Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages das „Wort zum Sonntag“ als Aufhänger nehmen würde für das, was mich dieser Tage zutiefst bewegt. Ausgerechnet dort bringt es eine Frau auf den Punkt, was man besser nicht ausdrücken kann: „Everyday for future and humanity!“, fordert Pastorin Annette Behnken aus Loccum und fügt hinzu:
„Wir müssen auf die Straßen gehen! (…) Wir müssen die Parlamente stürmen, in denen Neofaschisten sitzen und uns in Schreckstarre verfallen lassen genauso wie das Corona-Virus.“
Die sympathische Christin nimmt kein Blatt vor den Mund.
„Wir verkaufen billig, was uns menschlich macht. (…) Schutzbedürftigen ohne Wenn und Aber unhinterfragt und sofort zu helfen — wenn das nicht der kleinste gemeinsame Nenner ist, was denn dann?!“
Annette Behnken legt den Finger in die Wunde. Sie spricht — und das tut sie mit einer bemerkenswert ruhigen, kraftvollen Energie und ohne jeden Anklang von Sarkasmus, Zynismus und Polemik — von den „politischen Strukturen“, die zivilgesellschaftliche Gruppen, Städte, Kommunen oder kirchliche Einrichtungen ausbremsen, obwohl diese zu sofortiger Hilfe bereit wären. Auch die jüngste Entscheidung des Bundestages lässt sie nicht unerwähnt, und hier schwingt ihre Empörung deutlich mit, wenn sie von den „Schwächsten der Schwächsten, den Kindern auf der Flucht“ spricht, denen trotz gegebener Möglichkeiten die Aufnahme in Deutschland verweigert wird.
„Ich verstehe — das — nicht“, sagt diese Frau klar und pointiert in die Kamera des Ersten Deutschen Fernsehens und in Millionen deutsche Wohnzimmer hinein. Sie verstehe diese Verweigerungshaltung nicht angesichts der gebotenen Not, in denen sich diese flüchtenden Menschen befinden. Was sie sehr wohl versteht und auch benennt, sind die 700 Millionen Euro „Soforthilfe“ — sie deutet die Anführungszeichen explizit an — die die EU jetzt bereitstellt, und nennt unumwunden den Zweck:
„Nicht etwa, um zu helfen, sondern um uns Menschen in Not vom Hals zu halten. Mit Verlaub: Ich könnte kotzen.“
Ja, diese Pastorin aus dem niedersächsischen Loccum unweit von Hannover sagt unumwunden: „Ich könnte kotzen“. Im „Wort zum Sonntag“, am späten Samstagabend im Ersten. Das finde ich bemerkenswert. So erfrischend geradeheraus. Mir geht es in verschiedenen Situationen ähnlich, vor allem, wenn ich mir anschaue, was hinter dem Begriff „politische Strukturen“ steckt. Wer oder was sind denn diese Strukturen? Können Strukturen Menschen ausweisen? Bestimmen Strukturen darüber, welche Grenzen geöffnet, welche Menschen aufgenommen, welche Hilfsgüter geliefert werden? Natürlich nicht.
Hinter all diesen politischen Strukturen stecken wiederum Menschen, die wohl eine wundersame innere Abspaltung hinbekommen, die ihnen erlaubt, Sätze zu sagen, wie sie der CDU-Bundestagsabgeordnete Alexander Throm, seines Zeichens Berichterstatter für Rückführung und Rückkehrförderung, Integration sowie Aufenthalt und humanitäre Aufnahme (!) am 7. März 2020 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk von sich gegeben hat:
„Wir sind überhaupt nicht dagegen, Minderjährige aufzunehmen. (…) Wir sind nur dagegen, hier einen deutschen Alleingang zu machen. Das wäre ein verheerendes Signal in die Welt hinaus.“
Ein Alleingang in Sachen humanitärer Hilfe wäre „ein verheerendes Signal in die Welt hinaus“? Als eines der reichsten Länder Europas, ja der Welt, wäre es verheerend, mit gutem Beispiel voran zu gehen und als erste Nation Europas dem Ruf von Gemeinden, Städten, Kommunen und Kirchen zu folgen, die mit offenen Armen seit Wochen signalisieren: Kommt her! Wir können und wollen Euch aufnehmen!?
Nein, es sind nicht „Strukturen“, es sind immer wieder Menschen, die letztendlich verantwortlich dafür sind, was geht und was nicht. Wie war das, als Angela Merkel ihr berühmtes „Wir schaffen das“ sagte? War das etwa kein Alleingang, der lebensrettende Folgen hatte? Und ja, es gab auch massiv Ärger und nicht alle waren darüber glücklich. Aber ist Deutschland wegen der „Massen“ an Flüchtlingen kollabiert? Ist unsere Wirtschaft zusammengebrochen? Das Beste an den bei uns angekommenen Geflüchteten waren die vielen neuen Begegnungen, gerade in den Schulen, aber auch in unser aller Alltag; die gemeinsam bewältigten Herausforderungen, die Gewissheit, es tatsächlich schaffen zu können; das Übelste daran ist die hässliche Fratze des Rassismus, die es schafft, jede noch so gelungene Integration zu kapern.
Dies drückt sich vor allem bei jenen aus, die persönlich nichts mit Geflüchteten zu tun haben, die aber den bewusst gestreuten Meldungen über „alarmierende“ Asylantragszahlen oder „Flüchtlingsströme“ auf den Leim gehen. Die AfD mit ihrem unverhohlenen menschenverachtenden Populismus bereitet hierfür den Weg, und zwar parlamentarisch — das ist in der Tat strukturell. Was sind das für Menschen, muss man sich fragen, mit welchen Menschenbildern und Werten haben wir es hier zu tun? Mich schaudert.
Aber zurück zur wesentlichen Frage: Was ist so schlimm an einem Alleingang in Sachen Menschenrettung? Wozu trägt die CDU noch das „Christlich“ in ihrem Namen, wenn nicht einmal die grundlegendsten christlichen Werte, nämlich Nächstenliebe und Barmherzigkeit, die Leitmotive für das Handeln ihrer Politiker sind? Die Pastorin Annette Behnken bemüht in ihrem Wort zum Sonntag das Gleichnis des guten Samariters — im Hebräischen heißt er übrigens „Samaritaner“, weil er aus Samaria stammt. Der blieb bei einem Mann stehen, der am Straßenrand lag, halbtot geprügelt und von Räubern ausgeraubt.
Zuvor waren bereits ein Priester und ein Tempeldiener an diesem Mann vorbeigegangen, ohne sich um ihn zu kümmern — sie hatten wohl wichtige Geschäfte zu erledigen. Der Samaritaner tat das einzig Menschliche, ungeachtet der Nachteile, die ihm möglicherweise daraus erwachsen würden: Er versorgte die Wunden des Mannes, brachte ihn in ein Gästehaus und zahlte auch noch für dessen Versorgung und Genesung. Warum er das tat? Vielleicht, weil er es konnte; weil er Augen im Kopf und das Herz am rechten Fleck hatte; weil er, wie die Christen sagen würden, Barmherzigkeit verspürte. Im Jiddischen würde man schlicht sagen: Er war a Mentsch.
Jede und jeder von uns ist als Mensch geboren. Ja, wir sind alle in Strukturen und Zwängen verhaftet, aber am Ende des Tages zählt, wie wir uns als Menschen verhalten, ganz gleich, in welcher Position wir uns befinden, ganz gleich, was wir riskieren und was wir zu verlieren haben. Mit Menschlichkeit können wir gewinnen: Vertrauen, Solidarität, im besten Fall sogar Freude und Freundschaften. Es fängt aber bei jeder und jedem Einzelnen an. Manchmal sogar am Samstag kurz vor Mitternacht in der ARD mit einer mutigen, aufrechten Frau und ihrem Wort zum Sonntag. Wer hätte das gedacht.
Quellen und Anmerkungen:
Annette Behnken kann direkt angeschreiben werden, um ihr zu danken oder Solidarität auzusdrücken: Annette.Behnken@wort-zum-sonntag.de