Mehr als hundert Jahre liegt der Aufstand der Kieler Matrosen jetzt zurück, und die Art des Gedenkens hat sich oft gewandelt, abhängig vom augenblicklichen Takt der Geschichte und von der Lage an den großen und kleinen Frontlinien.
Es war ein forderndes Erinnern, ein Hoffnungslicht in der Finsternis, ein triumphales Gedenken, ein trotziges Beharren, und nun sind wir wieder beim Betrachten der kleinen Flamme im Dunkel.
Kein Dunkel diesmal wie tiefschwarze Nacht; eher ein Nebel, der alles verhüllt, den Dingen die Qualität nimmt. Es bricht alles auseinander, aber wir sehen es nicht.
Wir werden voneinander getrennt in diesem Nebel, und müssten uns wahrnehmen, einander vergewissern.
Dieses Auseinanderbrechen, auch das macht den Alltag mühsam.
Wenn ich zu meinen Patienten fahre, dann sind das nur noch Umwege; manchmal kann ich die einfachsten Dinge nicht erhalten oder sie sind mit langen Bestellzeiten verbunden, Inkontinenzwindeln oder Handschuhe.
Vor Kurzem musste ich mehrere Apotheken anfahren, um Windeln zu erhalten, und dann waren es teurere und zu wenig. Ich muss zum Testen fahren, um arbeiten zu dürfen. Selbst in den Supermärkten fehlt mal dies, mal das, die Einkäufe und Besorgungen für meine Patienten werden zum Lotteriespiel.
Wenn ich ausfalle, gibt es keinen verlässlichen Ersatz mehr; ich werde also ständig vor die Wahl zwischen meinem Wohl und dem meiner Patienten gestellt.
Eine meiner Töchter wartet seit Monaten auf Elterngeld; der anderen wurde gekündigt, bekam dann denselben Job zu schlechteren Bedingungen angeboten; nichts, gar nichts läuft mehr normal und zuverlässig.
Alles wird teurer, die Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse werden schlechter, aber der Nebel verdeckt alles.
Wie war es, als der Kieler Aufstand begann? Die großen Pläne der herrschenden Klasse waren gescheitert, trotz des Friedens von Brest-Litowsk, der der jungen Sowjetunion aufgezwungen wurde, trotz der letzten Offensive an der Westfront; sie waren sich uneins, die einen wollten eine Parlamentsregierung, um ihr die Verantwortung für die Niederlage aufzubürden, die anderen wollten einen letzten Angriff auf die britische Flotte.
Das Volk wollte Frieden, aber das wollte es schon jahrelang, und es hat dennoch gefroren, gehungert und ertragen.
Ich wundere mich oft, wie viel sich die Menschen haben nehmen lassen, in den vergangenen zwei Jahren.
Wie schamlos das Vermögen der Milliardäre weiter aufgeblasen wurde, und wie übergangslos die einfachsten Rechte zur Makulatur wurden.
Ich sehe die Müdigkeit, das Atemlose in den Gesichtern, ich erlebe nach wie vor den Gehorsam und frage mich täglich: Wie lange noch?
Was mich aufrecht hält, ist mein Widerstehen, wo immer sich der Raum dafür bietet, und ich wundere mich: Wie kann man all das Ertragen ohne das?
Das Recht erodiert.
Offener Betrug durch die Reichen geschieht straflos, aber unsereins kann selbst nominell vorhandene Rechte nicht mehr verwirklichen.
Eine gewöhnliche bürgerliche Demokratie gibt sich zumindest noch Mühe, den Klassencharakter der Justiz zu kaschieren. Er liegt blank und unverhüllt.
Als im Sommer 1917 Auseinandersetzungen um die — rechtlich vorgesehene — Beschwerdemöglichkeit über die Mannschaftsverpflegung von der Admiralität zur Meuterei erklärt und die Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch hingerichtet wurden, war da auch nur zu hoffen, dass im Herbst des Folgejahres aus echter Meuterei ein Aufstand und dann aus einem Aufstand eine Revolution erwachsen würde?
War es das am 30. Oktober, als die ersten Mannschaften den Befehl verweigerten, oder am 2. November 1918, bei den ersten gemeinsamen Versammlungen der Matrosen mit den Kieler Arbeitern?
Ja, der weltgeschichtliche Paukenschlag war schon ertönt, ein Jahr zuvor in Russland. Aber dennoch — wie gegenwärtig war er den Matrosen der Schiffe, die am 30. Oktober den Schießbefehl verweigerten?
Im Mai dieses Jahres war einer dieser gefährlichen Momente, als wir fürchten mussten, dass die Kiewer Truppen einen Angriff auf den Donbass starten.
Er ging vorbei; aber jetzt geht es wieder los, mit dem Einsatz einer türkischen Kampfdrohne, mit zunehmendem Beschuss der Dörfer im Donbass, es sind wieder US-Schiffe im Schwarzen Meer und wieder NATO-Manöver, so wie eigentlich immer NATO-Manöver sind, außer im tiefsten Winter.
Die Rhetorik legt immer noch einen Zahn zu; jetzt wird den Menschen in Deutschland sogar eingeredet, Russland sei an den hohen Gaspreisen schuld, dabei ist es die Spekulation der hiesigen Zwischenhändler, die den Preis treibt.
Und die nächste Bundesregierung wird noch eine Schippe drauflegen, dafür werden die Grünen schon sorgen.
Seit sieben Jahren leben wir am Rande eines großen Krieges, dieses Land immer mittendrin, sowohl bei der Rüstung als auch der Propaganda, Tag für Tag wird Stimmung gemacht gegen die erwählten Feinde Russland und China.
Kein Krieg, aber eben auch kein Friede, weder nach außen noch nach innen.
In vielen Jahren war es nicht wichtig, diesen Momenten des Jahres 1918 nachzuspüren, aber in unserer jetzigen Zeit ist es das. Denn es ist dunkel, die Herrschenden folgen wieder einmal großen Plänen, die Dame Geschichte hat die Röcke gerafft und rennt statt zu schreiten, und sogar der Paukenschlag ertönte bereits, auch wenn ihn nur wenige vernommen haben.
Der Paukenschlag, der verkündete, dass die Macht der westlichen Imperialisten gebrochen ist.
Alles an, mit und um Corona ist der Nebel, der uns hindert, die Dinge zu sehen, wie sie sind.
Es ist nicht Zustimmung, auf die sich gerade die Macht stützt, es ist Erschöpfung, Angst; der Wunsch nach Ordnung in einer Welt, die völlig durcheinandergeraten ist, durcheinandergeworfen wurde.
Aber es ist keine Ordnung mehr zu haben mit diesem System und seinem politischen Personal, es sei denn die eines Friedhofs.
Was hat man sich Gedanken gemacht um „Übergangsforderungen“.
Mittlerweile ist das ganze ökonomische, politische, administrative System in einem Zustand, dass der Wunsch, ein Auto anzumelden, schon fast an die Systemgrenze führt.
Wenn eine deutsche Kriegsministerin Kramp-Karrenbauer Russland mit Atomwaffen droht, ist sie dann auf der derselben Ebene wie Kaiser Wilhelm bei seiner Hunnen-Rede oder wie General Ludendorff, als er um jeden Preis noch die große Schlacht mit der britischen Flotte suchte?
Wenn der Krieg nach innen in Gestalt vermeintlicher Gesundheitsschutzmaßnahmen stetig weiter verschärft wird, wenn das Politische vollständig durch den Burgfrieden gegen das Virus ersetzt wird, wenn aus machtpolitischen Gründen ganz reale Versorgungsprobleme in Kauf genommen werden, sind wir dann im Jahr 1913 oder bereits im Jahr 1918?
Wir verfangen uns noch in den kleinsten Schritten.
Dass die Trennlinie nicht zwischen Geimpften und Ungeimpften verläuft, sondern zwischen Profiteuren und Leidtragenden der Maßnahmendiktatur; dass Solidarität nicht bedeutet, sich dem Impfbefehl zu unterwerfen, sondern gemeinsam das Recht zu verteidigen, Gesundheitsinformationen in der Arbeit nicht preisgeben zu müssen — ja, es ist gelungen, fast alle unsere Worte zu Klump zu schlagen.
Und oft fehlt die nötige Disziplin, sich nicht entlang der vorgegebenen Linien zu zerstreiten. Aber: Die Kämpfe werden an anderen Orten ausgetragen. „Striketober“ nannten sie in den USA die Arbeitsstreikwelle im Oktober 2021.
Bei den US-Gewerkschaften von Feuerwehr und Polizei stößt die Impfpflicht auf harten Widerstand. Auch bei Geimpften — die Gewerkschaften verteidigen das Recht, keine Auskunft zu Gesundheitsfragen erteilen zu müssen.
In New York ist nur noch die Hälfte der Feuerwehren einsatzbereit.
Wann, fragt man sich, werden all die Verschlechterungen für die Arbeiterklasse als solche erkannt, hier, in Deutschland?
Wenn die Impfungen die normale Gesundheitsversorgung verhindert, weil das Impfen einträglicher ist; wenn das Warten auf Arzttermine monatelang dauert; wenn es keine Ersatzbetreuung in der häuslichen Pflege mehr gibt; aber auch, wenn die CO2-Steuer sich als Teuerung durch alle Lebensbereiche fräst oder wenn Ausbildungen in Betrieben unterbrochen werden — das alles sind solche Verschlechterungen, spürbare, deutliche, aber dagegen wird (noch) nicht gekämpft.
Fast wäre zu wünschen, man könnte ein geruhsames Gedenken begehen: auf die Erfolge verweisen, die — trotz Noske — doch blieben; sich ein wenig mit den damaligen Fehlern befassen, wie dem zu großen Vertrauen zur SPD-Mehrheit, und daran erinnern, welch ungeheuren Schwung selbst eine gescheiterte Revolution in der Gesellschaft hinterlassen hat; den Mut der Kieler Matrosen preisen und dann in die politische Tagesarbeit zurückkehren. Aber das gelingt nicht.
Die Tagesarbeit fiel den Maßnahmen zum Opfer.
Der Alltag ist ein Hindernislauf mit unzähligen Hürden, Regeln, Vorschriften, Verboten; die ganz gewöhnliche bürgerliche Republik, in der man sein Wissen und seine Überzeugung zumindest noch bewahren konnte, ist verschwunden, ersetzt durch ein Notstandsregime ohne Logik und Ziel, das eine ganz reale tiefe Krise durch ein bizarres Theater ersetzt, das jedem von uns langsam die Atemluft raubt.
Unsere Kraft hängt daran, im Dunkeln zu erkennen, wie weit der Weg ist, der noch vor uns liegt.
Dabei ist die Zukunft bereits Gegenwart. Wir merken den Verfall, aber wir müssen in die Ferne blicken, um zu erkennen, was möglich wäre; welche Lebensmöglichkeiten an uns vorüberziehen, weil ein sterbendes System seine eigenen Voraussetzungen verzehrt. Blickt nach China! Wie ging der Witz über den Flughafen Berlin-Brandenburg? Eine chinesische Baufirma sei nicht zu haben, um ihn fertigzustellen, weil sich für einen halben Tag die Anreise nicht lohnt?
Unser Land braucht Hoffnung.
Es braucht Verantwortlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnung und Zukunftsperspektiven,
die nicht aus Verzicht und Chaos besteht; die auf Freundschaft mit den Völkern der Erde beruht.
Viel wird aufzubauen sein.
Und ganz gleich, was an verrückten Maßnahmen noch auf uns zukommt, welche Kapriolen noch geschlagen werden — wir wissen, dieses Spiel wird enden, und wir wissen, wohin es dann geht.
Denn eines zumindest ist klar, unabwendbar: Die großen Pläne sind bereits gescheitert. Es ist nicht gelungen, Russland und schon gar nicht China zu brechen und zu unterwerfen. Damit sind alle Pläne, über „Klimaschutzmaßnahmen“ Afrika und Lateinamerika neue Ketten umzulegen, Makulatur.
Die Vorhaben, durch schlichte Vernichtung von Produktivkräften aus einem scheiternden Wirtschaftssystem Herrschaft und Reichtum der herrschenden Klasse zu retten, wenn auch sonst nichts, erleiden Schiffbruch am selben Fels.
Subjektiv pflegen sie immer noch den Wahn vom Sieg.
Objektiv sind sie an dem Punkt, an dem das Deutsche Kaiserreich war, als die Heeresführung die Macht an Max von Baden abtreten sollte, im September 1918.
Der Berliner Teil des deutschen Kriegsministeriums liegt immer noch am Reichpietschufer. Blicken wir heute zurück ins Jahr 1918, dann blicken wir gleichzeitig nach vorn, und zurück wie nach vorn senden wir den Gruß, der an einer Bruchlinie der Zeiten angebracht ist: Immer bereit!