Jede Zeit hat ihr progressives Aufgabenfeld. In den Sechzigern ging es um die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. In den nächsten beiden Jahrzehnten kam es zur Anti-AKW-Bewegung oder man engagierte sich gegen das Waldsterben. Danach wurde es stiller, der Fortschritt schien vollbracht, das Ende der Geschichte verlesen. Es wirkte fast so, als sei da kein Auftrag mehr für einen progressiven Aufbruch auffindbar. Den Gewerkschaften brach in jener Zeit die Klientel weg, die Linken haben seither Schwierigkeiten damit, massenkompatibel anzusprechen: Ein Proletariat gibt es ja nicht mehr. Die Arbeiterklasse ist zerrissen. Zwischen Fach- und Leiharbeitern klafft eine Versorgungslücke, Arbeitnehmer von heute sind eben nicht mehr die klassische Arbeiterklasse von einst.
Die chronische Müdigkeit, in der wir uns gesamtgesellschaftlich zu befinden scheinen, böte jedoch einen Auftrag für den progressiven Elan an. Obgleich sich so gut wie niemand mehr durch 60-Stunden-Wochen über Wasser halten muss, hat man den Eindruck, dass es zwei Ressourcen in rauen Mengen gibt: Die Müdigkeit und die Schlappheit. Sie sind zum Naturgesetz unseres modernen Gemeinwesens geworden.
Stress, Hochfrequenzalltage, Multitasking und die strikte Taktung täglicher Verrichtungen ermüden. Eilmeldungen am laufenden Band, Breaking News, Sensationsmeldungen im Dauerticker stumpfen ab, machen uns mürbe. Die Schlappheit ist das Prinzip der Stunde, die Konstante, die jeden erfasst. Ob nun physisch als Pendler oder eher psychisch als Langzeitarbeitsloser: Gähnen ist die Präambel der Alternativlosigkeit, die man nun seit Jahren predigt. Wer einen Wechsel anstrebt, emanzipative und progressive Politik möchte, eine Abkehr vom TINA-Prinzip — „There is no alternative“ —, der muss als ersten Schritt den Kampf gegen die allseitige Müdigkeit aufnehmen.
1989 — die relaxte Revolution
Es braucht einen wachen Geist, mentale Reserven, um gegen den alternativen Zeitgeist aufzustehen. Mit einem Modewort zeitgenössischer Soziologie gesagt: Resilienz, also die psychische Zähigkeit, auch noch die Kraft aufzubringen, um über die Alternativlosigkeit nachzudenken. Die Schaffung solcher Ressourcen ist die Grundvoraussetzung dafür, einen progressiven Kurs einzuleiten. Immense Zeitblöcke für Arbeit sowie An- und Abreise — nie zuvor pendelten Arbeitnehmer so viel wie heute — stehen kleinen Zeitpolstern für freizeitliche Gestaltungen gegenüber. Menschen, deren Work-Life-Balance darin besteht, diese Umstände in Einklang zu bringen, sind körperlich wie geistig keine „revolutionäre Masse“ in dem Sinne, den Status quo auch nur für einen Moment überdenken zu wollen.
Sie stecken in der Tretmühle fest. Wenn sie gerade mal nicht treten müssen, wollen sie eher nicht mit komplizierten Themen belästigt werden. Das ist nachvollziehbar. Niemand ist grenzenlos belastbar. Körper und Geist, wie es uns das christliche und vormals das platonische Weltbild übermittelte, sind eben nicht voneinander geschieden. Beides bedingt sich. In einem müden Körper denkt es sich nicht gut.
Obgleich die Mehrheit der Bürger sicher ein Gespür dafür hat, dass dieser Lebenswandel Raubbau an der Gesundheit und Beschneidung von Lebensqualität ist, geschieht nichts. „Im Osten war das bei uns damals anders“, sagte mir vor einiger Zeit ein befreundeter Ostdeutscher, „wir gingen zur Arbeit, erfüllten die Quote und dann hatten wir auch mal zwei Stunden Luft und taten nichts.“ Das sei für ihn mit ein Grund gewesen, warum die DDR letztlich gefallen sei. „Wenn wir so tayloristisch geschuftet hätten, um danach auch noch lange Pendelwege in Kauf nehmen zu müssen, die DDR wäre nicht auf diese Weise beendet worden.“
Viele DDR-Bürger kamen demnach relativ ausgeruht nach Hause: Sie hatten also die geistige Aufgewecktheit, um der verordneten ZK-Alternativlosigkeit etwas entgegenzusetzen. Nun kann man das als steile These abtun, aber von der Hand zu weisen ist es wohl nicht: Die DDR-Bürger waren aufgeweckt und nicht Teil einer Müdigkeitsgesellschaft — auch deshalb konnten sie einen Wandel einleiten.
Die Zeitkrise: Der gesellschaftliche Burnout
Glaubt man dem deutsch-koreanischen Philosophen Byung-Chul Han, so ist diese Form der Müdigkeitsgesellschaft, die er in seinem gleichnamigen Werk von 2010 analysierte, ein singuläres Ereignis in der menschlichen Historie. Nie zuvor war eine Gesellschaft so ausgebrannt und zerstreut wie jene transnationale Gesellschaft der westlichen Hemisphäre. Han glaubt in der „totalen Gleichzeitigkeit von allem“ ein maßgebliches Indiz für die Beschleunigung zu erkennen. Wobei er das „Zeitalter der Beschleunigung“ schon für vergangen erachtet — das eigentliche Problem, ja die eigentliche Krankheit, nennt er die „Zeitkrise“.
In der globalisierten Gesellschaft laufen pausenlos und synchron unzählbare Dynamiken gleichzeitig und für jeden sichtbar ab, während der Zeit ein Takt, ein „ordnender Rhythmus“ fehlt. Insofern glaubt Han, dass nicht mehr alleine die beschleunigte Geschwindigkeit unserer Lebensrealität problematisch ist, sondern die Richtungslosigkeit. Die Allgegenwart verursacht, dass Ordnungskoordinaten verschwimmen und „die Erfahrung von Dauer kaum mehr möglich (ist)“. Ein Lebenstakt, der von Ritualen, aber auch Zäsuren geprägt wird, die ja in allen bisherigen Gesellschaftsformen als Struktur eines menschlichen Lebens galten, verschwinden zusehends — was bleibt ist ein episodisches Multitasking.
Han betrachtet das Phänomen wachsender Meldungen eintretender Burnout-Syndrome, bei gleichzeitig eigentlich vereinfachten Lebensbedingungen. Obwohl der Alltag moderner Menschen heute weniger Arbeit bedeutet, für den Abwasch Spülautomaten in einer zudem längeren Freizeitspanne als noch 1950 bereitstehen, scheinen Erschöpfung und Müdigkeit auf dem Vormarsch zu sein. Für Han liegt das an diesem „Zeitalter der Entgrenzung“, weil alles immer gleichzeitig, ständig, immer, überall und immer wieder stattfindet. In der globalen Welt, befeuert durch Medien und Netzwerke, lebt man wie Kaiser Karl V.: in einem Reich, in dem die Sonne nie untergeht.
Ein anderer Aspekt ist laut Han, dass diese Strukturen das Affirmative begünstigen. Nein zu sagen, sich zu entziehen, wird schwieriger. Die Entgrenzung ist letztlich das mentale „No border!“ der liberalen Müdigkeitsgesellschaft.
Der Zeitkritiker glaubt nun, dass die nie ruhende Weltdynamik eine „Gewalt der Positivität“ verursacht, weil es schwer wird zu verneinen. Das Affirmative äußert sich darin, in einer ruhelosen Kultur des Dabei-sein-Wollens zu erschöpfen. Man kann sich immer weniger entziehen, Auswege werden verbaut, zwangsläufig ist man also „mit von der Partie“. Die Folgen daraus seien „Erschöpfung, Ermüdung und Erstickung“.
Sendeschlüsse braucht der Mensch
Nun ist Byung-Chul Hans These sicherlich kein leichter Tobak. Dass man philosophischen Analysen zuweilen skeptisch begegnet, ist nachvollziehbar — viel zu oft verbergen sich dahinter nicht mehr als eloquente Worthülsen. Hinter der Schwerfälligkeit seiner Analyse steckt jedoch ein wichtiges, vielleicht sogar das wichtigste Thema unserer Zeit. Han ist einer der wenigen Denker, die der Misere unserer Ära auf den Urgrund gehen: Er nimmt sich der allgemeinen Müdigkeit an, die wir alle mehr oder weniger in unserem Alltag, ja auch in uns selbst verspüren. Dieses seltsame Gefühl, in einem Gemeinwesen zu leben, in der die Verschlafenheitslethargie zu einer Art oberster Bürgerpflicht befördert wurde, spürt man in so vielen Lebensbereichen.
Die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind Anlass zur Sorge, aber so richtig Schwung kommt nicht in die Veränderung. Es werden sich müde Augen gerieben. Zeitkrise, das schnelle, nie ruhende Leben, das keine Brüche, keine Pausen mehr kennt, in der niemand mehr einen Lebenslauf hat, sondern lieber eine diffizil ausgearbeitete Biographie, ein Portfolio und eine reinlich gepflegte Vita, macht schrecklich matt und müde. Das liberale Klima, in dem es zusehends an Sinn und großen Erzählungen mangelt, in der jeder seines eigenen Glückes Egomane sein soll, belastet die Aufgewecktheit eines kritischen Bürgertums außerdem.
Hier gilt es anzusetzen. Der Müdigkeitsgesellschaft den Kampf anzusagen ist das große Thema unserer Zeit. Neue Sinnstiftungsstrukturen zu schaffen, eine Rückbesinnung darauf, dass nicht immer gleichzeitig, immer und überall alles verfügbar ist, ja Entschleunigung eben: Hier schlummert ein zentrales Zukunftsthema, das man ohne Kulturpessimismus und Modernitätsverweigerung anpacken muss.
Denn der Mensch scheint nicht gemacht für Dauerreize, er braucht nicht nur für sich, sondern auch für die Gesellschaft, in der er lebt, gewisse Rückzugsräume. Das ist kein Spießerthema nach dem Motto „Sonntag soll Ruhetag bleiben!“, sondern ein Beitrag zur allgemeinen Gesundheit, zur Stärkung von Ressourcen und Widerstandsfähigkeit. Resilienz eben. Psychologen erklären seit Jahren, dass man seine eigene Resilienz fördern soll, um keinen psychischen Infarkt zu erleiden. Der Mensch benötige eben Sendeschlüsse.
Jetzt käme es darauf an, das zu einem Gesellschaftsprogramm zu gestalten, in dem um kürzere Arbeits- und Pendelzeiten, rigidere Ladenschlusszeiten, vielleicht sogar um den guten alten Sendeschluss im TV und zudem eventuell um eine — utopische — Ladenschlusszeit für soziale Netzwerke gestritten wird. Entschleunigung als Bewegung: Wenn wir mal Zeit dazu finden.