Hoppla! Wie ist das denn da reingeraten. Ganz oben auf Seite 93 der von CDU/CSU und SPD ausgehandelten Koalitionsvereinbarung steht ein bemerkenswerter Satz: „Zur Sicherung der bundesweiten Versorgung mit Presseerzeugnissen für alle Haushalte – in Stadt und Land gleichermaßen – wird bei Minijobs von Zeitungszustellerinnen und Zeitungszustellern der Beitrag zur Rentenversicherung, den die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zu tragen haben, befristet für die Dauer von fünf Jahren bis zum 31. Dezember 2022, von 15 auf fünf Prozent abgesenkt.“
Der Passus tanzt gewaltig aus der Reihe. Um ihn herum finden sich nur die allerschönsten Versprechen, so wie überhaupt das ganze Kapitel, in dem er auftaucht, wie die Verheißung von einer neuen, besseren Zeit anmutet. Allein schon der Titel: „Soziale Sicherheit gerecht und verlässlich gestalten.“ Und gleich danach die erste Botschaft unter Punkt eins „Rente“: Die müsse „für alle Generationen gerecht und zuverlässig sein. Dazu gehören die Anerkennung der Lebensleistung und ein wirksamer Schutz vor Altersarmut.“
GroKo sichert Rente?
Es kommt noch besser. Man werde die Rentenansprüche „auf heutigem Niveau von 48 Prozent bis zum Jahr 2025 absichern und bei Bedarf durch Steuermittel sicherstellen, dass der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen wird“, liest man weiter und reibt sich die Augen. Ist das zu glauben? Nach Jahrzehnten, in denen das System der staatlichen Alterssicherung durch die Abrissbirne geschleift wurde, greift die kommende Regierung demnächst zu Backstein, Mörtel und Maurerkelle und macht das wankende Gebäude wieder einsturzsicher. Ganz wunderbar. Aber wie passt das mit diesem Satz ganz oben auf Seite 93 zusammen?
Gar nicht! Und das ist zu allererst der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) aufgefallen. Die befasste sich mit der Sache am Tag nach Vorlage des Kontrakts in einem kleinen Beitrag in ihrem Wirtschaftsteil unter der Überschrift „Koalitionäre regeln die Renten von Zeitungsboten neu“. Der Artikel erschien auf Seite 21 weit hinten im Blatt und blieb vielleicht auch deshalb praktisch ohne medialen Widerhall. Das wird dem Vorgang nicht gerecht, denn der Fall ist nichts weniger als skandalös. Was wohl auch dem zuständigen FAZ-Redakteur dämmerte, als er schrieb: „Während für andere Erwerbstätige die Rente verbessert werden soll, sollen Zeitungsboten Ansprüche verlieren.“
„Erstaunlich“, wie die Zeitung befand, ist das Ganze noch aus einem anderen Grund. Koalitionsverträge sind in aller Regel vage gehalten, durchzogen von Absichtserklärungen, ohne allzu enge Festlegungen. Damit sichern sich die Regierungspartner in spe für den späteren Gesetzgebungsprozess größere Gestaltungsspielräume. Die Akteure wappnen sich so auch gegen den Vorwurf des Wahlbetrugs und müssen sich nachher nicht nachsagen lassen, diese oder jene Ankündigung nicht auf den Punkt eingehalten zu haben. Gerade der aktuelle Vertragsentwurf quillt förmlich über vor Unverbindlichkeiten. Auf 177 Seiten sind allein 105 Prüfaufträge formuliert, dazu sollen 15 neue Kommissionen gebildet werden. Übersetzt heißt das: Entsprechende Entscheidungen werden auf unbestimmte Zeit vertagt.
„Spur führt zur CSU“
Der Anschlag auf die Zeitungszusteller duldet dagegen keinen Aufschub. Nicht nur ist die geplante Besserstellung der Verlegerbranche im Vertragstext zeitlich (bis Dezember 2022) und prozentual (von 15 runter fünf Prozent) konkret beziffert. Sie erscheint gerade auch im Umfeld der ansonsten auf eine Konsolidierung der staatlichen Altersvorsorge orientierten rentenpolitischen Konzepte – zwar wie ein Fremdkörper –, aber deshalb umso mehr wie in Stein gemeißelt, wie ein Muss, ohne Alternative und mit der unausgesprochenen Ansage, unverzüglich in die Tat umgesetzt zu werden.
Aber wie wurde die Sonderregelung in das Papier „bugsiert“? In diesem Wortlaut hat sich das auch die FAZ gefragt und in Erfahrung gebracht, dass dies selbst Mitgliedern der Koalitionsarbeitsgruppe Soziales „unklar“ wäre. Dort sei der Punkt nie Thema gewesen, wahrscheinlich sei er „über die Chefebene eingespeist worden“, gab das Blatt Beteiligte wieder und schloss damit: „Mutmaßungen zufolge führt die Spur zur CSU.“ Und auch über die Urheberschaft und die Hintergründe der Maßnahme stellt der Beitrag Spekulationen an. So mache der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) „offenbar weiter Kostenprobleme mit dem 2015 eingeführten Mindestlohn geltend“, denn „hierzu hatte die alte Koalition den Verlagen eine Übergangszeit mit verringertem Mindestlohn bis Ende 2017 gewährt“.
Tatsächlich sind die Zeitungsboten nicht zum ersten Mal Opfer einer ganz speziellen Benachteiligung durch die alte (noch geschäftsführende) und womöglich neue Bundesregierung. SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles hatte seinerzeit ins Mindestlohngesetz Ausnahmen für ausgewählte Wirtschaftszeige geschrieben. Begünstigte waren vor allem Presseverlage, die ihre Lieferanten drei Jahre lang unter Mindestlohn bezahlen durften. 2015, im Jahr der Einführung der Lohnuntergrenze, erhielten die in großer Mehrheit als Minijobber tätigen Zusteller nicht 8,50 Euro pro Stunde, sondern nur 6,38 Euro (minus 25 Prozent). 2016 bekamen sie mit 7,23 Euro 15 Prozent weniger als der große Rest. Im Vorjahr landeten sie dann endlich bei 8,50 Euro, während zu diesem Zeitpunkt der Regelsatz jedoch bereits bei 8,84 Euro lag.
Schlag gegen die Schwächsten
Erst mit Beginn des laufenden Jahres fand die Diskriminierung der Boten ein Ende, wobei man sicher sein kann, dass die Gruppe der laut BDVZ 140.000 Betroffenen auch weiterhin ein in aller Regel kümmerliches Auskommen hat. Nicht minder schlecht steht es um ihre Versorgung im Alter. Als „geringfügig Beschäftigte“ bei einem Monatsverdienst von 450 Euro und 15 Prozent Einzahlungen in die Rentenkasse bleibt für den Lebensabend nicht viel hängen. Bei fünf Prozent Rentenbeitrag, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, würden ihre Ansprüche noch einmal deutlich sinken. Nicht nur das: Wie das Internetportal „Ihre Vorsorge“ am 9. Februar schrieb, müssten diejenigen, die bereits rentenversicherungspflichtig sind und dies auch bleiben wollen, „künftig 13,6 statt bisher 3,6 Prozent ihres Verdiensts aus eigener Tasche aufbringen“.
Gewerkschaftern bereitet so etwas Sorgen. Laut Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), sei die Vereinbarung „völlig unverständlich“ und man könne nur hoffen, „dass sie nie ins Gesetzblatt kommt“ Hier solle eine Branche „ohne vernünftigen sachlichen Grund“ bevorteilt werden, zitierte sie die FAZ. Dabei verwies sie auch auf drohende Einnahmeausfälle der Gesetzlichen Rentenversicherung, die sich auf 50 Millionen Euro jährlich belaufen könnten. Von einem „Unding“ sprach Rachel Marquardt, Bundesfachbereichssekretärin für Verlage und Medien bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. „Die Zusteller verdienen trotz des seit Jahresbeginn endlich auch für sie uneingeschränkt geltenden Mindestlohns immer noch so wenig, dass sie die entstehende Lücke in der Rentenkasse wahrscheinlich nicht durch eigene Zuzahlungen schließen können“, sagte sie der Zeitung junge Welt. Das Vorhaben treffe „einmal mehr die Schwächsten“.
Zur Wahrheit gehört indes auch, dass die DGB-Gewerkschaften mit dem Vertragswerk über weite Strecken zufrieden sind, gerade die Stabilisierung des Rentenniveaus sei „absolut positiv“. Und weil man das so sieht, sieht man vielleicht auch davon ab, die SPD-Basis mit Kritteleien im Detail zu irritieren und am Ende gar zur Ablehnung des Textes beim anstehenden Mitgliedervotum zu ermuntern. Auf alle Fälle ist man weit davon entfernt, die Sache an die große Glocke zu hängen. Mit einer offiziellen Verlautbarung, etwa in Gestalt einer Pressemitteilung zum Thema, sind bis heute weder ver.di noch der DGB in Erscheinung getreten.
Mövenpick-Rabatt
Wie überhaupt die ganze Angelegenheit in den Medien völlig untergeht. Trotz der Vorlage durch die FAZ griff ihn keine Zeitung mit Rang und Namen auf. Warum auch sollten die Verlagsbosse den Menschen im Land ein Skandalstück auftischen, von dem sie selbst in Kürze kräftig profitieren könnten. Lediglich der für seine kritische Haltung bekannte Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der Hochschule Koblenz hat sich des Themas ausführlich auf seinem Webblog angenommen. Titel: „Die Zeitungsverleger, die Große Koalition und der erfolgreiche Lobbyismus. Erneut eine fragwürdige Sonderregelung für die Verleger bei den Zeitungszustellern.“
Erinnerungen weckt der Fall an noch länger Zurückliegendes: die Regierungsübernahme von Union und FDP am Jahresende 2009. Damals bescherte Schwarz-Gelb der Hotelbranche quasi als erste Amtshandlung eine Senkung des Mehrwertsteuersatzes von neunzehn auf sieben Prozent. Zuvor waren die Freidemokraten vom Eigentümer der Mövenpick-Gruppe mit Spenden von über einer Million Euro bedacht worden. Vom BDZV ist solche Großzügigkeit nicht überliefert. In der Datenbank des Vereins LobbyControl, der sich der Aufklärung über Einflussnahme, PR-Kampagnen und Denkfabriken widmet, sind in jüngerer Zeit keine Zuwendungen des Verbands an die Bundestagsparteien dokumentiert.
Wie Pressesprecher Sebastian Meyer gegenüber junge Welt bemerkte, „ist das auch gar nicht nötig“. Mathias Döpfner – Chef des Springer-Verlags und BDZV-Präsident in Personalunion – hätte „andere Wege, erfolgreich Einfluss zu nehmen“. Die Verlegerlobby sei gut vernetzt im politischen Berlin und „hat sogar einen direkten Draht zur Kanzlerin“. Der muss heiß geglüht haben in den zurückliegenden Wochen. Döpfner richtete am 8. Januar einen „Neujahrsgruß an die Verleger, Herausgeber und Geschäftsführer der BDZV-Mitgliedsunternehmen“ und beschwor dabei, wie er es zuletzt immer wieder tat, den drohenden Exitus des Printjournalismus.
Döpfner diktiert
Punkt eins seiner politischen Agenda betraf dann auch gleich die „Zeitungszustellung in alle Haushalte in Deutschland“. Diese müsse „weiterhin möglich und durch geeignete Maßnahmen für die Verlage finanzierbar bleiben“ Denn professioneller Journalismus sei für die „Verteidigung der Demokratie gegen populistische Strömungen wichtiger denn je“. Gerade die Tageszeitungen leisteten „einen unverzichtbaren Beitrag hierzu – in der Region und im Lokalen“. Und dann kommt es: „Die neue Bundesregierung muss zügig über entsprechende Sicherungsmaßnahmen entscheiden.“ Ähnlich hatte sich Döpfner im vergangenen September beim Jahreskongress der Verleger in Stuttgart geäußert: Demnach müssten die Lohnnebenkosten für Zeitungszusteller „deutlich“ gesenkt werden und zwar nach dem Muster der haushaltsnahen Dienstleistungen. Für diese gilt bereits der reduzierte Rentenbeitrag von fünf Prozent.
Nun zeigt sich: Die Möchtegern-Großkoalitionäre wollen dem Wunsch nicht irgendwie nachkommen. Sie wollen eins zu eins das liefern, was bestellt wurde und kupfern dazu auch noch Döpfners Diktion – von wegen „Sicherung der bundesweiten Versorgung“ – in nahezu identischem Wortlaut ab. Und nicht nur die Union und die SPD legen sich für die Verlegerlobby ins Zeug. Auf besagter Jahrestagung brach auch Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine Lanze für die Branche und versprach, mit Blick auf die verlangte „Entlastung“, sich dafür einzusetzen, „dass das funktioniert“. Denn: „Man liest seine Zeitung ja beim Frühstück und nicht draußen vor der Tür.“
Das stimmt. Draußen vor der Tür, zu nachtschlafender Zeit und in Eiseskälte, tummeln sich bloß die ärmlichen Boten, die aber schon so arm dran sind, dass es auf die paar Euro und Rentenpunkte weniger auch nicht mehr ankommt. Noch zynischer wird der neuerliche Angriff auf die Berufsgruppe durch die Instrumentalisierung von Schaumschlägerbegriffen wie „Pressefreiheit“ und der „Demokratie“. Folgt man der Argumentation, sind beide nicht etwa durch Konzernmedien, Medienkartelle, PR-Industrie, Politik- und Kapitalnetzwerke sowie willfährige und korrupte Politiker gefährdet, sondern durch raffgierige Zeitungsausträger, die gefälligst einsehen müssen, dass sie zum Wohle von Springer, DuMont und Bertelsmann bis aufs Blut ausgebeutet gehören.
Kein Lobbyregister
Die Spur führe also zur CSU, meint man bei der FAZ. Es könnte auch eine Spur weniger konspirativ gelaufen sein. Rubikon hat bei den Bundestagsfraktionen von Union und SPD nachgehakt und Erhellendes in Erfahrung gebracht. „Als Teil des Gesamtpakets konnten wir die Einigung mittragen, da Zeitungszusteller damit den Minijobbern in Privathaushalten gleichgestellt sind“, ließ eine SPD-Sprecherin verlauten, versehen noch mit dem Hinweis: „Uns war es wichtig, dass die Reduzierung für die Dauer von fünf Jahren befristet ist.“ Ein Sprecher von CDU/CSU beklagte wortreich die ernste Lage insbesondere regionaler und lokaler Zeitungen, erkannte aber auf Nachfrage kein größeres Problem darin, dass man dafür die Zusteller weiter drangsalieren will. Sein Fazit: Auf die Regelung hätten sich alle Seiten einvernehmlich verständigt. „Sonst würde sie ja nicht im Koalitionsvertrag stehen.“
Na also. Vom Grundsatz her tragen alle Beteiligten das Vorhaben mit, auch die SPD. Die reklamiert für sich, der Vereinbarung eine „klare sozialdemokratische Handschrift“ verpasst zu haben und ohnedies nur das Allerbeste für die „kleinen Leute“ zu wollen. Für die ganz Kleinen mag das ausnahmsweise mal nicht gelten. Aber das kriegt ja eh keiner mit, wenn Presse, Funk und Fernsehen sich darüber ausschweigen.
Apropos: Die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft (DDVG), die an die drei Dutzend Verlagshäuser, Druckereien, Online-Medien, Marketing- und Vertriebsgesellschaften unter sich versammelt, gehört zu hundert Prozent der SPD. Etliche der Unternehmen sind auch im BDZV organisiert. Vom 2016er Jahresgewinn der Holding in Höhe von 8,2 Millionen Euro wanderten vier Millionen Euro direkt in die Parteikasse. Auf dem Blog von Stefan Sell schrieb ein anonymer Leser: „Nicht die Verlagslobby braucht die Sonderregelungen, sondern die Spezialdemokraten.“ Vielleicht ist da was dran.
Gewiss ist dagegen dies: Union und SPD werden kein Lobbyregister einführen. Dieses hätte Licht ins Dunkel bringen können, wer alles über welche Kanäle und mit welchen Mitteln in die Regierungspolitik eingreift und wer zum Beispiel einen guten Draht ins Kanzleramt hat. Nix da – der Punkt wurde kurz vor Verhandlungsende gestrichen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.