Deutschland wartet. Entweder auf irgendeine gesamteuropäische Lösung oder auf das Ende der GroKo oder auf neue Gesichter oder neue Ideen. In diesem Sinn hat Peter Altmaier auf seinem Disney und Bildungstrip durch das allmählich etwas museale Silicon Valley gerade eben die deutsche Haltung zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) deutlich gemacht: „Bevor man Entscheidungen trifft, wie wir den Rückstand aufholen, sollte man sich einen Kompass schaffen.“ Entschlossenheit, wohl gar die Einsicht, dass andere Länder uns in Sachen KI gerade abhängen, klingt anders.
Bezüglich KI und Big Data haben wir es uns zwischen zwei Polen gemütlich gemacht. Den einen besetzen KI-Lobbyisten. Sie nerven mit hohlen Parolen der Sorte: Die digitale Transformation muss in Politik und Industrie ganz oben rangieren. Man muss die Menschen abholen, denn Angst ist ein schlechter Berater. Einzelne Bullshit-Jobs werden sicherlich verloren gehen, aber an anderer Stelle entstehen ja neue.
Am anderen Pol fordern Altlinke, Romantiker und Abermillionen sympathisch überforderter Zeitgenossen: Weg mit KI, Strahlung, FBI- und NSA-Kontrolle, Deppen-Apps und dem drohenden kybernetischen Sklavenstaat.
Wie üblich sucht man bei uns zwecks allgemeiner Beruhigung nach einem Kompromiss. Aber bei KI funktioniert das GroKo-Valium nicht. Nichts illustriert unser Dilemma besser als der Umgang mit dem autonomen Auto, für das eine Menge High-Tech aus Deutschland kommt. In Kalifornien reagiert man mit ungläubigem Staunen, dass wir dann doch vorhandene Autos mit Radar und Sensoren voll stopfen wollen. Beim autonomen Auto geht es aber darum, in allen Aspekten radikal anders zu denken und zu agieren, und zwar beim Fahrzeugbau, bei Batterien, bei allen Technologien bis hin zu Design und Marketing.
Das zu Jahresbeginn erschienene Buch „Die Bit-Revolution — Künstliche Intelligenz steuert uns alle in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“ von Gernot Brauer sorgt seitdem für reichlich Diskussionsstoff. Zum Thema KI hat ihn der Autor dieses Beitrags interviewt.
Wolf Reiser: Gerade besuchte Peter Altmaier, Deutschlands oberster Wirtschaftsmann, Palo Alto, eine Art IT-Akropolis. Die Musik spielt nämlich längst in Israel, London, China. Doch selbst in diesen Ländern hinken wir der aktuellen Entwicklung hinterher. Befindet sich Deutschland im Zustand digitaler Realitätsver¬weigerung?
Gernot Brauer: Nicht in der Wissenschaft, aber weithin im politischen Alltag. Das hat Züge von Absurdität. Längst schon steuert uns die Künstliche Intelligenz, doch die deutsche Politik nimmt diese digitale Revolution einfach zu wenig zur Kenntnis. Wir sind ja soooo beschäftigt: Allein für das Ende der Kohleverstromung und ihren Ersatz brauchen wir 20 Jahre und 40 Milliarden Euro. Unterdessen ist der wahre Umsturz längst im Gang: die digitale Revolution.
Ein kleines Beispiel für die Sintflut, die sie auslöst und die wir allzu gern übersehen: Wenn in ein Fußballstadion alle zwei Sekunden Wasser getropft würde, erst ein Tropfen, dann zwei, vier, acht und immer so weiter die doppelte Menge — wie lange würde es dauern, bis die riesige Betonschüssel voll ist? Nicht einmal zehn Minuten. So läuft die digitale Revolution. Sie hat aber weder eine „Friday for Future“-Lobby, noch machen die Parteien den Eindruck, ihre ganze Dramatik begriffen zu haben.
Was für Chancen haben wir zwischen dem Silicon Valley und China?
Wir leben in der Tat zwischen America first und China first und haben wenig Aussicht, dass sich im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz daran noch irgendetwas ändert. Allein IBM hält mehr als tausend KI-bezogene Patente, Microsoft etwa 500, Google 200, China und Japan rangieren mit je circa 750 KI-affinen Patenten auf Platz 2 nahezu gleichauf. Wir haben Siemens und SAP, für die ich eine Lanze breche, denn man hat dort für die KI eigene Leitlinien entwickelt und für den ethischen Umgang mit KI einen eigenen wissenschaftlichen Beirat geschaffen.
Und ja: Auch die seit 2018 gültige europäische Datenschutzgrundverordnung fußt wesentlich auf deutschen Gesetzen. Inzwischen hat sich ein Ethik-Kodex entwickelt, auf den sich langsam auch Gerichte beziehen.
Ist der absehbare Verlust von Millionen Jobs hierzulande ein Thema oder ist es besser, die Bevölkerung nicht zu verunsichern
Bis 2035 dürfte die KI allein in den USA im Finanzbereich, der Verwaltung, Logistik und dem Speditionswesen jeden zweiten Job kosten. Höher noch ist der Wegfall bei Datenerhebung und Datenverarbeitung, bei Maschinenbedienern und vergleichbaren Routinejobs. Wer dagegen hält, dass der Anteil der Hochqualifizierten von 40 auf 50 Prozent steigen wird, dem muss klar sein, dass das diesen gewaltigen Aderlass nicht wettmachen kann. In China dürfte der Jobverlust in dieser Zeitspanne fast 400 Millionen Menschen betreffen, in Indien 230 Millionen, in Japan und Russland jeweils 35 und in Deutschland wohl 18 Millionen. Das müsste in der Politik alle Alarmglocken anschlagen lassen. Müsste — denn dass es ein Klimakabinett gibt, aber kein Digitalkabinett, das ist für mich ein schwer fassbarer Skandal.
Wenn so viele Jobs wegfallen: Wer steuert den Ablauf? Wer finanziert ihn und was bedeutet das für uns?
Das weiß noch niemand. Nur eines scheint sicher: Von Freizeit gebeutelt werden wir Menschen kaum sein. Denn es gibt wohl nur eine Antwort: lebenslanges Lernen. Nahezu jeder wird künftig einige Zeit des Jahres auf der Schulbank oder in Seminaren verbringen. In dieser Zeit wird er kein Geld verdienen können. Deshalb dürfte jenseits aller ideologischen Debatten an einer Art staatlich garantiertem Grundeinkommen kein Weg vorbei gehen. Ob man dazu Roboter zur Steuerpflicht heranziehen wird, ist zweitrangig. Wenn man sie richtig programmiert, werden sie zu hundert Prozent zustimmen.
Sind wir auf lebenslanges Lernen richtig vorbereitet?
Keineswegs. Jeder von uns sollte umgehend seine Komfortzone räumen. Dass man den Mut haben muss, verkrustete Bildungssysteme durch zeitgemäßere zu ersetzen, haben andere Länder uns vorgemacht. Finnland hat schon vor Jahrzehnten sein Kultusministerium und seine Schulverwaltungen abgeschafft. Alle frei gewordenen Planstellengelder kamen den Schülern zugute. Eine Kommission kluger Leute legt lediglich die Lernziele fest, die die Schüler von heute in 15 Jahren befähigen sollen, dann als junge Erwachsene erfolgreich zu sein. Den Rest entscheidet jede Schule im Dialog mit den Eltern und Schülern. Schulen sind dort übrigens den ganzen Tag bis spät in den Abend geöffnet und fördern den gesunden Wettbewerb. Er führt dazu, dass finnische Schüler regelmäßig zur Spitze Europas gehören. Unser Bildungssystem erweist sich für die digitale Zukunft noch als unzureichend. Das ist der nächste Skandal.
Wie bewerten Sie das Vordringen von KI in die Schulen und was raten Sie im Umgang mit dem massenhaften Datenzugriff auf die ganz jungen Menschen?
Ob man es mag oder nicht: Der massenhafte Datenzugriff auf die ganz jungen Menschen beginnt mittlerweile schon lange vor der Schule. Er prägt den Alltag schon von Kindern. Sie zu einem zugriffsfreien, also datenfreien, also computerlosen Leben zu verdonnern, wäre absurd. Die Schule muss die Kids für alle Belange des realen Lebens fit machen. Früher waren dort schon Rechenschieber und Logarithmentabellen tabu. Wer 2034, also 15 Jahre von heute, lebenstüchtig sein soll, muss mit allen digitalen Tools umgehen können und gerade dadurch auch deren Gefahren und Grenzen erkennen.
Wenn sich Google und Co. in den Schulen einnisten, erleichtert ein tabugestütztes Wegschauen ihnen die subtile Unterwanderung. Wir sollten uns, was sie uns anbieten, aber sehr genau anschauen, das Nützliche nutzen, aber dabei auch lernen, den Verführungen dieser Datenkraken standzuhalten. Das gilt für die Zeit vor der Schule, in der Schule, neben der Schule und für das ganze weitere Leben.
Die KI hat auf dem Sektor Gesundheit enorme Pluspunkte gesammelt. Sehen Sie das auch so?
Die KI nützt uns auf sehr viel mehr Gebieten, als ich aufzählen könnte. In der Tat steht das Gesundheitswesen dabei ganz weit oben. Was die Datentechnik dort ermöglicht, hat voraussichtlich wahrhaft revolutionären Charakter. Mit Computerhilfe entschlüsseln wir die Biologie, die Grundlagen unseres Lebens und unserer Krankheiten. Computer verwandeln alles in Zahlen. Folglich können wir auch uns selbst als Datenfaktum wahrnehmen. Insofern ist der Mensch eine Rechenaufgabe.
Die Datenkraken haben das begriffen. Facebook entwickelt derzeit einen menschlichen Atlas, der alle Körperzellen kartografiert und so neue Medikamente ermöglicht. Google untersucht auf Fotos Hautkrebspunkte und den Zusammenhang zwischen Depressionen und vorhersehbaren Herzinfarkten. Amazon arbeitet an virtuellen Arztbesuchen und Patientendatenbanken. Für das, was die KI bereits jetzt in der Medizin leistet, nur zwei Schlaglichter: Es gibt drei Formen von Diabetes. Das ließ sich nur maschinell aus Big Data ermitteln. Die DNA-Sequenzierung eines Gehirntumors hat kürzlich ein IBM-KI-System schneller interpretiert als ein ganzes Team menschlicher Experten. Und die Biological Computation Group in Cambridge sagt voraus: Vorstellbar ist ein molekularer DNA-Computer, der in einer Zelle Krebs erkennt und ihr dann, um sie auszuschalten, den Selbstmord befiehlt.
Richtungswechsel: die dunkle Seite von KI bedeutet Bespitzelung und Plünderung. Wie also umgehen mit Datenkraken, vor denen uns selbst einer ihrer Ex-Manager warnt?
Von Datenethik war schon kurz die Rede. Sie bedeutet, was legal ist, ist noch längst nicht legitim. Anders gesagt: Nicht alles, was erlaubt ist, gehört sich auch. Facebook zum Beispiel arbeitet legal, aber macht süchtig. Ein Ex-Manager dieses Unternehmens hat das als Teil der offiziellen Firmenpolitik zugegeben.
Ein Social-Media-Junkie wird stets erklären, jeder post und jedes like sei schließlich freiwillig. Aber Süchtige können zwischen Selbstvermessung und Selbstversklavung eben nicht unterscheiden — so wenig wie Alkoholiker. De facto sind unsere Kids jeden Tag etwa acht Stunden täglich online und blicken dabei bis zu fünftausendmal auf ihr Smartphone. Das erinnert schon an eine Sucht. Wenn wir uns nicht konsequent einmischen, verteilen die Big-Five-Konzerne ihren Stoff weiter im Schulhof, als sei er ein harmloses Pausenbrot.
Nahezu alles zu posten, ist für die Kids völlig normal. Wollen sie, wollen wir überhaupt noch Intimes? Oder erlöst die Gewohnheit, alles zu offenbaren, von einer Art Doppelmoral?
Der Wunsch nach Privatheit scheint in der Tat zu einer Generationenfrage zu werden. Die Älteren, die auch die Europäische Datenschutzgrundverordnung erarbeitet haben, fordern sie ein und versuchen, die Schürfrechte am eigenen Leben zu schützen. Die Generation Smartphone zuckt eher die Achseln; sie kennt es nicht anders und es ist ihr auch egal. Edward Snowden sagte schon 2014:
„Ein heute geborenes Kind wird nicht mehr wissen, was Privatleben ist.“
Ein Dozent veröffentlicht schon seit 2006 auf seiner Webseite nicht nur jede Vorlesung und Rede, die er hält, sondern auch jeden Flug, den er bucht, bis hin zur Nummer seines Sitzplatzes. Denn er ist davon überzeugt, der greifbare Mehrwert aus solchen Mitteilungen sei größer als alle damit verbundenen Risiken. Transparenz und selbst bestimmte Handlungsfähigkeit, sagt er, schützten am ehesten vor dem Missbrauch sozialer Daten. Ich lasse das mal so stehen.
Ihre Skepsis gegenüber dem deutschem KI-Phlegma hindert Sie nicht, die KI-Leistung eines Deutschen und seine Software Prisma Analytics sensationell gut zu finden.
Sie meinen den Deutschamerikaner Hardy Schloer. Dessen revolutionäre Software Prisma Analytics hat das Zeug, die Welt zu verändern. Ich erzähle in meinem Buch, wie sie entstand und was in ihr steckt. Sie scannt in ihrem Weltmodell alles, was Menschen erschreckt und erfreut, was sie befürchten und ersehnen, was sie wollen und tun. Sie errechnet in Millisekunden, was daraus folgt, was man also wann tun oder lassen sollte. Sie denkt für uns, schneller als wir selbst das vermögen. Das gab es noch nie.
Kaum 18 Jahre geworden, vertiefte sich dieser als Karl Otto geborene Deutsche in Kalifornien im Selbststudium in Mathematik und Physik, Philosophie, Soziologie und vor allem in Sozialpsychologie. Er wollte in der Tiefe verstehen, wie wir Menschen ticken. Sein Fazit: Kein Com-puter wird jemals so unberechenbar und gefährlich agieren wie Menschen. Seine Schlussfolgerung: KI ist sicherer, berechenbarer und humaner, also verantwortlicher einsetzbar als jemals der Mensch. Die Künstliche Intelligenz, die er schuf, extrahiert aus Billionen allgemein zugänglicher Daten die globalen Trends, die die Welt bewegen. Niemand versteht sie so clever zu nutzen wie seine noch kleine Firma.
Mit dieser Supertechnologie sehen Schloer und seine Partner die Basis geschaffen, um unseren Planeten weit intelligenter und friedlicher zu entwickeln als bisher: kooperativ, global vernetzt, für jedermann kostenlos zugänglich und politisch-ideologisch völlig unabhängig. Es ist unglaublich spannend zu sehen, was da auf uns zukommt.
Letzte Frage: werden wir durch KI Risiken reduzieren oder verfestigen? Oder bleibt einfach alles beim Alten — nur auf einer anderen hierarchischen Ebene?
Eine Antwort, die auf 500.000 Datensätzen beruht, ist einfach genauer, verlässlicher und damit besser als eine, die nur 5.000 Fälle verarbeiten kann. Unbestreitbar bringen Big Data mehr Präzision — aber für jeden. Auch der Widerpart kann die gleiche Maschinenintelligenz benutzen. Sie ist offen für alle. Wissensvorsprung als Machtmittel verliert damit seine Bedeutung — die Basis für globale Kooperation auf Augenhöhe. Das ist die größte Chance, die mein Buch ausbreitet.
Aber auch das größte Risiko der Künstlichen Intelligenz habe ich deutlich geschildert. Prognosen erwarten, dass die KI ab etwa 2035 so viel leisten kann wie unser Gehirn. Und diese Entwicklung geht dann ja weiter. Sie könnte uns sogar überflügeln. Etwa in einer Generation könnten Maschinen so intelligent und selbstständig werden, dass sie in die Lage kämen, sich dann die Menschen so zu halten, wie wir das mit unseren Haustieren anstellen.
Zugleich steckt in diesem Wettbewerb von menschlicher und maschineller Intelligenz eine unglaubliche Chance. Dann wird der Zeitpunkt gekommen sein, an dem man menschliches Wissen, Denken und Fühlen, also die Essenz unseres Menschseins in Computern auslagern lässt. Wenn dann ein Mensch stirbt, lebt sein Geist maschinell weiter — das computerisierte ewige Leben sozusagen.
Es gehört zu diesem unfassbaren Abenteuer, dass niemand das Tempo dieser Revolution abschätzen kann. Klar erscheint nur, dass sie uns überrollen wird. Seien wir also gewiss: Nichts bleibt beim Alten. Ob man das besser oder schlechter als die Gegenwart finden mag, muss jeder für sich selber entscheiden.