Mein Papa war Franzose. Ich wurde in den 70ern geboren. Wir waren die Exoten in unserem kleinen ländlichen Städtchen, damals eher noch ein Bauerndorf in Schwaben. Zahlreiche Anekdoten belegen das. Einmal wollte uns ein Freund meines Vaters spontan besuchen. Da er unsere Adresse nicht kannte, fuhr er zum Rathaus und fragte, wo denn der Franzose wohne. Aber auch Zettel an der Windschutzscheibe unseres Autos mit der Aufschrift „Ausländer raus“ gehörten dazu.
Ich habe schon als Kind viel gelesen. Die Bücher bekam ich von meinen Eltern geschenkt. Mit sieben Jahren las ich das Buch „Nelly wartet auf den Frieden“, mit acht Jahren folgte das Buch „Das Tagebuch der Anne Frank“. Später kamen Bücher wie „Etwas lässt sich doch bewirken“ oder auch „Das verlorene Licht“ dazu. Natürlich gehörten aber auch Fantasieromane und Klassiker wie „Das Nesthäkchen“, „Die unendliche Geschichte“ und „Momo“ dazu. Das „Nesthäkchen“ las ich noch in altdeutscher Schrift.
Diese Bücher hatte ich von meiner Oma bekommen. Mein Bücherschrank war also eine Mischung aus kindlicher Literatur und kritischen Büchern. Zum Weinen brachten mich beide Arten der Lektüre. Ich weinte auch bei fünften Mal, wenn Atreyus Pferd Artax in den Sümpfen der Traurigkeit versank, und ich spürte die Sehnsucht, als Momo ihren Freund Beppo den Straßenkehrer für eine lange Zeit vermisste.
Die Grausamkeit der Kriegszeit, die Abartigkeit der Menschen zerriss mir schon als Kind das Herz. Mit 13 Jahren hielt ich gemeinsam mit einer Klassenkameradin anlässlich eines Projekttags einen öffentlichen Vortrag über den Missbrauch von Kindern und Frauen. Wir hatten im örtlichen Frauenhaus von Augsburg recherchiert und den Vortrag vorbereitet. Ungerechtigkeit, Respektlosigkeit und Intoleranz konnte ich noch nie gut ertragen, ganz gleich, ob ich direkt oder nur indirekt betroffen war. Als die Regelung beschlossen wurde, dass ich gesunde Menschen aussperren muss und sie nicht mehr in unser Studio kommen lassen darf, habe ich eine ganze Nacht lang geweint. Und heute? Heute bin ich Nazi. So sagt man!
Was ist eigentlich ein Nazi?
Ich möchte gerne wissen, was anscheinend aus mir geworden ist. Meine Suche nach einer Definition ist wenig befriedigend. Nazi steht für Nationalsozialist und wird umgangssprachlich abwertend benutzt.
Danke. Wusste ich bereits.
Ein Nationalsozialist ist ein Anhänger des Nationalsozialismus. Ach nee!
Nationalsozialismus: „Eine radikale, antisemitische, rassistische, nationalistische, chauvinistische, völkische, sozialdarwinistische, antikommunistische, antiliberale und antidemokratische Ideologie.“ Hm? Eine Definition, die mich zu zehn weiteren Definitionen führen würde.
Als radikal hätte ich mich nie gesehen, auch nicht als antisemitisch, schon gar nicht als rassistisch, als „Mischling“ wohl auch kaum als nationalistisch.
Chauvinistisch. Hier bleibe ich hängen: Ich bin also gegen die Gleichstellung von Frauen im öffentlichen und privaten Bereich.
Na klar, ich muss gestört sein!
Tief im Inneren möchte ich nicht, dass man mich als Frau wahrnimmt und respektvoll behandelt. Ich denke wahrscheinlich nur, dass ich das möchte. So muss es sein. So sagt es die Definition.
Völkisch? Würde ich jetzt auch nicht als passendes Adjektiv empfinden, aber ich sehe schon: Obwohl ich seit jeher der einzige Mensch bin, der 24 Stunden mit mir verbringt, muss ich feststellen, dass ich mich wohl nicht kenne.
Auch die übrigen Adjektive hätte ich mir nicht zugeschrieben. Die Umwelt scheint mich aber, seitdem ich samstags auf die Straße gehe, um meinem Unmut über die Politik Ausdruck zu verleihen, besser zu kennen, als es mir selbst je möglich gewesen ist.
Und irgendwie habe ich wohl noch so manches andere nicht kapiert.
Bisher dachte ich, eine Demokratie würde sich eben auch genau dadurch auszeichnen, dass sie andere Meinungen zulässt, dass sie für Kritik offen ist. Ich sehe, dass ich mich getäuscht habe, denn schließlich ist ein Nazi geprägt durch eine antidemokratische Ideologie.
Ich bin verwirrt.
Nelly und Anne
Im Buch „Nelly wartet auf den Frieden“ von Otti Pfeiffer wird die Kriegszeit aus Sicht eines Kindes beleuchtet. Nelly ist 13, als der Krieg 1945 zu Ende geht.
Ihre Fragen, ihre im Verborgenen wummernden Ängste und Vorstellungen, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, und gleichzeitig der kindlich vorgezeichnete Weg — Aufnahme in den Bund Deutscher Mädchen et cetera — werden ebenso dargestellt wie die Normalität, in die Nelly hineinwächst und die sie dennoch nie als „normal“ empfindet. Die unreflektierte, kindliche Aufnahme vorgebeteter Denkweisen und die wachsende Kritik an diesen werden beschrieben. Ein Stück Zeitgeschichte.
Ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, schwesterlich mit ihr verbunden zu sein, weil sich uns die gleichen Fragen zu stellen schienen. Ich habe das Buch später, mit mehreren Jahren Abstand, mehrfach wieder gelesen. Die große und schmerzende Frage, wie so etwas Grausames geschehen konnte, blieb immer unbeantwortet, der empathisch empfundene Schmerz pochend und groß.
So war es auch bei Anne. Die Tatsache, dass es sich nicht um eine erfundene Geschichte handelte, war schwer zu ertragen. Die Möglichkeit, sich selbst mit der Aussage „ist ja nur eine Geschichte“ zu beruhigen, gab es nicht.
Ich habe bis heute nicht verstanden, wie Menschen so grausam sein können — aber heute, heute bin ich ein Nazi – so sagen es die anderen.
Wer sich rechtfertigt, klagt sich an
Rechtfertigen könnte ich mich, wenn ich wissen würde, was man mir vorwirft, doch das tue ich nicht. Nebulös und kafkaesk muten die Beschuldigungen an, die mehr als Totschlagargumente dienen. Ich mache mich allem Anschein nach gemein mit Personen, die ich nicht sehe, die ich nicht kenne und die ich grundsätzlich ablehne. Allein dass ich die gleiche „Veranstaltung“ wie diese besuche, ist ein absolutes No-Go und diskreditiert mich in allen Bereichen.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mich nun zutiefst schämen und um Absolution flehen müsste. Aber wahrscheinlich habe ich es nur wieder einmal nicht kapiert. Das ging mir als Kind schon so, wenn meine Mutter aus irgendeinem Grund zutiefst enttäuscht von mir war, mir den Grund aber nicht nennen wollte. Fragte ich danach, bekam ich zu hören, ich solle da ruhig selbst drüber nachdenken. Das klappt allem Anschein nach nicht so ganz. Nachdenken ist, wie es aussieht, nicht meine Kernkompetenz.
Labeling approach in der Soziologie
Als ich das Gymnasium abgeschlossen hatte, studierte ich Soziologie. Eine Theorie, die mich bis heute fesselt, ist der sogenannte Etikettierungsansatz. Vereinfacht dargestellt, besagt diese Theorie, dass sich Menschen, wenn man ihnen nur lange genug ein falsches Etikett aufdrückt und sie in die Ecke drängt, irgendwann aufgeben und sich gemäß diesem Label verhalten.
Der Labeling Approach wird auch als Definitions- oder sozialer Reaktionsansatz beschrieben. Es handelt sich um ein Kontrollparadigma, eine soziale Reaktion auf das, was auf den Gelabelten einprasselt.
Die Normen sagen mir, in welchem Rahmen ich mich bewegen kann. Halte ich diesen Rahmen nicht ein, so verhalte ich mich abweichend. Wird mein Verhalten im Nachgang als kriminell, störend, unpassend, heuchlerisch oder mit einem der anderen zehn oben genannten Adjektive definiert, bin ich böse.
Nun kann man versuchen, dieses Missverständnis zu erklären, oder seinerseits Erklärungen suchen oder verlangen. Das habe ich getan. Es misslingt in jedem Bereich. Meine Erklärungen werden vom Tisch gewischt, sich mir erklären möchte niemand.
Man wird also zu dem, was die Gesellschaft sagt, dass man sei? Was für eine schreckliche Vorstellung! Das würde ja bedeuten, sie hätte Recht.
Und wieder komme ich zu dem Punkt, der mir sagt, dass ich einsehen muss, dass mich alle anderen besser kennen als ich mich selbst. Das ist wahrlich eine große Leistung, wo doch die meisten noch nie ein Wort mit mir gewechselt haben. Ich muss einsehen: Die anderen sind klug, und ich bin dumm. Ich weiß gar nichts. Ich weiß ja noch nicht mal, wer ich bin.
Standrechtlich erschießen
Im Spätsommer 2021 wurde mir ins Gesicht gesagt, dass es besser wäre, alle Personen, die sich bisher noch nicht für die Spritze entschieden hätten, standrechtlich zu erschießen. Sie seien unsolidarisch, dumm, eine Belastung für die Gesellschaft und Querdenker. Nur tote Querdenker seien gute Querdenker.
Mein Herz rutschte in die Knie, dann zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Diese Worte, „standrechtlich erschießen“, kannte ich nur aus den dunkelsten Kapiteln der Geschichte und hätte sie bis dato eher „der anderen Seite“ zugeschrieben.
So erhielt ich allerdings auf der Suche nach meiner Identität einen weiteren Hinweis: Jeder, der querdenkt, ist ein Nazi. Aber nicht jeder, der ein Nazi ist, muss auch ein Querdenker sein.
Kompliziert. Aber ich glaube, ich verstehe: Alle Daumen sind Finger, aber nicht alle Finger sind Daumen.
Damals und heute
Damals, zu Beginn der Pandemie und als die ersten Proteste offenkundig wurden, war ich noch brav. Ich schimpfte über nicht getragene Masken — im Freien — und hielt jede Maßnahme für richtig und wichtig. Bis die Logik der Maßnahmen sich zu verabschieden schien. Vielleicht war es aber auch wie im Mathematik-Unterricht. In der Grundschule war Mathe kein Problem für mich, später stieg ich einfach nicht mehr durch. Das muss an mir liegen, nicht an der Mathematik. Stimmt. Das klingt logisch.
Welche Kritikmöglichkeiten sind denn konform?
Nachdem ich mit dem Glaubenssatz aufgewachsen bin, dass man am besten keinen Ärger macht und dann als liebenswert gilt, wenn man sich anpasst, würde ich gerne wissen, ob ich überhaupt Kritik äußern darf?
Also gemäß unserer Verfassung darf ich das. Dachte ich. Heute bin ich mir unsicher. Wenn ich keine Lügen erzähle, niemanden angreife oder beleidige, dann kann ich in einer Demokratie doch vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung Gebrauch machen, oder? Pöbeln, Hetzen, Diffamieren, Verleumden sind Verhaltensweisen, die sich nicht gehören. Dass diese in gewisser Weise eingeschränkt werden, ist für mich nachvollziehbar. Da Lügen und Beleidigungen nicht meinem Stil entsprechen, hatte ich mit diesen Vorgaben auch nie ein Problem.
Meine Briefe — ich kann sie mittlerweile nicht mehr zählen — an Politiker (m, w, d) bleiben unbeantwortet. Das Höchste der Gefühle ist die Rückantwort mittels eines Standardschreibens. Fast so selten wie ein 6er im Lotto. Fragen werden nie beantwortet.
Über Maßnahmen darf und sollte ich mich als Mitglied einer Gesellschaft auch nicht einfach hinwegsetzen. Auch das verstehe ich. Und wenn ich es nicht verstehe, dann habe ich so große Angst vor Repressalien und Strafen, dass ich mich aus Vermeidungsangst an die Vorgaben halte.
Auf die Straße gehen und dabei friedlich sein darf ich aber nicht, weil ich dann ein Nazi bin. Oder ein Querdenker. Oder beides. Ich würde gerne wissen, welche demokratischen Möglichkeiten zur Unmutsäußerung mir dann noch offenstehen?
Nicht, dass ich mich zu früh an den Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes meine erinnern zu müssen, der mir sagt, dass ich angeblich die Freiheit hätte, Widerstand zu leisten, wenn die Demokratie gefährdet wäre. Dort steht auch, dass ich das nur darf, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Ich wüsste nun gerne, wie eine angepasste, freundliche, demokratische und nichtchauvinistische Form der Kritik aussehen könnte, wenn klagen, schreiben und spazieren nicht gern gesehen werden?
Ausgegrenzt von der Kommunikation — Mobbing
Und wieder schreibe ich für die Tonne. Warum mache ich das eigentlich? Ach ja, weil ich selbst nicht weiß, wer ich bin und was ich tue. So weit war ich ja zumindest schon. Denn wenn man versucht, mit Menschen zu reden und diese Menschen einen permanent ignorieren und von der Kommunikation abschneiden, dann nennt man das Mobbing. Aber sicherlich habe ich auch das falsch verstanden. Wahrscheinlich bin ich nicht nur ein Nazi, sondern einfach auch geistig komplett umnachtet.
Unseren Bundespräsidenten habe ich schon zweimal per Brief um eine Erklärung gebeten. Er gehört zu der Gruppe derer, die einen einfach ignorieren. Es wäre schön, wenn mir jemand, der mir diese Etiketten aufdrückt, erklären könnte, was ich selbst nicht verstehe. Es müsste sich um ganz einfache Erklärungen handeln. Wie im Film „Philadelphia“ der Anwalt bei Gericht immer sagt: „Erklären Sie es mir wie einem vierjährigen Kind.“
Danke.
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Quellen und Anmerkungen:
Wie definieren Sie hier „rechtsextrem“? Diese Frage wurde am selben Tag, als dieser Blogbeitrag geschrieben wurde (26. Januar 2022) auch journalistisch gestellt. Die Antworten darauf sind mehr als interessant. Hier die Antwort des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz (BayLfV):
„Als extremistisch werden Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bezeichnet.
Kennzeichnend für rechtsextremistische Strömungen sind etwa die übersteigerte Betonung der Nation sowie ein autoritäres Denken, das die ‚Volksgemeinschaft‘ über das Individuum stellt. Gemeinsames Ziel ist die Abschaffung zentraler Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, beispielsweise des Rechts auf Wahlen. Darüber hinaus richten sich rechtsextremistische Bestrebungen gegen die universelle Geltung der Menschenrechte und die im Grundgesetz verankerte Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz.“
Bitte? Ich habe das Gefühl, dass unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung massiv in Gefahr ist, wenn die Menschen NICHT weiter spazieren gehen.
Ich habe das Gefühl, dass wir uns mitten in einem Prozess befinden, in welchem die Volksgemeinschaft der Gespikten über das Individuum gestellt wird.
Ich habe das Gefühl, dass mir das Recht auf die Wahlfreiheit, was ich mit meinem Körper machen darf, genommen werden soll.
Ich habe das Gefühl, dass die Unversehrtheit des Körpers als universelles Menschenrecht, welches im Grundgesetz verankert ist, abgeschafft werden soll und dass die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz nicht mehr gilt.
Halt! Das würde ja bedeuten, dass der Staat rechtsextrem ist!