An einem der letzten Sonntage fühlte ich mich nicht richtig wohl. Also beschloss ich, den Tag auf dem Sofa zu verbringen. Beim Zappen durch das Fernsehprogramm, landete ich gleich zu Beginn bei der ARD: Dort gaben sie „Des Kaisers neue Kleider“. Vor etwa zehn Jahren haben die Öffentlich-Rechtlichen allerlei Märchen neu aufgelegt: ganz so, wie es sich für Sender gehört, die ihre Rezipienten als zu betreuende Kinderlein betrachten.
Jedenfalls landete ich in der Schlussszene, Matthias Brandt als Kaiser lief in Unterhosen über den Schlossvorplatz. Ein Junge schreit, dass der Souverän nackt sei. Für damalige Verhältnisse war halbnackt offenbar schon nackt. Erst beißt sich das Volk auf die Zunge. Der Kaiser stellt seine Bediensteten zur Rede, beschimpft sie als „Speichellecker“ und „Ja-Sager“. Dann lacht auch er. Mit ihm das versammelte Volk, der ganze Vorplatz — vermutlich das gesamte Kaiserreich, was man jedoch nicht sieht. Was für ein lustiges Spektakel. Die Moral von der Geschichte? Ganz einfach: Das Gebührenfernsehen hat lustig unterhalten. Hans Christian Andersen wollte mit seinem Märchen aber mehr als Amüsement zum Ausdruck bringen.
Arschbacken zusammenkneifen und durchziehen
Bei ihm endet die Geschichte nämlich ein wenig anders: Der Kaiser lacht nämlich nicht. Ganz und gar nicht sogar. Bei Andersen zeigt zuletzt das ganze Volk auf den kaiserlichen Nudisten. „Das ergriff den Kaiser“, so endet sein Märchen, „denn es schien ihm, sie hätten recht; aber er dachte bei sich: Nun muss ich die Prozession aushalten. Und die Kammerherren gingen noch straffer und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.“
Der dänische Erzähler malte also ein Sittenbild der Arroganz der Macht. Einmal mit einem Fehler konfrontiert, mit leidigen Tatsachen, einem Umstand, der eine Richtigstellung vor dem ganzen Volk erfordert, lacht der Machthaber nicht etwa fröhlich mit seinen Untertanen. Nein, er hält an sich — zieht es durch, wie wir modern sagen würden. Jetzt! Erst! Recht! Und die Kammerherren, die Leute im Umfeld der Macht, haben nicht etwa die Courage und berichtigen den Irrgang des Herrschers. Nein, sie kneifen die Arschbacken zusammen und tragen die Schleppe noch beherzter, stehen noch straffer zur sakrosankt gewordenen Fehlerkenntnis.
Es sagt viel über den Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten aus, dass sie die komplette Aussagekraft eines solchen Märchens aufheben und ad absurdum führen, indem sie daraus eine finale Lachnummer machen.
Auch mit so einer Neuinterpretation kann man das Wesen der Macht verklären, ja sogar aufpolieren. Das Drehbuch dieser modifizierten Geschichte will aussagen: Monarchen sind einsichtig, sie können Fehler einräumen und hören auf ihr Volk.
Schön wäre es ja. Heute wissen wir besser denn je, dass Andersen das Wesen der Macht realistisch erfasst hat. Und „das Erste“ erwies sich — schon damals, im Jahr 2010 — als Märchenerzähler. Als Sendeanstalt, die das Wesen der Macht aufhübscht.
Der nackte Infektionskaiser und die Nackten des Krieges
Der Autor Ingo Schulze hat schon vor einem Jahrzehnt auf den Tiefgang des Andersen-Märchens verwiesen. Die Pointe fiel ihm erst hernach auf. In seiner Schrift „Unsere schönen neuen Kleider“ kam er darauf zu sprechen. Untertitel des Buches: „Gegen die marktkonforme Demokratie — für demokratiekonforme Märkte.“ Schulze vertrat darin die Ansicht, eigentlich würden alle sehen, dass die schöne neue Ökonomie in Unterhosen durch die Gegend läuft. Und viele würden auch schreien, dass die Angebotsökonomen gar nichts anhaben. Was machten aber die Gralshüter der reinen Lehre? Sie sagten: Nun müssen wir aushalten.
Es konnte nicht sein, was nicht sein darf. Vor zehn Jahren waren es noch die Wirren und Ungerechtigkeiten des Neoliberalismus, die uns verwundert zurückließen. Die Fakten lagen auf dem Tisch, wir wussten, dass es so nicht weitergehen konnte. Aber verändert hat sich wenig bis nichts. Der Finanzkapitalismus erwies sich als Casino, geriet in die Krise und blieb: ein Casino.
Faktenresistenz hatte Hochkonjunktur. Im Grunde waren wir schon längst ins postfaktische Zeitalter eingetreten. Diese Floskel von der postfaktischen Zeit kam erst hernach auf, als die Amerikaner mit Donald Trump liebäugelten: Plötzlich las man, dass wir in einer Ära leben, in der Tatsachen nichts mehr bedeuten würden. Das war da schon nichts Neues mehr, schon die Neoliberalen verweigerten die Realitäten. Ja, dass der Kaiser nackt stolziert, das war zu diesem Zeitpunkt längst bekannt.
Die Themen haben sich heute geändert. Die Verteilungsfrage ist natürlich weiterhin nicht gelöst. Aber sie tritt zurück, zuerst hinter die Pandemie, jetzt hinter die Logiken eines Krieges. Trotz aller Mühen, ihn als den Krieg der anderen zu skizzieren, ist dieser aber längst in diesem Lande angekommen. Wir sehen synchron dazu dieser Tage Karl Lauterbach als nackten Infektionskaiser durch die Kanäle taumeln. Sie zeigen mit dem Finger auf ihn und er hält aus — jetzt erst recht. Der Westen führt Krieg gegen ein Land, das ein anderes Land angegriffen hat: und das, obgleich er es in den letzten Dekaden ähnlich hielt. Wer die Nacktheit ausruft, sieht dabei zu, wie die Nackten so tun, als trügen sie weiterhin Hosen.
Entblätterung als feiner Zwirn
Vermutlich nie zuvor war das postfaktische Denken so etabliert, wie in den letzten Wochen und Monaten. Die krude Logik, die ja gar keine Logik ist, sondern das blanke Gegenteil: unlogisches Festhalten am Wahnsinn, eine mentale Unordnung — ja diese „Logik“ wird durchaus durchschaut. Etliche halten auch fest, dass hier geistige Nackedeis am Werk sind. Aber je deutlicher man das macht, desto mehr erklären sie die eigene Entblätterung zum feinen Zwirn. Und die, die dabeistehen, bewundern sie dabei, würden die Schleppe tragen, wenn jemand heute noch Schleppen trüge.
Wir wissen mittlerweile zum Beispiel, dass die Impfung keinen Fremdschutz erzeugt. Lange hat man uns erzählt, dass genau das ihre Funktion sei. Deswegen wollte man eine allgemeine Impfpflicht installieren, hat in bestimmten Einrichtungen gar eine vorgeschrieben. Dennoch wirbt das Bundesgesundheitsministerium weiter mit dem Fremdschutz — es tut so, als trage es Kleider: wider aller Evidenz, entgegen aller Fakten und wissenschaftlichen Auswertung.
Die einrichtungsbezogene Impfpflicht wird damit im Grunde überflüssig: Aber der Gesundheitsminister wartet zu, tut so, als möchte er sie verlängern: Vielleicht merkt ja keiner, dass er nackt ist?
Dieser Hang zur Nacktheit, dem man mit der Attitüde des Durchhaltens begegnet, findet sich in vielen Bereichen. Eben auch am Rande des Ukraine-Krieges. Klar ist, dass die Ampelkoalition auf Druck der US-amerikanischen Administration Deutschland deindustrialisiert, wirtschaftlichen Schaden forciert. Aber wie jener Kaiser im Märchen behält man die Haltung, Brust raus, Kinn nach vorne und tut so, als habe man die Situation im Griff. Die Ampel trägt den feinen Zwirn der Ignoranz, den Machthaber sich stets dann anlegen, wenn die Situation aus dem Ruder gerät.
Dem herrschenden Wahnsinn geht es darum, die nackte Wahrheit nicht an sich heranzulassen. Und so wichtig eine Propaganda ist, die diese Wahrheit außer Kraft setzen möchte, so wichtig ist ebenso die richtige Haltung. Eine, die ignoriert, wegsieht und es aushält. Selbst wenn das Volk lacht, wenn es darlegt, dass die politische Macht aus Schwachköpfen zu bestehen scheint, bleibt sie in der Rolle der Unantastbarkeit — ja gerade dann. Und da der Medienbetrieb lediglich damit beschäftigt ist, die Schleppen des unsichtbaren Ornats zu halten, sehe ich keine Aussicht auf Entblößung derer, die uns regieren.