Aufgabe“ –, bestechen – „Wenn du jetzt gut mitmachst, dann…“ – oder am besten gleich mit einem motivierenden Stundeneinstieg und Lernspielen „ganz natürlich“ zum Wortarten-Lernen animieren – in der Hoffnung, dass solche „Störungen“ gar nicht erst auftauchen.

Und wenn doch mal alle Stricke reißen? Dann greife ich eben zum letzten Allheilmittel, dem Rettungsanker meiner Glaubwürdigkeit, und verweise aufs große Ganze: „Also wenn du das mit den Wortarten jetzt nicht lernst, dann …“ – fehlt dir Grundlagenwissen, verbaust du dir die Zukunft, auf jeden Fall die nächste Zeugnisnote! Ja, am Ende steht vielleicht dein Schulabschluss auf dem Spiel! Der Supergau.

Der Supergau

Soweit, so schlecht. Denn ich frage mich, ob nicht etwas ganz anderes als die verpatzte Zeugnisnote hier der Supergau ist: Zum Beispiel, dass ich als Lehrerin kraft meines Amtes ein bestimmtes Standard-Lernziel über die Köpfe meiner Schülerinnen und Schüler hinweg festlege. Dass wir Lehrkräfte die vorgegebenen Lernziele und die Standardisierung des Lehrplans einfach so schlucken. Oder dass tatsächlich zig Tausend Schüler jedes Jahr ohne Abschluss ihre Schullaufbahn beenden und sich als Totalversager fühlen, weil ihre Fähigkeiten von den im Lehrplan geforderten Standard-Kompetenzen abweichen.

Was sind Standards und wozu sind sie gut?

Was sind eigentlich Standards? Der Duden definiert: „Ewas, was als mustergültig, modellhaft angesehen wird und wonach sich anderes richtet“, „Richtschnur, Maßstab, Norm“, „im allgemeinen Qualitäts- und Leistungsniveau erreichte Höhe“.

Es geht also um die Sicherstellung von Qualität – geprüft und für gut befunden. Und natürlich um die Vergleichbarkeit. Schließlich muss es Zugangsvoraussetzungen geben. Es geht also um Selektion. Wo kämen wir denn hin, wenn einfach jeder, unabhängig von seinen Leistungen in Deutsch, Mathe oder Englisch, an der Uni studieren oder Arzt werden könnte …?! Ich glaube, wir kämen sogar ziemlich weit.

Lebensferne Inhalte

Ob die heute abgeprüften Schulabschluss-Standards tatsächlich zeigen, ob und inwiefern jemand an einer Universität oder in einem bestimmten Beruf klarkommt, wage ich zu bezweifeln. Denn die Inhalte, die zur Erfüllung dieser Standards herangezogen werden, sind weit entfernt davon, für das Erwachsenenleben hilfreich zu sein.

Ein eigenes Beispiel: Auch wenn ich ganz tief in meinem Gedächtnis krame, fällt mir keine einzige Situation in meinem bisherigen Erwachsenenleben ein, in der ich etwas über Satzglieder hätte wissen müssen. Sogar in meinem Studium kamen Satzglieder nur am Rande vor – und für diese seltenen Momente hätte ich sie auch einfach googeln können. Nichtsdestotrotz werden Satzglieder bis heute unermüdlich an jeder Schule ab Klasse 5/6 wochenlang gelehrt und gelernt.

Das heißt konkret, dass sich Elf- und Zwölfjährige damit befassen sollen, was der Unterschied zwischen einem Attribut und einem Adverb ist. Was es mit Pronomen, Partizipien und Präpositionen auf sich hat. Wie das Plusquamperfekt gebildet wird und warum das Futur II auch „vollendete Vergangenheit“ heißt. Warum in Nebensätzen das Prädikat immer hinten steht und vor Konjunktionen ein Komma. Warum bei „he, she, it“ das „s“ mit muss und man nicht durch null teilen darf.

So viel Theorie, so viel eingetrichtertes Wissen in so kurzer Zeit, so viel trocken gelernte, seelenlose Inhalte. Das angehäufte Wissen ist viel zu speziell und wenig passgenau – wenn ich zufällig kein geisteswissenschaftliches Studium anstrebe, sondern Tischlerin werden möchte, können mir die Satzglieder von Herzen egal sein. Ganz abgesehen davon, dass sie wohl rein gar nichts mit meinen Interessen als Elfjährige zu tun haben.

Warum bin ich mit elf Jahren bereit zu lernen, was ein Genitiv-Attribut ist? Aus einem einzigen Grund: Ich will meine Lehrerin glücklich machen, die das Ganze wiederum nur deswegen unterrichtet, weil es so im Lehrplan steht – und sich selbst wahrscheinlich privat auch nicht sonderlich für Genitiv-Attribute interessiert. Ein Teufelskreis.

Kaum Wahlfreiheit

Die Inhalte der Lehrpläne sind zwar mittlerweile weitestgehend umbetitelt worden in „Kompetenzen“, das Problem bleibt aber das gleiche. Ob standardisierte Inhalte oder Kompetenzen – die „All-in-one“-Lösung führt dazu, das junge Menschen in der Schule so gut wie keine Chance haben, ihre eigenen Interessen zu entdecken und sich in diesen weiterzubilden.

Es wird alles für alle verpflichtend „angeboten“. Erst in der Oberstufe dürfen junge Menschen Profile oder Leistungskurse wählen, aber auch diese Wahl beschränkt sich auf einen schulisch vorgegebenen, eng gesteckten Rahmen. Von echter Wahlfreiheit kann hier also kaum die Rede sein.

Was hat das mit uns zu tun?

Die Vorgaben für die verschiedenen, zentralisierten Schulabschlüsse haben nichts oder nur in kleinstem Maße etwas zu tun mit meinen Schülerinnen und Schülern als Menschen, als Individuen, und dem, was sie können, was sie wollen, was sie zu sagen haben, was sie begeistert, was sie fühlen. Geschweige denn, dass sie etwas mit mir zu tun hätten – der Person, die ihnen tagtäglich gegenübersitzt.

Gerade in den oberen Klassen wird es düster: In den Sprachen geht es fast nur noch um Textanalysen und Gedichtinterpretationen nach standardisiertem Aufbau … Und ich habe bisher keinen einzigen jungen Menschen kennen gelernt, der das gerne und aus eigenem Antrieb heraus gemacht hätte, geschweige denn, diese Kompetenzen für sein zukünftiges Leben als wichtig erachtet hätte. Nichtsdestotrotz nehmen diese Kompetenzen einen Großteil bei Abschlussprüfungen ein. Was sind das für Standards? Was sind das für vereinheitlichende, die Kreativität verneinende Prüfungen?

Stupide Aufgabenformate

„Ist das ein Idiotentest?“, fragte mich einmal ungläubig ein Schüler, als ich mit der Klasse die KERMIT-Testungen – standardisierte Leistungstests an Hamburger Schulen – machte. Zurecht. Junge Menschen fühlen sich manipuliert, wenn bei ihnen Kompetenzen „abgezapft“ werden wie bei einer Kuh, die gemolken wird.

In anderen Bundesländern sind sogar schon Scherzaufgaben in Abschlussprüfungen gelangt. Wie konnte das passieren? Wie austauschbar und trivial sind Prüfungsfragen? Und was wird damit „diagnostiziert“?

Gleichschaltung: Lernprozesse lenken und vergleichen

Genau wie engstirnige Prüfungsformate, so sind auch Stundenlernziele ein Versuch, Schüler und Schülerinnen gleichzuschalten. Denn selbst wenn ein Lernziel von vielen Menschen als gut und harmlos betrachtet wird, zum Beispiel wenn es „nur“ darum geht, ein Bild auf Englisch zu beschreiben: Es ist und bleibt vorgegeben, an welchem Tag, zu welcher Zeit und an welchem Ort diese Fähigkeit erlernt werden soll.

Unabhängig davon, ob es überhaupt für jeden Schüler meiner Klasse zu der Zeit relevant ist und in dem gegebenen Setting gelernt werden möchte. Es wird ausgeblendet, ob er oder sie diese Kompetenz für sich als wichtig, interessant und lernenswert erachtet.

Es geht bei Prüfungen, Lernzielen und Co. aber nicht nur darum, Lernen und Lernwege zu lenken, also zu antizipieren beziehungsweise vorzuebnen, sondern auch darum, den gewünschten Lernerfolg messen zu können und vergleichbar zu machen: Das heißt, wer die Standards nicht erreicht, der bekommt eine schlechte Note – oder extra Förderung.

Was nicht passt, wird passend gemacht: Förderdiagnosen

Interessanterweise sind die Diagnosen für einen sonderpädagogischen Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen seit 2009 um 20 Prozent angestiegen. Hier drängt sich die Frage auf, ob die wachsende Zahl der Förderdiagnosen nicht auf ein ganz anderes Problem hindeutet. Brauchen 90.000 mehr junge Menschen eine spezielle Förderung, oder sollten vielleicht doch eher ein paar Standards überdacht werden? Bedenkenwert ist auch das dahinter liegende Muster: Wer nicht zu unseren Standards passt, der wird eben passend gemacht.

Standards verletzen

Standards sind überaus hilfreich, wenn es um Verkehrsregeln geht, um Airbags im Auto oder um Sicherheitsvorkehrungen in Flugzeugen. Doch angewandt auf Menschen richten Standards Verheerendes an:

Sie suggerieren, dass ein jeder Mensch bestimmten überprüfbaren Normen und Maßstäben entsprechen muss, um einen bestimmten Wert zugesprochen zu bekommen. Noten und Abschlusszeugnisse sind nichts anderes als Bewertungen; unser Wert – in Form von Schulleistungen – wird anhand bestimmter Standards gemessen und protokolliert. Wie beim TÜV.

Doch wenn diese Normen nicht oder nicht ausreichend erreicht werden, entstehen Gefühle von Entwertung und Erniedrigung: Wir reichen nicht aus. Das sitzt.

„Untragbare“ Schüler?

Anhand dieser Dynamik lässt sich allerhand erklären.

Ich habe Jugendliche kennengelernt, die im Klassenraum permanent „Probleme“ machten, ausrasteten, als verhaltensauffällig oder sogar „unbeschulbar“ galten, aber außerhalb des Klassenraums, in Einzelgesprächen, in den Pausen oder auf Klassenfahrten, da waren sie umgängliche, wissbegierige und lernbereite junge Menschen.

Wie kann das sein? Wenn jemand (Lern-)Bedürfnisse hat, und diese wieder und wieder nicht gesehen werden, kann das traurig machen, verzweifelt, wütend, hilflos, aggressiv oder einfach nur stumm. In einer Klasse mit standardmäßig bis zu 30 Schülerinnen und Schülern werden individuelle Lernbedürfnisse andauernd nicht gesehen und junge Menschen übergangen. „Wir behandeln unsere Kinder wie Objekte, die man nach Wunsch formen kann“, sagt Neurobiologe Gerald Hüthe. Die Bildungsindustrie möchte lehren und lernen nach Maß.

Aber wenn wir uns erst verbiegen und uns diesem Maß anpassen müssen, um Wertschätzung zu bekommen, fühlen wir eine riesige Enttäuschungswut. Nur wohin damit? In der Schule ist dafür kaum Platz, hier gilt es, zu funktionieren. Manchmal zeigt der Körper, was sonst nicht gezeigt werden kann:

„In Europa hat inzwischen jedes zweite Kind eine chronische Krankheit. Das gab es in der gesamten Geschichte der Menschheit noch nicht. Bei größtmöglichem medizinischen Fortschritt waren unsere Kinder noch nie so auffallend krank wie heute”,

sagt Kindheitsforscher Michael Hüter.
Auch Phänomene wie Konzentrations„defizite“, Lern„schwächen“ und Verhaltens„auffälligkeiten“ – die übrigens als solche nur anhand von Standards definiert werden können – wachsen an. Doch wenn wir diese Symptome mithilfe von Medikamenten, Nachhilfe und Verhaltenstrainings eindämmen können, warum dann auf die Ursachen schauen?

Dass sich „untragbare“ Schüler plötzlich im Einzelsetting oder in der Kleingruppe als durchaus tragbar und lernbereit zeigen, hat aber meiner Erfahrung nach weniger mit Diagnosen und Medikamenten, als vielmehr mit der Art der Begegnung und dem Gefühl des Gesehenwerdens zu tun.

Nimm’s bitte nicht persönlich

Schulische Standards koppeln also den Wert und „Rang“ eines jungen Menschen an die Erfüllung bestimmter Normen: Wer von uns als leistungsfähig gilt und wer nicht, wer ein Einser- und wer ein Sechserschüler ist, das wird daran festgemacht, wie gut oder schlecht wir uns etwas merken und wieder „ausspucken“ können; wie gut oder schlecht wir uns in der Klasse benehmen, wie gut oder schlecht wir über einen Barren springen, wie gut oder schlecht wir das mit den Satzgliedern hinkriegen.

Dass Noten nichts über uns oder unsere Persönlichkeit sagen, und junge Menschen schulische Bewertungen doch bitte nicht persönlich nehmen sollen, halte ich für ein Paradox. Wie sollen junge Menschen die Bewertung eines Erwachsenen, der offensichtlich älter, mächtiger und erfahrener ist, und der in einer Institution arbeitet, die große Teile ihres Lebens einnimmt, nicht persönlich nehmen? Wie soll man sich nicht andauernd mit anderen vergleichen und konkurrieren, wenn es subtil stets darum geht, der oder die Beste zu sein, und alle davon reden, wie wichtig die Abschlussnote ist?

Um all diese schulischen Bewertungen, die da quasi tagtäglich auf sie einprasseln, mal eben so „wegstecken“ zu können, bräuchten Schüler/innen ein Mammut-Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und innere Stabilität. Können wir dies von Menschen erwarten, die gerade einmal zehn oder zwölf Jahre auf der Welt sind?

Schule als self-fulfilling prophecy

Andere argumentieren, dass wir Noten und Standards bräuchten, weil es draußen in der Welt auch nicht anders zugehe, und junge Menschen darauf vorbereitet werden müssten. Schule dürfe keine Blase sein, es sei ja später auch nicht alles „easy“ im Leben.

Hier stellt sich mir die Frage, ob das „echte“ Leben nicht heute so aussieht, wie es aussieht, weil ein Großteil der Menschheit eben jene konkurrenzfördernden und individualitäts-verneinenden Schulsysteme durchlaufen hat. Schulbildung als selbsterfüllende Prophezeiung: Wir trimmen und trainieren unsere Schüler und Schülerinnen für das harte Leben später, und zeichnen ihnen immer wieder vor, wie schwer es später werden wird – und dann wird ihr Leben später tatsächlich hart und schwer.

Wie würde ihr Leben, wie würde eine Gesellschaft von morgen aussehen, wenn wir weniger auf Standarderfüllung und Konkurrenzdruck setzen würden, dafür aber auf individuelle Potenzialerfüllung – losgelöst von allen Standards? Wenn wir wirklich etwas verändern wollen an den auf vielen Ebenen desaströsen Zuständen in der Welt, dann gelingt das nicht, indem wir versuchen, Menschen in DIN-Formate zu pressen.

Standards versus Menschlichkeit

Können wir bei Menschen und ihren Fähigkeiten überhaupt eine Mustergültigkeit, eine Norm, ein bestimmtes Qualitätsniveau anstreben? Neben der Frage, ob diese Standards, die wir da erschaffen haben, uns als Menschen gerecht werden, stellt sich auch diejenige nach dem Sinn und Zweck: Lernen wir durch Standards etwa besser oder gar mehr?

Was bei Standardisierungen auf jeden Fall auf der Strecke bleibt, sind Entdeckerfreude, Neugier, Motivation. Lernfreude kann ich nicht von außen konstruieren. Ja, ich kann für Sachen begeistern, die ich liebe, die mir Spaß machen. Oder ich kann ein besonders aktuelles, bewegendes Bild für eine Bildbeschreibung auf Englisch mitbringen, mir einen tollen Unterrichtseinstieg überlegen, der alle zum Mitreden aktiviert.

Aber, solange ich dabei Standards bediene oder im Hinterkopf habe, manipuliere ich: Denn ich möchte aktivieren, ich möchte Interesse wecken, ich möchte, dass die Schüler und Schülerinnen sich äußern. Es ist mir nicht egal. Ich habe – beziehungsweise die Kultusministerkonferenz hat – ein klares Ziel vor Augen, und die Jugendlichen sollen es erreichen.

Auf die Spitze getrieben wird das Ganze in Lernentwicklungsgesprächen, in denen Schüler/innen im Beisein des Klassenlehrers genötigt werden, „eigene“ – natürlich schulverträgliche – Ziele und Vorhaben zu formulieren, diese vertraglich festzuhalten und zu unterschreiben.

Aus dem Fenster gelehnt

Die Kompetenzorientierung mitsamt der Lehrpläne richten mehr Schaden an, als dass sie nutzen. Genauso wie standardisierte Prüfungen. Es sind allesamt Standards, die in keiner Weise zeigen, was in jungen Menschen steckt. Und die selektieren, indem sie bestimmte, vorgegebene Fähigkeiten aufwerten.

Mithilfe von Standards wird bewertet, was das Zeug hält, aber kein Mensch wird wirklich gesehen.

Die derzeitigen Schulabschlüsse sind individualitäts-verneinende Prüfverfahren, die nur sehr wenig aussagen über den Menschen, der sie absolviert hat. Sie führen dazu, dass Potentiale, die nicht den Regelfächern und Standard-Curricula-Kompetenzen entsprechen, hintenüberfallen.

Sie rauben Zeit und Nerven, von Kindern, Eltern, Familien. Sie verhindern, dass Kinder und Jugendliche aus vollem Herzen „Nein!“ sagen dürfen, „Dazu habe ich keine Lust!“, und dass ihre Stimme gehört und respektiert wird.

Indem wir uns alle dem Joch der Lehrpläne und Kerncurricula unterwerfen, verändert sich nichts. Keiner traut sich, die Tafeln der in Stein gemeißelten Lernstandards die Klippe runterzuschubsen. Doch wir müssen „out of the box“ denken, wenn wir Schule wirklich verändern wollen. Wir müssen auf die Barrikaden gehen – trotz Beamtenstatus –, und uns von diesen alten Fesseln lossagen.

Alternativen zu Schulabschlüssen

Und es gäbe so einfache Alternativen: Aufnahmegespräche von Betrieben und Firmen, von Universitäten und Werkstätten: Was kann der Mensch vor mir, was interessiert ihn? Was macht ihn aus? Warum hat er Lust, hier zu arbeiten oder zu studieren? Ob der Mensch dann 16, 18, 20 oder älter ist, interessiert die wenigsten. Bei unserer Lebenserwartung ist noch viel Zeit.

So viele künstlich errichtete Hürden würden einfach wegfallen. Die „Standardkompetenzen“ in Mathe, Englisch, Deutsch – Rechtschreibung, das kleine Einmaleins und so weiter – werden in Zukunft sowieso Computer übernehmen.

Wozu also all der Stress? Wozu all die veralteten Zugangsbarrieren? Warum kann jungen Menschen nicht einfach die Welt offenstehen, ganz egal, was ihre Talente sind? Warum müssen sie derart viel Zeit verbringen mit der Beschäftigung mit Inhalten, die sie im Zweifel nur marginal interessieren? Was geht alles verloren, bei dem Versuch, sich zu fügen in bestimmte Erwartungen und Raster?

Harald Lesch sagt:

„Das menschliche Miteinander von Lehrern und Schülern kann aus jedem Klassenraum einen Garten der Freude, der Neugier und der Fantasie machen. (…) Aber dafür braucht es Freiräume, und natürlich viel Zeit.“

Jeder sein eigener Maßstab

Lehrer und Lehrerinnen können inspirieren, beflügeln, begeistern, Vorbild sein, Wissensquelle, Unterstützer, Experten. Mehr nicht. Wir können keine Ziele vorgeben, und wir dürfen nicht zu Ziel-Vorgebern werden. Wir dürfen Flügel verleihen, aber nicht stutzen. Denn was jemand für lernenswert erachtet, das hängt einzig und allein von ihm oder ihr selbst ab und von niemandem sonst.

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