Wir alle haben in den letzten Jahren Federn gelassen. Wie gerupft steht mancher da, ohne Job, ohne Sicherheiten, ohne die alten Beziehungen, die uns bis vor gar nicht so langer Zeit noch Stabilität gaben. Wir feierten Weihnachten zusammen und Geburtstage, trafen uns regelmäßig und fanden Halt in der Vorstellung, uns mitten in der Nacht anrufen zu können und am anderen Ende der Leitung ein offenes Ohr zu finden. Wir kennen uns ohne Falten und mit Haaren und können uns gemeinsam an lange vergangene Zeiten erinnern.
Freundschaft tut gut. Zumindest sollte sie das. Wir können uns offen zeigen, wie wir uns gerade fühlen, und keiner nimmt uns unsere Ausrutscher übel, wenn wir uns mal danebenbenehmen. Freunde sind Menschen, vor denen wir uns nicht verstellen. Mit ihnen können wir authentisch sein, ehrlich, so, wie wir sind. Wir können von unseren Schwächen sprechen und unseren Marotten, unseren Ängsten und Zweifeln und uns dennoch anerkannt fühlen: voller Fehler und Ungereimtheiten und gerade deshalb wunderbar liebenswert.
Für viele ist das vorbei. In den letzten Jahren ist auch gutes Porzellan zu Bruch gegangen. Uns ist einiges abhandengekommen — darunter auch die Vorstellung, dass Beziehungen vor allem dann einen Wert haben, wenn sie lange dauern. Für viele hat sich als Illusion erwiesen, es sei eine Tugend, im Gleichschritt durch das Leben zu marschieren. Sie haben erfahren, dass die Qualität einer Freundschaft nicht mit der Gewohnheit wächst.
Ade an manche Freunde
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Zeit die Dinge besser macht. Das gilt vielleicht für bestimmte Wein- und Käsesorten. Doch so wie wir mit dem Alter nicht automatisch weiser werden, so werden die Beziehungen, die wir uns im Leben aussuchen, nicht dadurch besser, dass sie lange dauern.
Sicherlich haben gewachsene Beziehungen ihren Wert. Doch sie können uns auch gefangen halten und notwendige Neuerungen ausbremsen. Es wirkt beruhigend, stets dieselben Ansichten zu teilen, dieselben Aktivitäten, dieselben liebgewonnenen Gewohnheiten. Während im Großen alles aus den Fugen gerät, so soll doch im Kleinen die Welt noch halbwegs in Ordnung sein. Mögen die Wälder brennen und die Aussicht auf einen eiskalten Winter manchem die Urlaubsfreude nehmen — das kleine Leben soll so normal wie möglich weitergehen.
Nach dem universellen Gesetz der Entsprechung verhält es sich im Großen wie im Kleinen und im Kleinen wie im Großen.
Den Sturm, der sich zusammenbraut, werden wir auf allen Ebenen zu spüren bekommen. Überall liegt Veränderung in der Luft. Gelegenheit für die Frage, ob wir den großen Übergang mit Menschen verbringen wollen, die uns in den Mauern eines zusammenstürzenden Gebäudes zurückzuhalten versuchen.
Bindungen die befreien
Nicht viele Menschen sind bereit, den anderen gehen zu lassen. Nur wenige haben die innere Reife, andere dabei zu unterstützen, ungeachtet der eigenen Vorlieben, Meinungen und Bedürfnisse, ihr Potenzial zum Ausdruck zu bringen. Diese Menschen braucht es jetzt. Es braucht echte Freunde, Menschen, deren Beziehungen keine Deals sind, sondern offenherzige und großzügige Verbindungen, die nicht darauf ausgerichtet sind, was andere uns geben, sondern was wir selbst zu geben bereit sind.
Wie die Liebe ist die Freundschaft eine hohe Kunst, deren Erlernen nicht mit ein paar Pinselstrichen abgehakt ist. Sie fordert uns ein Leben lang heraus. Denn sie setzt die Bereitschaft voraus, kontinuierlich an sich selbst zu arbeiten und Klarheit in sich zu schaffen. Nur wer dazu bereit ist, kann letztlich ein wirklicher Freund sein, jemand, der einen lebendigen Beitrag dazu leistet, die Welt freier und friedlicher zu machen.
Instrument des Friedens
Immer mehr Menschen leuchtet es ein: Erst dann, wenn wir lernen, in uns aufzuräumen und uns selbst frei zu machen, kann auch die Welt eine bessere werden. Hier kommt es auf jeden einzelnen Beitrag an! Möglichkeiten zu üben haben wir reichlich. Wir können sofort damit anfangen, indem wir uns unsere aktuellen Beziehungen anschauen.
Wie sieht es hier aus mit Tabus? Darf alles an- und ausgesprochen werden? Wird einander wirklich zugehört? Gibt es Verurteilungen, Beschuldigungen und Unterstellungen? Wird geschmeichelt, geschmollt oder sonst wie manipuliert? Werden immer wieder alte Verletzungen hervorgeholt und Schuldgefühle provoziert? Haben sich Opfer, Täter und Retter eingeschlichen? Sind alle Beteiligten konfliktfähig und gehen Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg?
Echte Freunde lassen es zu, sich triggern zu lassen. Sie suchen keine wohlerzogenen Kaffeekränzchen oder geschlossene Clubs, in die nur die Maskierten reinkommen. Sie spielen mit offenen Karten. Sie wissen, dass das, was sie trifft, sie auch betrifft.
Was der andere in uns berührt, hat immer auch mit uns selbst zu tun. Wir sind wie Instrumente, deren Saiten von den Begegnungen und Ereignissen angeschlagen werden. Nur wir selbst können sie stimmen. So schauen echte Freunde bei sich selbst, was sie tun können, damit die Melodie wieder harmonisch klingt.
Echte Freunde erkennen gerade in den Differenzen ihr Entwicklungspotenzial. So kann uns echte Freundschaften weit bringen! Sie schenken uns den Mut, unseren ganz eigenen Weg zu gehen. Echte Freunde respektieren Entscheidungen, auch wenn sie sie nicht verstehen oder nicht mit ihnen einverstanden sind. Sie wünschen einander von Herzen Glück, das auszuprobieren, wonach es den anderen dürstet — auch wenn es Trennung bedeutet.
Alle Menschen werden Freunde
So werden wir frei für immer neue Freundschaften. Wie lange sie auch dauern, einen Moment oder ein ganzes Leben, sagt nichts über ihre Qualität. Wo das Herz mitspielt, hat die Zeit wenig mitzureden. Eine gemeinsam erlebte Stunde kann so tief berühren wie ein halbes Jahrhundert. Auch wenn sich unsere Wege immer wieder trennen, trauern wir einander nicht hinterher. Halten wir die Erinnerung in Ehren, dankbar, einander begegnet zu sein und miteinander wachsen zu dürfen.
Betrachten wir es wie einen Tanz. Wir sind nicht immer für dieselben Melodien und dieselben Rhythmen empfänglich. Wer Lust auf Tango hat, muss keine Polonaise tanzen. Wagen wir es und spüren wir in uns hinein: Was treibt mich in diesem Moment an? Wohin zieht es mich? Was will ich erfahren? Lassen wir uns hier nicht zurückhalten, auch nicht von Menschen, die vorgeben, es gut mit uns zu meinen.
Legen wir die Zwänge ab, die Ketten, auch dann, wenn sie aus Sanftmut geflochten sind. Wir allein können wissen, wonach unser Herz sich sehnt und unsere Seele strebt. Seien wir wie der Wanderer, für den das Leben eine Reise ist.
Bleiben wir nicht dem Alten verhaftet, dem Bequemen und Immergleichen. Weben wir nicht immer wieder dieselben Muster und Farben in unseren Lebensteppich, sondern wagen wir auch das Unbekannte, Überraschende.
Fürchten wir nicht den Wandel, sondern lernen wir, Lebewohl zu sagen, wenn die Zeit gekommen ist. Tun wir es mit Größe und tragen wir einander nichts nach. Machen wir nicht den Rücken krumm, sondern richten wir uns auf. Es warten neue Begegnungen auf uns, neue Menschen, die mit uns ein Stück des Weges weitergehen. So kann sich von einem zum anderen ein Netz der Freundschaft um die Welt spinnen, das nichts Exklusives hat und uns alle umfasst.
Deine Zauber binden wieder
Anstatt uns misstrauisch zu beäugen, nähren wir den Gedanken, überall auf Freunde zu treffen. Die Welt lächelt uns an, wenn wir sie anlächeln. Wer offen und freundschaftlich an andere herantritt, der wird reich belohnt. Denn er erweckt im anderen den Wunsch, es ihm gleichzutun. Das können wir jetzt sofort in die Tat umsetzen. Wir müssen nicht auf die nächste Demonstration warten, den nächsten Spaziergang, den nächsten Protestmarsch, das nächste Picknick im Park. In diesem Moment können wir dazu beitragen, dass die Welt eine bessere wird.
Reden wir nicht nur von Freundschaft. Machen wir sie. Wir sind nicht das, was wir denken und sagen, sondern das, was wir letztlich wirklich tun. Gehen wir hinaus und sehen wir uns an, wem wir begegnen. Lächeln wir uns zu. Begegnen wir einander, wie es die alten Kulturen tun: Sei gegrüßt, mein Freund. Laden wir uns zum Tee ein. Machen wir den Anfang. Zeigen wir uns. Verstecken wir uns nicht. Sehen wir einander an. Im Gesicht unseres Gegenübers erkennen wir, dass niemals Krieg die Lösung sein kann, sondern Frieden.
Das haben wir den aktuellen Kriegstreibern entgegenzusetzen. Wo auch immer sie hetzen — Querdenker, Schwurbler, Terroristen, Rechtsesoteriker, Verschwörungstheoretiker, Covidioten, Russen, Rassisten, Putinversteher, Klimaleugner, politisch Unkorrekte, feige Friedensbewegte ... — schauen wir einander in die Augen. Hier erkennen wir den Etikettenschwindel einer Beschimpfungskampagne ohnegleichen, die dem alleinigen Zweck dient, uns zu entzweien, um uns noch fügsamer zu machen für die ganz große Unterdrückung.
Durchtrennen wir die Fäden. Holen wir uns die Ode an die Freude zurück. Befreien wir sie aus dem europäischen Verwaltungsapparat und machen sie wieder zu dem, was sie ursprünglich ist: das Ideal einer Gesellschaft gleichberechtigter Menschen, die durch das Band der Freude und der Freundschaft miteinander verbunden sind, und in der es nicht um den Zusammenhalt bestimmter Interessengruppen geht, sondern die Gewissheit der Verbundenheit aller Menschen (1).
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Quellen und Anmerkungen: