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Orwells Schweine in der Provinz

Orwells Schweine in der Provinz

„Gleicher als gleich“ und „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“ — das scheint das Handlungsmotto von Politikern zu sein.

Nein, Politiker waren sicherlich noch nie eine Gruppe, die ich bewundert habe oder deren Leistungen mich gar inspiriert hätten, meinen Lebenslauf in ähnlicher Weise zu gestalten. Sicher, es gibt durchaus Menschen, deren tatsächliche Berufung es ist, sich politisch zu engagieren und für die Wünsche und Sorgen der Menschen zu interessieren, diese zu erörtern, abzuwägen und zu vertreten. Für diese Politiker endet das Erklimmen des Baums der Macht in der Regel ziemlich schnell im unteren Geäst.

Für die allermeisten anderen Vertreter der politischen Zunft jedoch hat Douglas Adams — Sie wissen schon, der mit der 42 — in seinem Roman „Das Restaurant am Ende des Universums“ treffend festgehalten, dass es eine Tatsache sei, „dass diejenigen Menschen, die Menschen regieren wollen, ipso facto diejenigen sind, die dafür am wenigsten geeignet sind“. Lao Tse hingegen konstatierte im Tao-Te-King, dass der beste Anführer jener sei, der gar nicht bemerkt wird. Über 2.000 Jahre später genügt ein flüchtiger Blick in Tageszeitungen, Tweets und Talkshows, um die Antithese dieser Weisheit sehr leicht als bestätigt zu erkennen.

Machtbaum der Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten

Mag sein, dass mir die nötige Empathie fehlt, die Motive von Entscheidern in ihrer Sinnhaftigkeit erfassen zu können. Tagein, tagaus sollen die Mächtigen aus unzähligen Möglichkeiten wählen, denen sie — inhaltlich und hinsichtlich ihrer Folgenreichweite meist völlig überfordert — ohnmächtig gegenüberstehen. Dass sie in diesen Fällen gerne das Angebot von nicht immer ganz selbstlosen Beratern in Anspruch nehmen, liegt wohl in der Natur einer ständig komplexer gewordenen Welt.

In leider nicht mehr ganz so seltenen Sachverhalten werden aber auch schon einmal die vielen verfügbaren Optionen per Order Mufti bis zur Alternativlosigkeit ein- oder weggedampft. Immerwährend gilt es dabei einen festen Klammergriff zu behalten, denn besonders in Zeiten von Krisen, unvorhersehbar oder gar herbei beschworen, weht ein kräftiger Sturm durch den Machtbaumwald. Dies ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für manchen Politkraxler, dem Wind etwas nachzuhelfen und in der Hoffnung auf eine schönere Aussicht und schmackhaftere Früchte an den oberen und seitlichen Ästen zu schütteln. Nicht zuletzt haben die weiter oben nistenden Lobbyvögel das buntere Gefieder und die bequemeren Nester.

Der Weg nach oben ist zwar gespickt mit Dornen der Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten, über die man aber mit der entsprechenden Hornhaut gut hinwegklettern und dies „mit großer Gelassenheit ertragen kann“, wie jüngst die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann bei einem Abstecher in die oberschwäbische Provinz formuliert hat.

Eisenmann hielt am 21. Oktober 2020 im kleinen Örtchen Baienfurt bei Ravensburg auf Einladung des örtlichen Wirtschaftsverbands einen Gastvortrag zum Thema „Wirtschaftspolitik der Zukunft“. Vor dem Veranstaltungsort hatten sich zahlreiche Menschen eingefunden, um gegen die gegenwärtige Politik Eisenmanns und ihrer Landesregierungsgenossen zu protestieren. Drei Tage zuvor wurde in Baden-Württemberg im Zuge der eiligst ausgerufenen „Pandemiestufe III“ unter anderem die Maskenpflicht für Schüler auch während des Unterrichts umgesetzt.

Die Szenen des Protests gegen diese Maßnahmen spiegelten die derzeitige gesamtgesellschaftliche Situation sehr gut wider und sie hatten gleich in mehrerlei Hinsicht Symbolcharakter. Draußen in der einsetzenden Abenddämmerung verschafften sich lautstark Eltern, Großeltern, Freunde, aber auch Vertreter der Lehrerschaft jenes Gehör, das ihnen seitens der Politik seit Monaten verwehrt wird. Sie standen gemeinsam für die Kinder ein, die außer in Fragen von Kohlenstoffverbindungen in diesem Land keine große Lobby haben und einmal mehr völlig ignoriert wurden.

In Manier Orwellscher Schweine ging es hingegen in den Räumlichkeiten des an die Gemeindehalle angrenzenden Baienfurter Rathauses zu. Dort wurde vor der Veranstaltung des Wirtschaftsverbands ein kleiner Empfang organisiert, bei dem die sogenannten „AHA-Regeln“ auch für Frau Kultusministerin keinerlei Gültigkeit besaßen. Den Kindern, die bei der Kundgebung von ihren negativen Erfahrungen mit den aufoktroyierten Regeln berichteten, dürfte wohl beim Anblick dieses Paradoxons diese verrückte Welt noch unverständlicher geworden sein.

Ob das Prinzip des „gleicher als gleich“ auch bei einer von Eisenmann propagierten Impfpflicht Anwendung finden würde, ist zwar fraglich, aber ganz offensichtlich eine durchaus reelle Möglichkeit. Es sei denn, die Ministerin vollzieht in diesem Fall eine „was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“-Kehrtwende, wie in Bezug auf die ausgedehnte Maskenpflicht, gegen die sich Eisenmann noch wenige Monate zuvor ausgesprochen hatte.

Rechnung ohne den Wirt geht nicht auf

Über die „Wirtschaft der Zukunft“ zu sprechen und gleichzeitig gelassen über die Sorgen und Ängste derjenigen hinwegzugehen, die diese Wirtschaft prägen sollen, ist die berühmte Rechnung ohne den Wirt zu machen. Der heutigen Generation von Schülern und Studenten wird gerade — neben den physischen und psychischen Bürden — ungefragt ein zusätzlicher Schuldenberg angehäuft, dessen erdrückende Last sie spätestens in wenigen Jahrzehnten mittelbar wohl auf ihren Lohn- und Gehaltszetteln deutlich verspüren werden. Dass diese Jugend alles, in einer dann klimaneutralen Ökonomie, stemmen kann, ist zugegeben ein denkbarer Ausgang, dessen Wahrscheinlichkeit allerdings mit jedem neuen Aktionismus und jedem neuen Lockdown geringer wird.

Der heutige Ruf nach bedingungsloser Solidarität könnte langfristig aber auch in einer gänzlich klimairrelevanten Wirtschaftsgesellschaft verhallen, in welcher der Wunsch nach eigenem Nachwuchs immer unüberschaubareren Bedenken untergeordnet wird. Ein „Corona-Knick“ würde eine derartige Spirale mit all ihren möglichen Folgen sicher noch verschärfen. Viele junge Erwachsene dürften wohl schon heute die Familienplanung auf Eis gelegt haben und das nicht nur aufgrund der Aussicht auf die Entbindung unter einer Maske.

Wissen ist Macht, aber nicht immer Weisheit

Mit dem Motto „Eisenmann will‘s wissen“ macht sich Kultusministerin Eisenmann derzeit als Spitzenkandidatin der einst im Ländle übermächtigen CDU für die kommende Landtagswahl auf, die politische Krone des baden-württembergischen Politikgewächses zu erklimmen. Doch alles Wissen nützt nichts, solange Politiker und Politikerinnen wie „Susi Sorglos“ sämtliche, weit unten am Boden vorherrschenden Sichtweisen in ihrer vielschichtigen Gesamtheit nicht auch begreifen.

Wenn sie den Blickwinkel derer einnehmen würden, die geltendes Recht als ungerecht empfinden und Empathie für alle, welche die Maßlosigkeit ihrer Maßnahmen ertragen müssen, aufbringen können, wären sie beispielsweise dem Wesen eines Landesvaters oder einer Landesmutter näher als nur dem eines Ministerpräsidenten. Sobald sie die Wirkung ihres Handelns wirklich umfassend verstehen und sich auch der daraus möglichen nachteiligen Szenarien für die Landeskinder bewusst werden, könnten sich die Volksvertreter allmählich von Douglas Adams‘ Beurteilung lösen und sich hin zu den Weisheiten eines Lao Tse bewegen.

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