von Arno Luik
2005 versprach der damalige Bahn-Chef Hartmut Mehdorn: „In den nächsten Jahren liegt besonderes Augenmerk auf der Verschönerung der kleineren Stationen“, dafür stelle der Bund in den kommenden Jahren 50 Millionen Euro zur Verfügung.
Und was ist dabei herausgekommen? Zum Beispiel in der kleinen Station in Königsbronn, meinem Heimatdorf? Alles ist hier nur noch trist, versifft, mit Graffiti vollgesprüht, der Bahnsteig ist vollgespuckt, verdreckt, überall Zigarettenkippen. Der Fahrkartenautomat ist in einem zugigen Glasverschlag, bei Sonnenschein erkennt man kaum die Tasten, im Winter muss man das Bedienfeld von Eis freikratzen, wenn es regnet wird man nass, oft funktioniert der Apparat nicht.
Vor ein paar Jahren traf ich den Bahnchef Hartmut Mehdorn zu einem Gespräch, und ich sagte ihm, dass meine 80-jährige Mutter nicht mehr mit dem Zug von Königsbronn in die nahe Kreisstadt fahren kann, weil sie den Automaten nicht beherrscht und sich nicht traut, schwarz zu fahren. „Muss sie auch nicht“, knurrte der Bahnchef, „sie kann doch ihre Fahrkarte im Internet bestellen!“
Dieser verkommene Halt — inzwischen gibt es Tausende seiner Art in Deutschland — ist nicht bloß ein verkommener Bahnhof. Er ist ein Symbol. Er steht, Pars pro Toto, für den Zustand des gesamten Landes. Dafür, dass sich der Staat von seiner Fürsorgepflicht zurückzieht.
Es verschwinden der Bahnhof, die Post — Orte der Begegnung, an denen man lebende Menschen traf, die miteinander reden. Vorbei. Diese staatlich verordnete Vernachlässigung sagt viel aus über dieses Land. Wie die Verantwortlichen in Berlin mit ihren Bürgern, im Politjargon „den Menschen draußen auf dem Land“, umspringen. Roh. Kalt.
Wer an solch einem rohen Ort mal im Winter auf einen Zug wartet, der muss abgehärtet sein und duldsam, wer an solch einem kalten Ort, wo alles schäbig, verkommen ist, auf einen Zug wartet, der häufig gar nicht kommt, der spürt sehr konkret, was die Regierenden bei der Bahn und der Politik in Berlin von ihm halten. Erschreckend wenig.
Der weiß: Ich bin ein Abgehängter, und ich soll dies ruhig fühlen. Von diesem Gefühl der Unbehaustheit ist es nur ein kurzer Schritt zur Politikverdrossenheit. Nur ein kleiner Sprung zur AfD und dem Ruf: „Ihr kotzt mich an, ihr alle, ihr Politiker dort in Berlin, aber wirklich alle!“
Dieser kleine Bahnhof, er sagt auch, dass die Bahn gar nicht wirklich will, dass Sie Zug fahren.
Ein Auslöser, um dieses Buch zu schreiben, war ein Lachanfall. Es war im Januar auf der Fahrt von Königsbronn nach Ulm, auf der Brenztalstrecke. Beim Halt in der Kreisstadt Heidenheim krächzte es aus den Lautsprechern, der Zugchef meldete sich, um im breiten Schwäbisch dies zu sagen:
„Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, dass unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber auf Gleis 3 steht ein Zug, dort funktionieren die Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen — gehen Sie durch die Unterführung rüber, wir warten auf Sie!“
Es ist ja ein Volkssport geworden, über die Bahn zu spötteln, zu höhnen, zu lachen.
Früher, in der DDR, spotteten die Bürger über ihre heruntergekommene Reichsbahn so: Vier Feinde hat sie — Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und das, genau das, gilt seit einigen Jahren auf für die Bahn AG. Sie fährt — wie die DDR-Reichsbahn früher — heute auf Verschleiß.
Und sie hat noch weitere, überaus mächtige Feinde: die Bahnchefs und ihre Verkehrsminister.
Laut Grundgesetz ist die Bahn ein besonderer Betrieb — sie hat einen klaren, einen grundgesetzlich vorgeschriebenen Auftrag: den Bürger mit einem günstigen Transportmittel zu versorgen. Jeden Bürger, egal wo. Die Bahn soll agieren „zum Wohl der Allgemeinheit“, so steht es im Paragraf 87 des Grundgesetzes. Und sie soll — auch aus ökologischen Gründen dafür sorgen, dass mehr Personen- und vor allem auch mehr Güterverkehr auf die Schienen kommt und runter von der Straße. So sagen es die Politiker seit sehr vielen Jahren, seit Jahrzehnten.
Beides funktioniert nicht. Bei beidem versagt die Bahn. Es ist absurd, konstatierte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, „wenn ein Konzern, der zu 100 Prozent im Staatsbesitz ist, sich nicht um die Gesetze des Staates kümmert“. Die Deutsche Bahn hat sich verselbstständigt. Sie ist — auch unter tätiger Mithilfe vieler Politiker — zu einem Staat im Staate geworden. Die Bahn macht, was sie will.
Nein, übrigens: Das ist keine Polemik.
Es stellen sich sehr viele Fragen: Wie konnte es passieren, dass dieser Staatskonzern dermaßen aus dem Ruder läuft? Der jährlich weit über zehn Milliarden Euro an Steuergeldern bekommt — aber seinen Bürgern, den tatsächlichen Besitzern dieser Bahn, immer weniger bietet, schlimmer noch: sogar rücksichtslos ihnen gegenüber ist? Der aus Kostengründen an Bahnschranken spart — und so Tote in Kauf nimmt. Der aus Kostengründen auf Bahnsteigen Durchsagen einspart — und so Tote in Kauf nimmt.
Der, wie der Bundesrechnungshof im Januar 2019 ungewöhnlich scharf kritisierte, keines, aber auch wirklich keines der Ziele verwirklicht hat, die mit der Bahnreform 1993/94 — also mit der Abschaffung der Deutschen Bundesbahn — verwirklicht werden sollten: etwa Ausbau und Erhalt des Schienennetzes, um mehr Personen- und Güterverkehr auf die Schiene zu bringen, finanzielle Konsolidierung.
Der stattdessen in über 140 Ländern agiert, einfach so, keine Regierung hat ihn dazu beauftragt, aber dieser imperiale Größenwahn bringt den Bürgern hierzulande nichts — außer Zerfall und Ärger. Der ökonomisch so mies wirtschaftet, dass er, um den Verkehr irgendwie noch aufrechtzuerhalten, ständig nach mehr staatlichen Mitteln ruft. Und sie auch bekommt — ohne an der desaströsen Strategie etwas ändern zu müssen, die dazu geführt hat, dass der Konzern heute mit über 20 Milliarden Euro verschuldet ist. Im Grunde pleite ist.
Der aber seinen Chefs, Vorständen, und Aufsichtsräten, hohe Millionengehälter bezahlt, obwohl die seit Jahrzehnten unverantwortlich handeln und gegen das Aktienrecht verstoßen — eigentlich ein Fall für Gerichte.
Stattdessen darf dieser Konzern weiterhin — ungerührt und bisher ungestraft — Milliarden Euro in so gigantische wie unnötige Großprojekte verschleudern, etwa in Stuttgart 21, in Münchens zweite Stammstrecke, in Hamburg-Diebsteich — alles unfassbar teure Megaprojekte, die den Verkehr behindern und die Reisenden ärgern werden, aber nur die Beton-, Stahlindustrie- und die Tunnelbohrmaschinenunternehmen erfreuen.
Ein Staatskonzern, der so unverdrossen wie frech das politisch-offizielle Mantra des Staats konsequent konterkariert, nach dem mehr Verkehr auf die Schiene soll — der seit Jahrzehnten Schienen rausreißt, Weichen abbaut, Bahnhöfe stilllegt, die Infrastruktur sträflich verkommen lässt, der, so muss man es leider sagen, im Autoland Deutschland sich offenkundig sehr anstrengt, den Bahnverkehr zu behindern, nein, ihn auf Dauer zu zerstören.
Ist das in diesem Autoland ein Zufall?
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht?
Es ist wohl kein Zufall, dass gerade in Stuttgart, der Welthauptstadt des Autos, die Bahn als Alternative zum Auto komplett unter die Erde, also faktisch beerdigt werden soll. S21 ist längst zur Chiffre geworden für den strukturellen Irrsinn der Bahn: wie überehrgeizige Bahn-Manager und ignorante Politiker sich ein unfassbar teures Denkmal setzen wollen. Auf Kosten des Bahnverkehrs. Auf Kosten der Bürger. Auf Kosten der Sicherheit. Auf Kosten der Umwelt. Bei S21 findet sich alles, was den Bahnverkehr zerstört. S21 ist der Meilenstein im Niedergang der Bahn als rationales Unternehmen.
Wie konnte das alles bloß geschehen? Wie konnte die Bahn, Deutschlands größter Staatskonzern, bloß so verkommen? Für dieses Bahndesaster gibt es Verantwortliche, gibt es Täter. Es ist Zeit, sich mit den Tätern anzulegen.
Arno Luik, Jahrgang 1955, war Reporter für Tempo und Wochenpost, Autor für Geo und Tagesspiegel, Chefredakteur der taz und ist seit dem Jahr 2000 Autor beim Stern. Für seine Berichterstattung in Sachen Stuttgart 21 erhielt er 2010 den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“ des Netzwerks Recherche. Bei der Anhörung des Deutschen Bundestags „Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären“ im Jahr 2015 wurde Luik als Sachverständiger gehört.