Die Protagonistin Saruj nimmt den jungen Kevalam, der hermetisch abgeschirmt in einer Oase der alten Welt aufwuchs, mit auf eine Reise in die ihre und verlangt so nicht nur ihm, sondern auch dem Leser einiges ab. Das Verlassen der eigenen geistigen Komfortzone mag von Zeit zu Zeit unangenehm anmuten, lohnt sich aber. Denn letztlich führt nur durch den Schmerz der Weg zu uns selbst.
„Saruj“ ist auf allen Ebenen ein radikal unkonventionelles Buch. Das betrifft auch die Sprache, in der es verfasst ist. Die Grammatik der Zukunft hat sich verändert, neue Wörter sind hinzugekommen, andere werden nicht mehr verwendet. Einige Personen sprechen genderneutral, wenn auch auf eine ganz andere, viel innovativere und ästhetischere Art und Weise, als wir es heutzutage gewohnt sind. Die Bezeichnung von Traumatisierten variiert je nach Heilungszustand von Täter und Opfer, und es wird radikal geduzt. Andere Charaktere wiederum sprechen je nach Funktion in ganz normalem Deutsch.
Im Buch werden diese sprachlichen Entwicklungen in die Geschichte eingebunden und Schritt für Schritt logisch erklärt. Da diese umfängliche Erläuterung im Folgenden Auszug aus Zeitgründen fehlt, kann es sein, dass der Text an einigen Stellen holprig oder grammaikalisch falsch klingt. Aus diesem Grund folgt hier eine kurze Zusammenfassung der im Text vorkommenden grammatikalischen Veränderungen:
Der vierte Artikel — dide — ist genderneutral. Seine Deklination folgt generell dem Plural (dide, dider, diden, dide). Artikel und Pronomen haben im Plural keine besondere genderneutrale Form. Weiterhin existiert das genderneutrale Personalpronomen sier, die Demonstrativpronomen dide und diesere sowie die Indefinitpronomen einere, jedere, manchere und jemande sowie das Possessivpronomen sihne. Teilweise wird das Wort mane anstelle von man benutzt. Wenn das darauffolgende Wort jedoch mit einem Vokal oder einem h beginnt, wird man verwendet. Die Endung -e kennzeichnet die Genderneutralität eines Substantivs. Im Plural wird dafür die Endung -eren verwendet — oder -en, falls das männliche Substantiv mit -r endet.
Im Folgenden nun der Buchauszug:
Hinter der Bahnunterführung befand sich das Heilhaus. Ein imposanter Komplex, in dem die modernsten medizinischen Technologien, bioenergetischen Heilmethoden sowie Bildungs- und Forschungsprojekte vereint unter einem Dach kooperierten. Auf der Eingangstafel stand das Bekenntnis eines Chirurgen aus den Vogesen, datiert von 2012:
„Bevor ein Kind während einer Operation verblutet, rufe ich eine Heilerin oder einen Heiler. Ich verstehe nicht, warum die Blutung dann aufhört, und werde es wahrscheinlich niemals verstehen. Wenn es aber um das Erhalten eines Lebens geht, sind meine persönlichen Glaubenssätze irrelevant.“
„Wie hieß dieser Chirurg?“, fragte Kevalam. „Es spielt keine Rolle“, antwortete Onyx schlicht. Eine Glastür öffnete sich vor der kleinen Gruppe. Inmitten der zylindrischen Halle gedieh ein prachtvoller Nussbaum. Die innere Fassade des kreisförmigen Gebäudes war mit wildem Wein und weißen Kletterhortensien bedeckt, die Schutz für nistende Vögel boten. Aus einem Wasserbecken, das sich an den Rand dieser riesigen grünen Säule schmiegte, konnte man Wasser plätschern hören oder das Geräusch eines Fisches, der zwischen Seerosen herumsprang. Rechts und links vom Eingang war jeweils ein geräumiger Außenaufzug an der Innenfassade angebracht.
Emma erwartete sie ganz oben, auf Höhe der aufgesetzten Kuppel. Genau in ihrer Mitte schwebte eine runde Plattform. Erreichbar sowie gesichert war diese durch acht Graphenstege, die wie die Beine einer riesigen Spinne nach oben gebogen waren. Emma hatte die Androiden des Kiezlokals bereits untersucht, und die fünf nackten Maschinenmenschen waren gerade dabei, sich auf der Plattform unter der Lichtdusche aus Sonnenlicht und künstlichem Tageslicht im Kreis zu positionieren.
Kevalam fragte Onyx diskret: „Wäre es nicht sinnvoller, wenn sie ihre Lichtdusche während der Mittagssonne nehmen würden?“
„Was wird hier getuschelt?“, fragte die Androidenpflegerin, während ihr das Trio entgegenkam.
„Nichts akut Wichtiges.“ Ihre Schützlingin lächelte. „Guten Tag, liebe Emma, darf ich vorstellen? Saruj, Nomadin. Kevalam, Zeitreisender. Er ist offensichtlich als Reporter unterwegs und wundert sich, dass wir keine subkutanen Chips mehr tragen. Ich dachte, du als Zeitzeugin wärst für ihn die ideale Gesprächspartnerin.“
„Oho, ein Zeitreisender“, freute sich Emma. „Aus welcher Zeit, wenn ich fragen darf?“
„2012“, murmelte Kevalam und schaute anschließend auf den Boden, um sich vor weiteren Fragen zu schützen.
„2012? Der offizielle Beginn der Transition und außerdem mein Geburtsjahr“, sagte die Androidenpflegerin begeistert. „Spannend, spannend. Und wie bist du zu uns gekommen?“
Der junge Mann im Anzug inspizierte weiter seine Schuhe, offenbar verlegen.
„Hm. Nicht besonders gesprächig, unser Reporter. Schade, schade.“
Ein Unbehagen machte sich breit. Kevalam hatte diskret den Arm von Saruj angestupst, um ihr zu signalisieren, dass er doch lieber gehen wollte. Emma hatte seine Geste bemerkt und sich entschieden, den Jugendlichen nicht zu enttäuschen. „Die großflächige Implantation von RFID-Chips unter die Haut fand während der Zwanzigerjahre statt“, begann sie zu erzählen. Doch dann unterbrach sie sich. „Aber kommt bitte herein, ich möchte hier nicht an der Tür stehen bleiben. Wollt ihr einen Tee?“
Ohne auf eine Antwort zu warten, lud sie ihre Gäste in den Raum ein und ging zu einer von Kinderzeichnungen bedeckten Kommode, aus der sie vier bunt bemalte Tassen herausholte, passend zu der offensichtlich auch von Kinderhand angefertigten Porzellankanne, die schon auf dem Tisch wartete.
Kevalam suchte sich auf dem Halbrundsofa den Platz aus, von dem er am besten beobachten konnte, wie die Androiden mit hochgestreckten Armen im Licht wogten, als ob sie die Lichtdusche lustvoll über sich ergehen ließen. In gemächlichem Tempo servierte Emma Tee für alle, nahm anschließend ihre heiße Tasse in die Hände und lehnte sich zurück, den dampfenden Duft des Getränks genießend.
„Frischer Rosmarin“, sagte sie und zeigte auf ein vertikales Beet, das sich auf der Fassade des runden durchsichtigen Baus befand. „Stärkt Gedächtnis und Konzentration.“
Kevalam brauchte ein wenig Zeit, um den Rosmarin zu entdecken, der zwischen Tomaten, Basilikum und einigen merkwürdigen Kunstobjekten wuchs.
„Ja, alles Geschenke von meinen Kindern.“
Ihr eigener Nachwuchs hatte sich längst auf der Welt verteilt, dafür war sie stets von Kindern und Jugendlichen umgeben. „Ein besonderes Privileg“, sagte sie oft in Dankbarkeit über die liebevollen Beziehungen, die sie mit den jungen Menschen pflegte.
Die alte Dame vergewisserte sich, dass alle einen bequemen Platz gefunden hatten. Zufrieden trank sie dann einen Schluck, roch noch einmal an ihrer Tasse, stellte diese zurück auf den Tisch und lächelte. Dann begann sie aufs Neue mit ihrer Erzählung: „Das Einsetzen des subkutanen Bodychips ist nie eine Verpflichtung gewesen …“ Sie unterbrach sich erneut. „Allerdings, junger Mann, wenn du aus dem Jahr 2012 kommst, hast du ja den großen Coup nicht miterlebt.“ Er schaute sie verständnislos an.
„Das ist ja wirklich schade“, fuhr sie fort. „Ich kann dir nur von Herzen empfehlen, in deine Zeit zurückzureisen und noch gut zwei Jahrzehnte dort zu verbringen. Großes Kino war damals angesagt.“ Sie lachte und wurde schnell wieder ernst. „So lustig war es auch wieder nicht …“
Den Blick nach oben gerichtet, überlegte sie, wie sie diese komplexe Geschichte angehen wollte. Wie für sich sagte sie: „Dass sich der Bodychip früher oder später durchsetzen würde, war allerdings zu deiner Zeit schon absehbar.“ Sie wandte sich dann Kevalam zu.
„Die Technik war da, die Anwendungsgebiete vielfältig, die Profit- und Kontrollmöglichkeiten gigantisch. Der feuchte Traum der Regierungen und Großkonzerne. Nur verlief die Verbreitung des Chips stockend. Zwar hatten ihn schon manche Unternehmen bei ihren Mitarbeitern eingeführt, einige Klubs für ihre Stammgäste als Hype angepriesen. Aber die Akzeptanz der Leute, sich einen Fremdkörper unter die Haut implantieren zu lassen, blieb sehr verhalten. Die Befürchtung jedoch, dass der Chip die Säule einer weltweiten Überwachungsgesellschaft werden könnte, hatten die allerwenigsten. Die Menschen liebten ihre Freiheit und ihre Demokratie viel zu sehr. Solch ein dystopisches Szenario würde sich nie und niemals etablieren können. Alles paranoide Vorstellungen. Tja …“
Sie atmete ein, hob dabei ihre Augenbrauen und presste ihre Lippen zusammen. Dann öffnete sie diese wieder und seufzte.
„Wenige Jahre später änderte sich alles. Ein Virus verlieh dem System den langersehnten fehlenden Katalysator — den ultimativen Beschleuniger. Der Erwägung allerdings, ob die ganze Geschichte das Ergebnis einer weltweiten diabolischen Verschwörung oder nur auf ekelerregenden Opportunismus zurückzuführen und die Seuche lediglich der Hilferuf einer gefolterten und erschöpften Natur war, möchte ich jetzt keine Beachtung schenken. Fakt ist, dass ein Stückchen RNA es schaffte, die Hemmschwelle der Menschen gegenüber Kontrolle, Überwachung und körperlicher Unversehrtheit in einer Rekordzeit zu pulverisieren. Ein Virus, ohne Nationalität, das jedere Mensche, unabhängig von sihner Herkunft, gefährden konnte …“
„Wie ein böses Alien“, rutschte es Saruj heraus.
Emma schaute sie amüsiert an. „Ja … vielleicht hat in einem Paralleluniversum eine Alieninvasion als Katalysator gedient.“ Sie roch nachdenklich an ihrer Tasse, trank ein wenig, stellte achtsam das Gefäß auf den Tisch und nahm ihren Faden wieder auf.
„Für das Wohl der ältesten Menschen in der Bevölkerung, welche die Seuche bevorzugt befiel, wurden — und zwar weltweit — drastische Sicherheitsmaßnahmen angeordnet, durchgeführt und ziemlich widerspruchslos akzeptiert.
Solidarität war das magische Wort, das alle und vor allem das Herz der gutmütigen Jugend wie ein Magnet anzog. Leave no one behind — und schon gar nicht die Oma. Eine moralische Erpressung, die den kritischen Sinn der meisten ausschaltete. Sich den angeordneten Maßnahmen der Regierung zu ergeben, war die einzig richtige Haltung.
Koste es den Zerfall der Mittelschicht, die Abschaffung der Kultur, das Ende des Soziallebens, die Traumatisierung einer gesamten Zivilisation und den Hungertod von Millionen Menschen weltweit. Alle zusammen als Helderen in die Katastrophe — für die Solidarität.“
Sie öffnete ihre beiden Hände in einer Geste der Machtlosigkeit. „Im Grunde genommen ging es zunächst darum, Solidarität zu zeigen mit genau jenen Menschen, die in Zeiten des Kapitalismus, nicht selten mit schweren Gewissensbissen, in Altersheimen „entsorgt“ — und manchmal leider dort vergessen wurden. Weil mane keine Zeit hatte. Weil mane seine Kindheitstraumen nicht bearbeitet hatte. Weil mane Angst vor der Konfrontation mit Krankheiten hatte. Letztendlich auch Angst vor dem Tod und der Beschäftigung mit ihm. Tief im Unterbewusstsein jedoch hatte mane sie nicht vergessen … im Herzen klaffte eine eitrige Wunde … die Schuld …“ Mitfühlend hielt sie inne.
Ihr Blick fiel auf eine rosagefleckte, giftgrüne Schlange aus Pappmaché, die auf ihrer linken Seite von der Decke herabhing. Ein Geschenk von Sidoine, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Sie lächelte. Sie fühlte sich so dankbar. Vor einer Abschiebung in ein Sterbehaus brauchte sie sich nicht fürchten. Es gab keine mehr. Auch wenn sie an Demenz erkranken sollte, eine Krankheit, die allerdings nur noch selten auftrat, würde sie weiterhin in ihrem Lieblingslokal bleiben dürfen und von den Gemeinschaftsbewohnern würdevoll betreut werden. Eine Sicherheit, auf die sich alle verlassen konnten, vom ersten bis zum letzten Atemzug.
Sie wandte sich langsam ihren Zuhörern wieder zu. „Auf einmal hatte mane die Chance, der Welt zu beweisen, dass mane sihne Eltern doch liebte. Indem mane sich ein Stück Stoff vor die Nase band, sie nicht mehr besuchte und alleine sterben ließ.“ Man konnte ein wenig Bitterkeit in ihrer Stimme hören. „Gefragt wurden sie nicht. Zu ihrem Schutz wurden sie bevormundet.“ Sie legte die flache Hand vor den Mund.
Es sah aus, als ob eine fremde Hand die alte Dame von hinten zum Schweigen gebracht hätte. Zumindest hatte Saruj dieses Bild gesehen. Ihr Atem stockte. Sie hatte zwar mehrmals die Geschichte der Seuchewellen von Zeitzeugen gehört, tat sich jedoch jedes Mal schwer, zuzuhören, so sehr nahmen diese Erzählungen sie mit.
Emma behielt eine Weile ihre Hand auf ihrem Gesicht, bevor sie diese langsam auf ihr Kinn hinuntergleiten ließ und Saruj in Verbundenheit anlächelte.
„Maskierte Gesichter. Kein Lächeln. Keine Berührungen … Menschlichkeit war wie illegal geworden.
Lehntest du die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen ab oder kritisiertest du bloß ihre Willkür, wurdest du als unsolidarisches Monster bezeichnet. Oder direkt als Mördere beschimpft. Einere verantwortungslose Idiotere, dide mane für das Wohlergehen der Herde beim ersten Ausrutscher am besten zu denunzieren hatte. Die Verweigereren wurden dafür beschuldigt, dass die Maßnahmen immer schärfer wurden. Sie waren schuld daran, dass diese mit Bußgeldern und Polizeigewalt durchgezogen werden mussten, schuld an dem Zerfall der Ökonomie, schuld am Tod der Großeltern, schuld an allem. Hätten sie doch alle von Anfang an brav mitgemacht, wären wir von den sich aneinanderreihenden Seuchewellen verschont geblieben, wurde ihnen vorgeworfen.
Aus der Fraktion der Verweigereren wurden denjenigen, die die Verordnungen für richtig hielten, ähnliche Vorwürfe entgegengebracht. Ihr stilles Mitmachen hatte es erlaubt, dass die Maßnahmen durchgezogen werden konnten … ihr Mitmachen war doch schuld am Abbau der Freiheit … und, und, und. Einander zuhören konnte niemande mehr.“
„Ich verstehe etwas nicht“, rief Saruj. Sie musste sich aktiv an dem Gespräch beteiligen, um ihre Betroffenheit in den Griff zu bekommen.
„Warum haben die Menschen ihre Gemeinsamkeit nicht erkannt? Angst hatten sie doch alle. Entweder um ihre Sicherheit oder um ihre Freiheit. Sie hätten sich doch gegenseitig zuhören können, sich gegenseitig trösten. Es hätten doch nicht so viele leiden und sterben müssen …“
Emma entschied, nicht auf ihre Frage einzugehen. Die junge Frau kannte die Antwort, das wussten sie beide. Die Kommunikationskultur war in den damaligen Zeiten einfach nicht ausgeprägt genug gewesen, um solch extreme Spannungen zwischen den entstandenen Fronten aufzufangen. Die Zeitzeugin wollte außerdem bald zu der eigentlichen Frage des vermeintlichen Zeitreisenden, die den Chip betraf, kommen. Die traurige Entwicklung und die horrenden Konsequenzen der Seuchewellen mochte sie ihren Zuhörern lieber ersparen. Es hätte sowieso zu viel Zeit in Anspruch genommen.
Sie fuhr fort: „Die Menschen waren voneinander getrennt. Zerstritten. Verstummt. Finanziell in die Knie gezwungen. Weltweit eskalierte die Lage. Alle litten. Alle wollten nur noch eins, und zwar zurück zur Normalität. Also her mit der Impfung. Her mit dem Immunitätsausweis und her mit dem Bodychip, womit mane sihne Immunität leichter beweisen konnte. Hauptsache Normalität, Hauptsache zurück zur Arbeit, etwas zu essen haben und die Sicherheit bekommen, niemanden mehr zu gefährden.
Im gleichen Atemzug wurde das unhygienische Bargeld abgeschafft und das kontaktlose in allen Bereichen des Lebens eingeführt. Um in Einkaufsläden zu bezahlen, ein Getränk bei der Arbeit aus der Kaffeemaschine zu holen, seine Wohnungstür zu öffnen, das Schwimmbad oder die Universität zu besuchen, beim Arzt, beim Amt, überall. Sich einen Allzweckbodychip implantieren zu lassen, den man in der rechten Hand trug und ergo stets bei sich hatte, wurde als eine Erleichterung empfunden. Ein weiterer praktischer Gimmick in der Welt des Internets der Dinge. Praktischer als viele Karten bei sich zu tragen, die auch abhandenkommen konnten, oder sein Smartphone permanent aus der Tasche holen zu müssen.“
Kevalam hatte Emma still zugehört. Fassungslos und mit halbgeöffnetem Mund. Er fragte leise: „Wie war es für … für dich?“ In seiner Verwirrung hätte er die alte Dame fast gesiezt.
(…)
Auf einmal stand die Greisin auf, mit einem listigen Lächeln im Gesicht. Gefolgt von den neugierigen Blicken ihrer Besucher, trottete sie zu der bunten Kommode und holte aus der Schublade ein altmodisches Fotoalbum.
Sie kam lachend zurück. „Ja, die Bilder habe ich auf Papier! Es wäre damals zu gefährlich gewesen, mit solchen Beweisen erwischt zu werden, deshalb wurden Abzüge gemacht und die Originalbilder gelöscht.“ Stehend blätterte sie kurz in dem Album. „Alles ein wenig verblasst … die meisten Bilder wurden zu Hause gedruckt … aber ja.“
Sie legte das Buch auf den ovalen Glastisch, und die vier Köpfe beugten sich darüber. Auf dem ersten Foto sahen sie, vom Lagerfeuer beleuchtet, nackte tanzende Körperumrisse, ekstatische Gesichtsausdrücke. Im Hintergrund war ein wenig Schnee zu erkennen und die leuchtenden Augen einer Katze. Emma blätterte zur nächsten Seite. Menschen, wieder nackt, wild und bunt bemalt am ganzen Körper, gaben sich eine innige Gruppenumarmung. Rechts daneben war ein Foto, auf dem alle auf dem Boden schliefen wie ordentlich nebeneinander gereihte Löffel. Ein Bild, das Saruj zum Kreischen brachte.
Emma blätterte weiter, und die vier Köpfe versammelten sich erneut über das Album: Ein Dutzend Menschen lag sternförmig auf dem Boden, ihre Köpfe, genau wie ihre jetzigen Betrachter, in der Mitte beisammen. Als ob sie sich alle durch die Zeit, gespiegelt, betrachteten.
Die alte Dame lehnte sich ein wenig zurück und schob dabei das Buch leicht zu ihren Besuchern. Sie ließ noch ein wenig Zeit verstreichen und beobachtete, wie das Trio das Album begeistert weiter entdeckte.
„Im Grunde hat dieser ganze Schlamassel die Transition nach vorne gebracht“, kommentierte sie. „Ein ganz interessanter Effekt. Die Atomisierung der Gesellschaft war so bedrückend geworden, die Überwachung so eindringlich, dass die Menschen keine anderen Alternativen mehr sahen, als sich wieder anzunähern. Miteinander zu kooperieren und sich gegenseitig zu unterstützen. Es gab wenig Auswahl: entweder sich ducken oder sich von unten organisieren. Ein paralleles Kultur- und Sozialleben wurde im Untergrund aufgebaut. Geheime Versammlungsorte, wo sich Menschen trafen, um sich auszutauschen, Filme anzuschauen, zusammen zu musizieren … oder einfach sich in den Armen zu halten.“ „Kuschelgruppen“, rief Saruj dazwischen.
Alle lachten.
„Gemeinschaftsprojekte aller Art florierten, Schenkmärkte, freie Beete auf ungenutzten Flächen der Stadt … Alles wichtige erste Schritte, vor allem für Menschen, die noch nicht bereit waren, den Sprung zu erwägen, in eine Lebensgemeinschaft einzuziehen. Manche gewöhnlichen Mietshäuser entwickelten sich nach und nach zu Gemeinschaftshäusern und wurden dafür umstrukturiert. Im Keller wurden kollektive Waschmaschinen aufgestellt, das Dach wurde zu einem Garten oder einer Energiebank umgestaltet, eine frei gewordene Wohnung als Gemeinschaftsort gemietet … Es wurde dort zusammen gekocht, gegessen, sich ausgetauscht — gelernt. Vom Selbstherstellen nachhaltiger Putzmittel bis hin zur Selbstheilung im Krebsfall.
Natürlich wurde auch über Politik geredet, da kam mane damals schwer drumherum. Wie viel Kontrolle wollte mane noch dulden? Wann war stopp? Das waren die wiederkehrenden Fragen. Es wurde gestritten — und sich wieder versöhnt. Zusammen fühlte es sich leichter an, alte Glaubenssätze hinter sich zu lassen und neue Wege zu erkunden. Gegenseitiges Vertrauen wuchs. Nicht selten entstand zwischen diesen zusammengewürfelten Menschen richtige Nähe. Sie erfuhren die lange vergessene Kraft des Zusammenhaltens.
Manche zogen ins Umland, weil sie dort bessere Möglichkeiten fanden, autark zu werden, als in der Großstadt. Eine Handvoll Leute reichte dafür. Zusammen legten sie sich ein Grundstück zu, um mit dem Experiment Lebensgemeinschaft zu beginnen. Es ging mal gut, mal schief, aber es wurde weiter versucht. Die Gewissheit, dass man auch außerhalb des Hamsterrades überleben konnte, verbreitete sich. Ja … die Menschen hatten das System, die Kontrolle und die Angst satt. Einfach nur satt.“
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Saruj: Stell dir vor, es gibt kein Geld mehr“ von Bilbo Calvez.
Quellen und Anmerkungen:
„Saruj — Stell dir vor, es gibt kein Geld mehr“ wurde in zwei Editionen veröffentlicht. Einer jetzt vergriffenen freien Edition, bei der jeder zahlen konnte, was er wollte und einer ISBN-Edition, die beim Verlag Meiga zum festen Preis von 19,80 Euro zu erwerben ist.