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Oasen der Freiheit

Oasen der Freiheit

Wir sollten den Machthabern ein für alle Mal das Vertrauen entziehen und stattdessen unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen — es reicht nicht, dass Herrschaft die Farbe oder das Narrativ wechselt, ihr ist die Gefolgschaft zu kündigen.

Stell dir vor, es werden neue Coronaregeln verkündet, und keiner hält sich daran. Ja, die Regeln, an die man sich eigentlich halten sollte, wären nicht einmal bekannt! Man stelle sich eine dorfähnliche Struktur vor mit Privathäusern, Höfen, Scheunen und Anpflanzungen. Dazu ein größeres Gebäude, das für Zusammenkünfte und Feste gedacht ist. Niemand wäre mit Maske zu sehen — es sei denn, er will es wirklich —, nirgendwo Menschen in Panik. Niemand konsumierte Mainstream-Medien, außer in der Art, wie man manchmal Lust auf einen Gruselfilm hat. Im Dorfcafé und im Laden wären „G“-Regeln unbekannt. Menschen träfen sich freizügig mit wem und mit so vielen anderen, wie sie wollten. U-Bahnen mit zusammengepferchten Maskierten gäbe es ohnehin nicht. Hohe Energiepreise und selbst Stromausfall wären kein Angstszenario, denn man würde seinen Strom durch Fotovoltaik selbst herstellen. Selbst Lebensmittelknappheit oder hohe Lebensmittelpreise schreckten niemanden, weil man das Wichtigste zum Leben selbst anbaut …

„Imagine all the people …“

Schon Jean-Paul Sartre hatte höchst pessimistisch verlauten lassen: „Die Hölle sind die anderen“. Das gilt vor allem, wenn es sich um extrem anders Denkende und überdies unduldsame Menschen handelt. Corona hat gezeigt, wie völlig verschieden sich Menschen entwickeln können. Das gilt speziell für ihr Freiheits- beziehungsweise Sicherheitsbedürfnis. Dominiert die „gegnerische“ Mentalität, führt dies oft zur Unterdrückung der Minderheitengesellschaft und ihrer Bedürfnisse.

Die Lösung wäre also räumliche Trennung der „Parteien“, jedoch ohne komplette Abschottung. Zwischen den Welten wäre ein kleiner Grenzverkehr möglich. Aber notfalls kann man auch unter sich bleiben, also unter Menschen, die über wesentliche Themen der Politik und des Zusammenlebens ähnlich denken. Wären innerhalb der „Kommune“ Masken zum Beispiel unbeliebt, würde niemand niemanden zwingen, sie zu tragen — egal, was das Gesundheitsministerium dazu sagt. Und das gilt nicht nur für „gelockerte“ Zustände, wie wir sie seit April 2022 haben, sondern auch für Zeiten verschärfter Panik wie im November 2021.

Die Tyrannei der Mehrheit

Selten zuvor ist die Tyrannei der Mehrheitsgesellschaft für viele bedrängender geworden als während der Coronajahre. Zwar waren liberaler denkende Menschen in einer immer noch komfortablen Minderheit — etwa jeder vierte dachte „anders“ —, jedoch wurde dies aufgewogen durch die außergewöhnliche Aufdringlichkeit der Umerziehungsversuche seitens des „Teams Vorsicht“.

Dieses agierte vielfach nach dem Motto: „Warum sollten wir mit denen Kompromisse schließen? Wir sind mehr und wir haben den Staat auf unserer Seite — die sollen parieren!“ Die Frage, die sich hier stellt, ist aber: Muss überhaupt ein Kompromiss gefunden werden? Muss sich unbedingt ein Mehrheitsvotum herauskristallisieren, dem dann alle zu gehorchen haben? Wenn so viele Menschen gern ohne Freiheit leben, ist nicht einsehbar, warum auch alle anderen dazu verpflichtet sein sollten.

Natürlich haben Parallelstrukturen in der Art eines „Staates im Staat“ ihre Grenzen, so lange das Gesetz eines Staates — etwa Deutschlands — auch auf dem „Sektengelände“ gilt. Die Polizei könnte die Freiheitsparzelle stürmen und auf die Beibehaltung der Maskenpflicht auch im kleinen, privaten Hofladen pochen.

Längerfristig wäre es aber schwer für die Staatsmacht, so ein Oppositionsreservat zu kontrollieren. Bei geschickter Organisation und einer ausreichend großen „Gemeinde“ könnte man dem Wahn des Alltags zum großen Teil entfliehen. Dabei ist die Coronapolitik nur eines der Themen, die zur gesellschaftlichen Spaltung führen könnten. Man kann sich ebenso Öko-Oasen, Sozialoasen, spirituelle Oasen, Oasen eines pazifistischen oder allgemein eines libertären Denkens vorstellen.

Ein Land zum Davonlaufen

In den vergangenen zwei Jahren ist Deutschland ein Land zum Davonlaufen geworden. Es erwies sich als die Vorhut in Sachen korrekter Erfüllung selbst absurdester Pflichten und die Nachhut in puncto Freiheit. Leider zeigte sich, dass bestimmte Vorurteile über die deutsche Mentalität, die in der Nachkriegszeit gängig waren, nicht nur Klischees waren. Eine Oberlehrer- und Freizeitpolizistenmentalität entfaltete sich im Biotop einer auch medial kultivierten rigiden Regel- und Angstgesellschaft. Sehr viele, die ich kenne oder von denen ich gehört habe, tragen sich mit Auswanderungsplänen. Oder sie haben dem Land ihrer Väter und Mütter bereits entnervt den Rücken gekehrt.

Nicht jeder möchte aber, sei es aus familiären oder beruflichen Gründen oder aus Heimatliebe, einfach davonlaufen. Dies wäre teils mit erheblichen organisatorischen oder finanziellen, vielleicht auch mit psychischen Problemen verbunden.

Und schließlich: Warum sollten „wir“ das Land verlassen und nicht jene, die seinen ursprünglich freiheitlich-demokratischen Geist verraten haben? Nur wer bleibt, kann zu einer Besserung der Verhältnisse daheim beitragen. Auszuwandern, ist zwar menschlich sehr verständlich, aber nicht unbedingt ein Modell, das für Millionen Menschen durchführbar wäre. Und man muss sich bewusst machen: Die Botschaft, die von einer großen Auswanderungswelle ausginge, käme bei den Mächtigen vermutlich nicht an. Die freuen sich eher darüber, Querulanten los zu sein und mit den Braven ungestört eine politische SM-Gruppe zu gründen.

Auch in der aktuellen Lage gibt es mehrere mögliche Einschätzungen, je nachdem, ob man das Glas „halb voll“ oder „halb leer“ nennen möchte, ob man den Fokus auf die Gefahr richtet oder auf das Rettende. Mit dem Boom der Precht’schen Pflichtethik und dem Zurückdrängen der Freiheit im öffentlichen Raum, mit dem Überhandnahme von Gängelung und Zensur, öffnet sich derzeit gleichzeitig ein Gelegenheitsfenster für die Idee der Freiheit. Ja, selbst für anarchistisches Gedankengut waren die Grundbedingungen schon lange nicht mehr so gut.

Immerhin spricht jetzt jeder von der Freiheit, wenn es auch viele nur tun, um sie herabzusetzen. Noch vor wenigen Jahren war sie kein Thema, weil man sich ihrer sicher zu sein schien, jetzt dagegen ist sie „in aller Munde“. Gerade die Tatsache, dass man die Freiheit verraten und geschändet hat, hat die Liebe vieler zu ihr eher vergrößert.

Die Anmaßung der Macht

Es kommen dabei viele Aspekte zusammen. Wer von den Ländern des Westens ein eher idyllisches Bild hatte, wurde durch die Brutalität der Freiheitseinschränkungen wegen Corona eines Besseren belehrt. Staats- und Medienkritik erreichen jetzt über den Kreis üblicher „Dissidenten“ hinaus viele Menschen, die bisher mit unserem Staatswesen ziemlich zufrieden gewesen waren.

Diese Tendenz wird sich verstärken, wenn die Coronaschäden in ihrer Gesamtheit noch sichtbarer werden, wenn weitere Krisen uns den Eindruck aufdrängen, die Staatsmacht habe „es“ nicht im Griff, sie handele sogar teilweise mutwillig zum Schaden der Bürger. Auch wer in Nicht-NATO-Ländern eine sympathische Alternative sah, könnte sich jetzt ernüchtert sehen. Etwa über den russischen Machtapparat, der nicht nur einen großen und blutigen Überfall auf ein Nachbarland zu verantworten hat, sondern auch die Freiheit im Inneren mit Füßen tritt. Auch die Idealisierung der chinesischen „Alternative“ hat mit dem Bekanntwerden der dortigen Lockdown-Politik und des Social-Credit-Systems ihren Höhepunkt bereits überschritten.

Genügt es uns noch nicht, erlebt zu haben, wie wir nur knapp und mit viel Glück der Drohung einer allgemeinen Impfpflicht entgangen sind, mit der sich eine Mehrheit überwiegend menschlich unreifer Parlamentarier die Verfügungsgewalt über unsere Körper angemaßt hätte? Ein erratisch agierender Gesundheitsminister wollte am einen Tag die Quarantänepflicht für Infizierte abschaffen, um sie am nächsten Tag bei Markus Lanz wieder einführen. Beide Entscheidungen bedeuten tiefe Einschnitte in das Alltagsleben von Tausenden, für beide Varianten erwartete und erwartet Lauterbach die unmittelbare Unterwerfung der Bürger.

Noch immer kommen Machthaber auf die Idee, Teile einer ganzen Soldatengeneration ihres Landes in ein tödliches kriegerisches Abenteuer zu schicken, und anstatt dem Machtkranken einen Vogel zu zeigen, ziehen Tausende fügsam wie gut programmierte Androiden in die Schlacht. Und nein, ich meine hier nicht nur Russland, das Problem ist ein generelles. Genügen alle diese Beispiele nicht, um der Macht nicht zumindest die geistige Gefolgschaft zu verweigern — mag es auch nicht immer möglich sein, sich ihrem Zugriff zu entziehen?

Ein Epos ohne Helden

Wie wäre es also, wenn wir ganz generell aufhören, das Heil von Machthabern — egal welcher Provenienz — zu erwarten? Es bleibt ja jedem selbst überlassen, ob er einzelne Politiker für sympathisch oder glaubwürdig hält. Im Großen und Ganzen kann man aber sagen: Nicht nur der eine oder andere Machthaber hat ein Problem — Macht selbst ist das Problem.

Nutzen wir dieses Gelegenheitsfenster, so scheint die Chance für libertäre Ideen größer als selten zu vor. Auch wenn man einschränkend sagen muss, dass radikalere Entwürfe natürlich schon immer nur ein Minderheitenprogramm waren. Nach der Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg wie auch nach jener des Ostblock-Kommunismus um das Jahr 1989 boten sich die Westmächte als wohlwollende Hegemonen an, bei denen man unterkriechen konnte. Die jetzige Gemengelage gleicht allerdings eher einem Epos ohne Helden, jedenfalls ohne einen echten Sympathieträger.

Wollte man die Weltlage ungeschönt darstellen, so liefe das auf eine deprimierende Schwarz-Schwarz-Malerei hinaus: Scholz oder Merz? Biden oder Putin? Der Westen oder China? Die USA oder islamischer Fundamentalismus? Etablierte Parteien oder AfD? — „Wer soll denn nun dein Herzblatt sein?“

Immer mehr komme ich zu dem Schluss, dass wir als freiheitsliebende „Normalbürger“ allein dastehen und dass der Ruf nach einer rettenden Kavallerie in den Wind gesprochen ist. Damit will ich nicht grotesker Selbstüberschätzung das Wort reden. Ich will auch nicht den Wert charismatischer Vordenker und Redner leugnen, wie sie sich zum Beispiel im Bereich der „Corona-Opposition“ in den vergangenen Jahren gezeigt haben. Aber von den „Großen“ der Zeitgeschichte ist außer Kleingeist derzeit nicht viel zu erwarten.

Zweifellos müssen wir viele sein, um etwas zu bewegen — mehr, als derzeit dem Anschein nach für freiheitliche Ideen ansprechbar sind. Die meisten wissen noch nicht so genau, wohin sie wollen. Im Detail zeigt sich der Weg aber ohnehin erst, wenn wir loslaufen. Es ist nicht gut, konstruktives Handeln so lange hinauszuzögern, bis die „Gegenseite“ eine Kapitulationserklärung unterschrieben hat. Das wird nicht geschehen. Vielmehr sollten wir derzeit auf „Shifting Baselines“ in unserem Sinne setzen. Auf allmähliche — und das muss nicht heißen: langsame — Weiterentwicklung.

Die Hefe einer besseren Gesellschaft

Soll libertäres Gedankengut hier wieder Fuß fassen, sollten wir uns zuerst auf diejenigen besinnen, die diesen Weg vor uns beschritten haben. Der in Bulgarien geborene Schriftsteller Ilija Trojanow ist einer der heute noch lebenden Vordenker eines umfassenderen Freiheitsbegriffs. Unter anderem verfasste er mit Juli Zeh im Jahr 2009 die Abhandlung „Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“. In seinem Dokumentarfilm „Oasen der Freiheit“ besucht er 2018 in verschiedenen Ländern Projekte, die man im weiteren Sinn als anarchistische Sozialexperimente verstehen kann.

„Heute wird utopisches Denken meist belächelt, und verunglimpft, aber jeder großen Errungenschaft der Menschheit ist eine wagemutige Idee vorausgegangen. Wir schaffen uns oft die Realität, die wir zuerst bedenken“, sagt Trojanow im Film. „Der utopische Traum von sozialer Gerechtigkeit ist die langsam aufgehende Hefe einer besseren Gesellschaft. Insofern ist die Zukunft schon unter uns, nur sehr ungleichmäßig verteilt.“

Eindrucksvoll ist etwa Trojanows Besuch in dem andalusischen Dörfchen Marinaleda, zusammen mit dem Dichter und Übersetzer José Oliver. „Marinaleda hat ein Kulturzentrum, ein Rathaus, ein Schwimmbad, eine Sporthalle, einen Park, aber es hat keine Polizei. Die wurde vor Jahren abgeschafft.“ Kann so etwas überhaupt gut gehen? „Sie ist seitdem kein einziges Mal gebraucht worden.“

In Marinaleda haben die Bürger Arbeit, Häuser, grüne Gärten. Die Mieten sind günstig, aus dem Straßenbild ist Werbung verbannt. Juan Manuel Sánchez Gordillo, der Bürgermeister von Marinaleda, sieht das Idyll als Ergebnis längerfristiger libertärer Basisarbeit:

„Unsere Gewerkschaft war immer mehr anarchistisch als kommunistisch. Es gab bei uns immer weniger Bürokratie, dafür mehr Versammlungen und Mitsprache, mehr Aktion, mehr Mobilisation und mehr Respekt für die grundlegende Freiheit des Menschen.“

Gordillo sieht das Grundproblem der Gesellschaft im Kapitalismus und im Versagen der klassischen Linken.

„Das große Problem der Linken ist, dass sie keine klare Antwort auf das System haben und dass sie ihm nicht begegnen, sondern sich ihm unterordnen oder es versüßen, indem sie glauben, dass der Kapitalismus human sein könnte. Der Kapitalismus kann niemals humanitär sein, weil es eben zwei gegensätzliche Konzepte sind: der Kapitalismus und der Mensch. Der Kapitalismus muss den Menschen zwangsläufig zerstören, er muss den Menschen zu einer Ware machen, zu einem Sklaven des 21. Jahrhunderts. Der Mensch wird zu einem Roboter, der produziert und den man dann auf den Müll wirft, wenn er aufgehört hat zu produzieren — ohne Rechte und ohne Freiheiten.“

Der Friedhof aller Hoffnungen

In Thüringen führt ein „Mühsam-Weg“ zur „Bakuninhütte“, benannt nach dem berühmten russischen Anarchisten Michail Bakunin (1814 bis 1876). Dieser neigte zu radikaler Staatskritik und meinte etwa:

„Der Staat ist eine Abstraktion, die das Leben des Volkes verschlingt, ein unermesslicher Friedhof, auf dem (…) alle wahren Hoffnungen, alle Lebenskräfte eines Landes großzügig und andächtig sich haben hinschlachten und begraben lassen.“

Die Hütte ist heute wieder ein Wanderzentrum der anarchosyndikalistischen Bewegung. Die idyllischen Bilder zeigen Menschen, die um einen Tisch herumsitzen, essen und in ihren Gesprächen den Begriff „Anarchismus“ umkreisen.

So sagt eine Frau: „Der gemeine Bürger stellt sich unter Anarchismus irgendwas Schreckliches vor, also Gewalt und Chaos und Niedergang und Missachtung aller Rechte und Traditionen und von allem, was irgendwie wertvoll ist.“ Aber:

„Anarchismus ist ja erst einmal eine Geisteshaltung. Ich hatte gedacht, das ist eher eine Organisationsform, wo keiner das Recht hat, über den anderen zu bestimmen. Wo jeder erst mal für sich entscheidet.“

Da aber bestimmte Angelegenheiten in der Gemeinschaft alle angehen, müssen sie auch in der Gruppe entschieden werden, also „von den Leuten, die davon betroffen sind.“

Man kann hier auch ganz einfach von „Basisdemokratie“ sprechen, in der „jeder ernst genommen wird in der Fähigkeit, das für sich selber zu entscheiden.“ Der Frau geht es auf die Nerven, „dass einem immer alle Leute, wenn man mit Anarchismus ankommt, so kommen: ‚Ja, dann geht ja alles drunter und drüber. Und dann machen sie alle, was sie wollen und schlagen sich den Schädel ein.‘ Was heißt das im Endeffekt? Dass der Mensch hauptsächlich das Interesse hat, dem anderen den Schädel einzuschlagen.“ Und ein Mann ergänzt: „Sich die Köpfe einzuschlagen, das ist ja meistens, wenn der Staat das organisiert, oder?“

Wir sind anarchistische Naturbegabungen

Der Buchautor David Graeber („Schulden“) hat in einem großartigen Aufsatz dargelegt, wie er „Anarchie“ versteht — nämlich nicht als Chaos und Bombenwerferei, sondern schlicht als die Fähigkeit, von sich selbst und seinen Mitmenschen bewusst ein positives Bild zu pflegen.

„Anarchisten sind einfach Leute, die glauben, dass Menschen in der Lage sind, sich vernünftig zu verhalten, ohne dass man sie dazu zwingen muss. Das ist wirklich ein sehr einfacher Gedanke. Aber es ist einer, den die Reichen und Mächtigen immer als extrem gefährlich empfunden haben.“

Ich möchte diese Aussage über Anarchisten ausweiten auf freiheitsliebende Menschen im Allgemeinen.

Abseits von komplizierten Theoriegebäuden führt Graeber diese Freiheitsliebe auf einfache Alltagsbeobachtungen und Verhaltensweisen zurück. Wir alle verhalten uns ungemein oft anständig und rücksichtsvoll, ohne dass wir dies „müssten.“ Unholde sind wir Menschen häufig vor allem in den Augen von Machthabern, für die Schuldzuweisungen ein strategisches Mittel darstellen, um uns klein zu halten — letztlich dadurch auch für sie leichter formbar.

So beschreibt Graeber folgende weitverbreitete alltägliche Verhaltensweisen:

„Wenn Sie in einer Schlange stehen, um in einen überfüllten Bus einzusteigen, warten Sie dann, bis Sie an der Reihe sind, und versuchen nicht, sich an anderen vorbei zu drängeln, auch wenn keine Polizisten in der Nähe sind? (…) Sind Sie Mitglied eines Vereins, einer Sportmannschaft oder einer anderen freiwilligen Organisation, in der Entscheidungen nicht von einer Führungsperson diktiert werden, sondern auf der Basis einer allgemeinen Zustimmung erfolgen?“

Sein Fazit aus diesen und vielen weiteren Beobachtungen: Die meisten Menschen sind sozusagen anarchistische Naturbegabungen. Sie wissen es nur nicht oder würden es nie so ausdrücken.

David Graeber fasst zusammen:

„In ihrer einfachsten Form beruhen die anarchistischen Überzeugungen auf zwei elementaren Annahmen. Die erste ist, dass Menschen unter normalen Umständen so vernünftig und anständig sind, wie es ihnen erlaubt ist, und dass sie sich selbst und ihre Gemeinschaften organisieren können, ohne dass ihnen gesagt werden muss, wie. Die zweite ist, dass Macht korrumpiert.“

Die Angst der Macht vor dem Bürger

Die Bakuninhütte wurde seit ihrer Entstehung in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts mehrfach zweckentfremdet und instrumentalisiert: durch den Nationalsozialismus wie durch den Stalinismus. Alle freiheitlichen Strömungen wurden von den Machtsystemen ausgetrocknet. Ilija Trojanow sagt in einem kurzen historischen Rückblick:

„Wenn man sich die großen historischen Scheidepunkte des 20. Jahrhunderts anschaut, dann wird man überall feststellen können, dass Anarchisten als erste erkannt haben, dass die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in die falsche Richtung gehen. Ganz früh schon in Russland, schon 1918, und ähnlich auch in Spanien, nach 1936. Dass die Anarchisten eigentlich erstaunlich hellsichtig waren und immer wieder idealistische Kommunisten gewarnt haben, dass sie eigentlich nichts anderes sind als Erfüllungsgehilfen in einem extrem zynischen und brutalen Spiel von Stalin.“

Könnten es auch heute wieder Anarchisten sein, die bestimmten Fehlentwicklungen, vor allem den Verlust der Freiheit rechtzeitig erkennen? Leben wir heute nicht wieder in einer Zeit, in der Linke eher Teil des Problems als der Lösung sind, weil sie sich der Macht als Erfüllungsgehilfen andienen? Und, eine noch wichtigere Frage: Gibt es heute überhaupt noch Anarchisten? Wenn ja, dann nennen sich die meisten wohl nicht so.

Auch in Ilija Trojanows Heimat Bulgarien gibt es eine anarchistische Tradition. Bei seinem Besuch in der Stadt Jambol erzählt ihm der Schriftsteller Christo Karastojanow von der blutigen Niederschlagung freiheitlicher „Zellen“ in diesem Land. Ein Drittel der Anarchisten landete während der kommunistischen Herrschaft in Arbeitslagern. Generell scheint es ja, als habe die Geschichte der Anarchie sehr wohl viel mit Gewalt zu tun; anders als es Staatstreue gern wahrhaben wollen, waren die Anarchisten allerdings fast immer Opfer. „Die Macht hat sich gefürchtet“, erzählt Karastojanow.

„Sie war aber so durchtrieben, das Bürgertum mit ihren Ängsten zu infizieren. ‚Sie werden uns die Frauen rauben, sie werden uns das Eigentum wegnehmen. Sie wollen, dass alle gleich sind.‘ Die Anarchisten dienten damals als Vogelscheuche. In unserem Staat befindet sich jede Macht in einem permanenten Krieg gegen das eigene Volk. Heute ist dieser Krieg unblutig, aber er wird fortgeführt. Die Macht liebt das eigene Volk nicht, sie fürchtet es.“

Er gibt aber auch einen optimistischen Ausblick: „Irgendwann platzt er“ — der Drang zur Freiheit.

Der Staat ist Problem, nicht Lösung

Dilar Dirik ist Soziologin und Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung. Auch sie sucht Ilija Trojanow für eines seiner aufschlussreichen Interviews auf. Die US-amerikanische Friedensaktivistin, Feministin und Anarchistin Emma Goldman ist Diriks großes Vorbild.

„Sie hat auch gesagt, dass wir nicht nur gegen die Phänomene der Unterdrückung kämpfen sollten, dass wir keine Pflasterlösungen suchen sollten, sondern wirklich radikal an die Wurzeln gehen. Woher kommen denn diese ganzen Hierarchien? Woher kommt diese Autorität? Vom Staat. Der erste Staat wurde in Mesopotamien gegründet, und dadurch sind auch viele Herrschaftssystem entstanden.“

Daher ist die Freiheit innerhalb eines staatlichen Systems nie in der wünschenswerten Weise erreichbar.

„Wir können nicht in der Quelle der Unterdrückung unsere Freiheit suchen. (…) Versucht wird, eine Freiheit anzustreben, die eben nicht das gleiche System des Staates wiederholt, wo wir nicht nur irgendwelche Individuen sind, die dem Staat gehorchen, sondern dass wir selbst unseren Willen durch direkte Aktion, durch autonome Organisation schaffen können. Ich denke, das ist auch näher an der Natur unserer Gesellschaft.“

In den Worten von Emma Goldman:

„Der Staat ist die Quelle der Unterdrückung. Wir können nicht erwarten, dass die gleiche Organisation zur Quelle unserer Lösung wird.“

Das größte Problem, wenn es um die Befreiung des Menschen geht, sind jedoch oft die Menschen selbst. Jedenfalls die meisten von ihnen. „Es wird lange dauern, die untertänige Konditionierung des Menschen zu überwinden“, sagt Ilija Trojanow in einem seiner Kommentare.

„Weiterhin flüchten sich viele in die leeren Versprechungen von Sicherheit und Ordnung, anstatt einen eigenen Weg hin zu größerer Gerechtigkeit und Freiheit zu suchen. Es stellt sich die Frage, ob Hierarchie, Ausbeutung und Gewalt die enormen Herausforderungen, denen sich die Menschheit gegenübersieht, meistern können. Oder brauchen wir Alternativen, um künftig zu überleben?“

Anarchie oder Tod?

Trojanows Onkel Georgi Konstantinow, den der Autor bei seiner Reise in die Heimat besucht, hatte viele Jahre unter grausamen Bedingungen in Straflagern verbracht. Er zieht eine radikale Schlussfolgerung die Zukunft der Menschheit betreffend:

„Wir Anarchisten sind Geschichte, aber auch Zukunft zugleich. Weil all jene Faktoren, die den historischen Fortgang bestimmen, die Menschheit innerhalb der nächsten 20, 30 Jahre vor die Wahl stellen werden: Anarchie oder Tod? Der einzige Ausgang aus der sozialen und internationalen Krise, auf die alles hinausläuft, ist die Schaffung einer Gesellschaft ohne Staat und ohne Kapital.“

„Anarchie oder Tod?“ Der Gehirnforscher Gerald Hüther geht in seinem Vortrag „Ohne Hierarchie: Die Gesellschaft der Zukunft“ nicht ganz so weit. Er behauptet allerdings, dass die komplexer werdenden Probleme unserer Weltgesellschaft mit den Hauruck-Methoden von vorgestern nicht mehr zu lösen sein werden.

„In dieser Situation geht eines nicht mehr: die hierarchische Ordnungsstruktur. Die hat sich jetzt selbst ad absurdum geführt. Es wird nie wieder jemanden geben, der wüsste, wie man eine ganze Gesellschaft oder gar die gesamte Weltbevölkerung lenkt und steuert. Also haben wir jetzt unsere Anführer verloren.“

Manche suchen jetzt, anstatt das Prinzip „Führung“ infrage zu stellen, einfach einen neuen Anführer. Nach Scholz Habeck? Nach Macron Le Pen? Nach Trump Biden oder nach Biden erneut Trump? Diese Rechnung dürfte nicht aufgehen. „Das ist die große Übergangsphase, in der wir lernen müssen, unsere Beziehungen zueinander so zu gestalten, ohne dass einer den anderen wie ein Objekt benutzt“, sagt Hüther.

Das Archipel der Freiheit

Dürfen wir hoffen, der autoritätsfrommen Mehrheitsgesellschaft nicht nur von Zeit zu Zeit zu entkommen, sondern sie auch in unserem Sinne zu verändern? Der deutsche Anarchist Horst Stowasser (1951 bis 2009) beschäftigt sich in seinem Standardwerk „Anarchie!“ mit dem Gedanken, das libertäre Denken könne viral gehen, also über abgeschlossenen Kleingruppen hinaus Bedeutung erlangen.

„Politische Verwirklichung beginnt dort, wo soziale Ideen Millionen von Menschen bewegen, nicht ein paar Tausend. Die meisten libertären Experimente sind nichts weiter als — Experimente: Versuche im Kleinen, Lerngruppen, Revolutionsetüden, bestenfalls kleine Inseln für die beteiligten Menschen.“

Dies sei aber noch längst nicht die erwünschte libertäre Gesellschaft.

„Zu gesellschaftlich relevanter Wirklichkeit wird ein Experiment erst, wenn es beginnt, die Vorstellungskraft der Menschen außerhalb dieser Inseln zu beflügeln und sich zu Handlung verdichtet. Alle libertären Ansätze, die dieses Bindeglied zwischen dem kleinen Häuflein Aufrechter und dem Alltag der Millionen nicht finden, sind dazu verurteilt, fruchtlose Sekte zu bleiben.“

Ich würde nicht so weit gehen, „Inselexperimente“ abzuwerten. Sie verändern nicht unbedingt die Mehrheitsgesellschaft, können Beteiligten aber Kraft verleihen und einen Rückzugsraum bieten, um zu verhindern, dass die Minderheit ihrerseits durch die Mehrheit verändert wird — wie wir es leider nur zu oft erleben. Stowasser entwirft kein zu rosiges Bild des zu erwartenden Anarchistenalltags:

„Der selbstverwaltet-libertäre Alltag in solchen Projekten ist weder ein Paradies noch die zuckersüße Harmonie, sondern allenfalls eine andere menschlichere Art, mit Problemen umzugehen, als in hierarchischen Gesellschaften üblich. Trotzdem bleibt der Anspruch bestehen, dass es legitim sei, hier und heute selbst schon etwas von den schönen Utopien des Übermorgens haben zu wollen. Alle Vertröstungsideologien, die den selbstlosen, asketischen Revolutionär zum Vorbild haben, werden im Grunde als verlogen empfunden.“

Die Pilotprojekte sollten sich nicht nach außen hin abschließen und so auf die umgebende „alte“ Welt eine gewisse Sogwirkung ausüben.

„Das hat natürlich zur Folge, dass man nach außen offen, erlebbar und attraktiv auftreten kann. Es bestünde somit die Chance, im sozialen Alltag Tausende von ‚normalen‘ Menschen zu erreichen und ihnen ganz simple Zugänge zum Verständnis anarchistischen Lebens zu schaffen.“

Stowasser entwirft die Vision eines überregionalen Gesamtprojekts, „Projekt A“ genannt.

„Als mittelfristiges Ziel peilt die Projekt-A-Strategie eine Vernetzung vieler solcher Orte und Regionen an — über Ländergrenzen hinweg zu einer immer stabiler werdenden, virulenten Gegengesellschaft. Dies könnte zunehmend auch zu einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktor werden: zu einem langsam zusammenwachsenden ‚Archipel libertärer Inseln‘ in einer autoritären Welt, der langsam aus seinen gesellschaftlichen Nischen ausbricht. Dort entwickelten sich zugleich die konkreten Urformen einer neuen Gesellschaft.“

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

Aber was tun, nachdem wir uns die richtigen Ziele und die optimale Philosophie zurechtgelegt haben? Ein Mensch, der viel Praxiserfahrung in Gemeinschaften mitbringt, ist die Friedensaktivistin, Geburtshelferin und Sterbebegleiterin Friederike de Bruin: „Wie sollen wir andere Organisationsformen erlernen als in der Praxis?“, macht sie deutlich.

„Anarchie ist für mich gleichbedeutend mit der maximalen Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungen nicht zu delegieren an ‚die da oben‘, sondern selbst in vielen Bereichen die notwendigen Informationen und Kenntnisse zu erwerben, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Anarchie leben bedeutet für mich: kompetent werden, erfahren was es heißt, verantwortlich zu sein. Mut, emotionale Reife und Empathie sind sowohl Folge von Lebenserfahrung als auch gute Grundlagen, um für mich selber und gemeinsam mit anderen kluge, lebensfördernde und nachhaltige Entscheidungen zu treffen.“

Friederike nennt im Folgenden auch ein paar Adressen, wo man sich weiter über praktische Fragen rund um „Oasen der Freiheit“ informieren kann:

„In größeren Fragen, zum Beispiel zur Infrastruktur, Lebensmittelversorgung, Gestaltung des öffentlichen Raumes ist es notwendig, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und die Bedürfnisse aller in den Blick zu nehmen. Hierzu bedarf es, neben der Bereitschaft sich einzubringen, einer guten Kommunikationskultur. So wie es früher in kleinteiligen Dorfstrukturen mit ihren
Versammlungen unter der Dorflinde üblich war oder auch zu Zeiten des Bündnisses der sechs Nation der Irokesen in Nordamerika. Verantwortung zu tragen lernt man nur in der Praxis, nicht in der Theorie. Oben genannte Pilotprojekte und ‚Inselexperimente‘ sind also dringend notwendige Keimzellen, Experimentier- und Lernfelder.“

In der Tat, so Friederike de Bruin, ist momentan sehr viel in Bewegung in der „Szene“.

„Neue Keimzellen sprießen gegenwärtig weltweit aus dem Boden: Im Freedom-Cell-Network beispielsweise verbinden sich, ähnlich wie in ‚Projekt A‘ angedacht, zahllose kleine regionale selbstverwaltete Initiativen. In Kassel werden genossenschaftlich sowohl auf dem Land, als auch in der Stadt generationenübergreifende und selbstverwaltete Gemeinschaftsprojekte entwickelt. Die Charta für ein Europa der Menschen und Regionen ist keine dezidiert anarchische Initiative, die Elemente regionale Selbstverwaltung, Eigenverantwortung und Vernetzung stehen aber auch hier zentral. Besonders ist, dass die involvierten Menschen regelmäßig in der Praxis zusammenkommen, um sich in Konferenzen politisch weiterzubilden. In den kleinen und größeren Keimzellen des Neuen wird experimentiert, aus Fehlern gelernt, gestaltet.“

Sie schließt: „Unserer Meinung nach ist es an der Zeit, nicht nur nach Veränderung zu rufen, sondern sie zu ‚machen‘. Frei nach dem Motto: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“


Oasen der Freiheit — Anarchistische Streifzüge“ (Dokumentation)


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