„Until we win!“, lautet der Ausruf, mit dem die Plenumssitzungen der Extinction Rebellion (kurz: XR) weltweit enden. Diese unterscheiden sich von jenen zahlreichen Plenarsitzungen, die jeder politisch mehr oder weniger aktive Mensch meist total ermüdend und nervenzerrend schon erlebt hat. Nicht so bei XR! Bei Extinction Rebellion sind die Plenarsitzungen von einer angenehmen, zügigen und vor allem empathischen Gesprächskultur geprägt. Ein ausgeklügeltes Handzeichen-System gibt jedem Teilnehmer einen unsichtbaren Konsolencontroller in die Hand, durch den er die Sitzung zielführend beeinflussen kann.
Dieser Aspekt steht sinnbildlich für die XR-Bewegung. Wer von Bewegungen enttäuscht wurde, die an dem Narzissmus, der Dickköpfigkeit und der Sturheit einzelner Protagonisten gescheitert sind — wie beispielsweise „Aufstehen“ —, dem dürfte bei XR regelrecht das Herz aufgehen. Das Miteinander ist von einer Empathie und einer Herzlichkeit geprägt, die man in vielen linken, von intellektuellem Narzissmus durchtränkten Bewegungen schmerzlich vermisst.
XR — das iPhone unter den Widerstandsbewegungen
XR ist eine taufrische Graswurzelbewegung — im Herbst 2018 in London gegründet —, die sich in Windeseile über die gesamte Erdkugel verbreitete und von Vornherein auf teilweise äußerst spektakulären zivilen Ungehorsam setzte. XR veranstaltet keine „Latschdemos“ (Florian Kirner), bei denen man ein bisschen mitläuft, sich Reden anhört und anschließend wieder nach Hause geht. Nein, XR initiiert kreativen, wirksamen Protest, der es vermag, die Öffentlichkeit zu irritieren sowie die Passanten und die Berufstätigen auf die drohende Klimakrise aufmerksam zu machen. Gemäß der jeweiligen Risikobereitschaft kann jedes Mitglied selber entscheiden, in welchem Grad es sich an den Formen des zivilen Ungehorsams beteiligt. Der Fokus liegt klar und deutlich auf der Selbstermächtigung des Einzelnen. So heißt es auf der Internetseite von XR:
„Wir können nicht mehr warten! Regierungen werden unsere Welt nicht retten. Wir müssen selbst handeln und die Verantwortung übernehmen — für unsere Umwelt, aber auch für den achtsamen Umgang untereinander.“
Zur Erlangung dieses Ziels besitzt XR eine innovative Organisationsstruktur, die auf dem Studium sämtlicher sozialer, emanzipatorischer Bewegungen basiert. Diese wurden daraufhin geprüft, welche ihrer Methoden zum Erfolg führten und welche nicht. So agiert XR absolut gewaltfrei und friedlich und kommt ohne individuelle Schuldzuweisungen aus. Die Schuld wird im System als Ganzem verortet. Die Kommunikation innerhalb der Bewegung verläuft im physischen Beisammensein, wie oben bereits beschrieben, durch ein Handzeichensystem schnell, effizient sowie empathisch, und im Online-Austausch verschlüsselt.
Menschen, mit denen man die Welt verändern kann
XR ist die erste Bewegung in dieser Größenordnung und Effizienz, die neben dem Ökozid den zweiten großen Elefanten im Raum anspricht, auch wenn sie das so nicht direkt sagt oder es anders formuliert:
Wir leben in einer traumatisierten Gesellschaft!
Im Vorwort des XR-Handbuches finden wir diese Passagen:
„Wir alle sind in einer Gesellschaft groß geworden, die durchzogen ist von Angst, Dominanz, Misstrauen. (…) Jede/r ist auf sich allein gestellt. Natürlich bringen wir all das mit in die Bewegung. Vor allem die Ängste, nicht wertvoll zu sein, nicht gehört zu werden, nicht berücksichtigt zu werden und damit keinen Einfluss zu haben, können in unseren Entscheidungsprozessen sehr laut werden. Daraus können sich schnell Stimmen entwickeln, wer was richtig oder falsch macht, schuld ist oder nicht schuld ist, ein/e echte/r XR-Rebell/in ist oder nicht.“
„Doch wir bei XR wollen diese Muster nicht reproduzieren. Wir wollen ein neues Paradigma des Miteinanders und des In-Der-Welt-Seins einläuten.“
Könnte man sich diese Zeilen in einem Manifest marxistisch-leninistischer Gruppierungen, einem Posting von ver.di oder in einem Arbeitspapier von „Aufstehen“ vorstellen? Wohl kaum! „Psycho-Scheiß“ würde man das dort nennen. Oder „esoterische Spinnerei“ würde manch ein Altlinker keifen, während er in linker Manier ein Schnitzel verzehrt.
XR hat die Zeichen der Zeit erkannt und versteht, dass Anschuldigungen und Besserwisserei die Welt um keinen Deut besser machen. Nur Empathie und gewaltfreies Agieren in Worten und Taten kann die Welt in eine bessere Richtung lenken. Weiter auf der Seite heißt es:
„Wir spüren unsere Verbundenheit, wir akzeptieren uns mit unserer Liebe, unserer Trauer, unserer Verzweiflung und unserer Wut. Alle unsere Gefühle gehören zu uns und fließen ein in unser gemeinschaftliches Handeln. Gerade aus diesem Grund wächst die Rebellion: weil unsere Gefühle in ihr Platz finden und die Rebellion ihnen Ausdruck verleiht. Unsere Bereitschaft, unsere Emotionen angesichts der drohenden Katastrophe wahrzunehmen und anzuerkennen, ist ein entscheidender Aspekt von Extinction Rebellion.“
Die XR-Mitglieder sind also keineswegs naiv, sondern sehen die sich anbahnende Katastrophe ganz klar vor Augen. In ihren Plenarsitzungen wird stets dazu geraten, in den Medien die jüngsten Katastrophen, die neuesten wissenschaftlichen Studien zum Thema Klimawandel und Mitweltzerstörung nur in verdaulichen Dosen zu sich zu nehmen, da die gesamte Wahrheit nicht mehr zumutbar (Dirk Fleck) sei. Man agiert nach Antonio Gramscis Pessimismus des Verstandes und dem Optimismus des Willens.
Eine weitere Stärke von XR ist die Außendarstellung. Das „Corporate Design“ ist ein absoluter Eyecatcher und hat trotz der schillernden Vielfalt stets einen Wiedererkennungseffekt. Das gesamte Design sieht nicht wie ein recyceltes Produkt der 80er-Jahre-Umwelt-Bewegung aus, sondern glänzt durch ästhetische Verspieltheit und ansprechende Typographie.
XR geheimdienstlich infiltrieren? Viel Spaß!
Da XR äußerst inklusiv ist und jede/n, die/der sich mit den zehn Forderungen (siehe unten) identifizieren kann, unabhängig von Geschlecht, Alter, Berufsstand etc. willkommen heißt, ist es im ersten Moment für Geheimdienste oder Agents Provocateurs ein leichtes, diese Bewegung zu infiltrieren. Nach der Infiltration dürfte es aber äußerst schwer sein, die Bewegung zu spalten oder unfähig zu machen. Warum? Im Handbuch lesen wir:
„Die Strukturen & Prozesse bei SOS (Selbst-Organisierendes System — Anmerkung des Verfassers) sind deshalb so gewählt, dass (…) wir nichts in Stein meißeln, sondern den XR-Organismus stets den sich verändernden Bedingungen anpassen können (Prinzip der fortwährenden Veränderung).“
Anders als Bewegungen, an deren hierarchischer Spitze — auch so etwas gibt es bei XR nicht — Betonköpfe sitzen, die die ganze Bewegung in einen gelähmten Zustand versetzen, sodass sie der Bezeichnung „Bewegung“ gar nicht mehr gerecht werden kann, ist XR ein flexibler Organismus. Ein Organismus mit einem Immunsystem, welches es vermag, (feindliche) Fremdkörper zu erkennen, diese entweder zu absorbieren oder aber liebevoll zu integrieren und damit unschädlich zu machen. Alles und jede/r in der Bewegung wird stets kollektiv reflektiert. In sogenannten Feedbackschleifen wird — mit Empathie! — daran gearbeitet, was man besser machen könnte. Sollten sich wirklich Saboteure von Geheimdiensten in XR einschleichen, würden diese relativ schnell auffliegen und freundlich zur Ausgangstür begleitet werden. Und selbst wenn einzelne Ortsgruppen gekapert werden sollten, liegt die Bewegung aufgrund ihrer globalen Verbreitung nicht gleich brach.
Wann, wenn nicht wir*
... so lautet der Titel des Extinction Rebellion Handbuches, der es wunderbar auf den Punkt bringt.
Die Zeit des Verdrängens, des Event-Hoppings von einem freudlosen Vergnügen zum nächsten ist vorbei! Die Zeit aufzustehen und wirklich etwas zu riskieren ist jetzt! Ob wir als Menschheit für eine lebenswerte Zukunft noch die Kurve kriegen, entscheidet sich in den nächsten zwei bis drei Jahren!
Ich kann nur jedem raten, sich an sein Herz zu fassen und sich der nächsten Extinction Rebellion-Gruppe in der eigenen oder nächstliegenden Stadt anzuschließen. Es sei noch angemerkt, dass XR auch immer sogenannte „Regenerationstreffen“ organisiert, bei denen man gemeinsamen, wohltuenden Freizeitbeschäftigungen nachgeht, die nichts mit Rebellion zu tun haben, sondern schlicht dazu dienen, wieder zu Kräften und Glückshormonen zu kommen.
Auf die Gefahr hin, dass dieser Appell ein bisschen wie eine Tom Cruise-Lobeshymne auf Scientology klingt („It is just Wow!“) — der Beitritt zu XR kann auf lange Sicht wirklich life-changing sein. Auch wenn die am Anfang zunächst etwas skurril anmutenden Handzeichen im Plenum, das zu Beginn stattfindende „Onboarding“, bei dem jeder sagt, wie es ihm gerade geht, und der im Chor vorgetragene Ausruf „Until we win!“ vielleicht etwas sektiererisch wirken: XR ist keine Sekte! Dazu bräuchte sie ja einen Guru, den es aber nicht gibt! Diese Bewegung ist die Summe ihrer selbstermächtigten Mitglieder, die in ihrer individuellen Vielfalt im Kollektiv ein Mosaik bilden.
Wer immer noch unschlüssig sein sollte, ob er sich XR anschließen möchte, den verweise ich abschließend auf die zehn Forderungen der RebellInnen.
1. Wir haben eine gemeinsame Vision der Veränderung:
Eine Welt zu schaffen, die auch für zukünftige Generationen lebenswert ist.
2. Unser Fokus liegt auf dem Erreichen des Notwendigen:
Die 3,5 Prozent der Bevölkerung zu mobilisieren, die nötig sind, um Systemveränderungen zu erreichen.
3. Wir brauchen eine Kultur der Regeneration:
Wir schaffen eine Kultur die gesund, anpassungsfähig und belastbar ist.
4. Wir stellen uns selbst und unser toxisches System offen in Frage:
Dabei verlassen wir unsere Komfortzonen, um uns aktiv für Veränderungen einzusetzen.
5. Reflexion und Lernen sind uns wichtig:
Wir folgen einem Kreislauf aus Aktion, Reflexion, Lernen und dem Planen weiterer Aktionen. Wir entwickeln uns weiter, indem wir von anderen und aus eigenen Erfahrungen lernen.
6. Alle sind willkommen — so wie sie sind:
Wir arbeiten aktiv daran, ein geschütztes und für alle zugängliches Umfeld zu schaffen.
7. Wir überwinden hierarchische Machtstrukturen:
Wir gleichen das Gefälle von Macht und Einfluss aktiv aus, um eine gerechte Teilhabe zu ermöglichen.
8. Wir vermeiden Schuldzuweisungen und Beleidigungen:
Wir leben in einem toxischen System, doch daran trägt kein Mensch allein die Schuld.
9. Wir sind ein gewaltfreies Netzwerk:
Wir nutzen gewaltfreie Strategien und Methoden als effektivstes Mittel, um Veränderungen herbeizuführen.
10. Wir stützen uns auf Selbstbestimmung und Dezentralität:
Gemeinschaftlich schaffen wir die notwendigen Strukturen, um bestehende Machtverhältnisse zu verändern.
Alle, die diesen Prinzipien und Werten folgen, können im Namen von Extinction Rebellion in Aktion treten.