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Nach der NATO

Nach der NATO

Eine Welt ohne das aggressive Militärbündnis scheint bisher nur ein Traum zu sein — träumen wir ihn!

Vorbemerkungen

Wer auch immer die Abschaffung der NATO oder Schritte in diese Richtung fordert, sieht sich dem sich „realistisch“ nennenden Argument gegenüber, dies sei eine Utopie und der vergebliche Versuch, das Denken des Undenkbaren zu proben. Vergessen oder verdrängt wird dabei, dass die Gründung der NATO ein Akt politischen Willens war, sie also durch politischen Willen auch wieder abgeschafft werden kann. Zwar hat die NATO in der Hochphase der Systemkonkurrenz und der beiderseitigen Hochrüstung durch die Aufrechterhaltung des „Gleichgewichts des Schreckens“ eine labile Situation des Nichtkrieges zwischen den Supermächten zu erhalten vermocht. Dies dank des rationalen Verhaltens beider Seiten in einer von Grund auf irrationalen und extrem instabilen Situation.

Vergessen wird oft, dass es diese Situation der zigfachen Fähigkeit zur gegenseitigen und planetarischen Vernichtung war, die zu ihrer rationalen Bearbeitung — dem KSZE-Prozess — führte. Dieser trug, hauptsächlich über seinen Korb III (Menschenrechte, Meinungsfreiheit) wesentlich zur Implosion des von der Sowjetunion geführten Lagers bei. Der Höhepunkt dieses Prozesses, die Charta von Paris aus dem Jahre 1990, auf die zurückzukommen sein wird, eröffnete die Chancen für eine neue Weltordnung, wie sie sogar der damalige US-Präsident George Bush am Vorabend des 2. Golfkrieges umriss:

„Aus diesen schwierigen Zeiten kann unser fünftes Ziel — eine neue Weltordnung — hervorgehen. Eine neue Ära, freier von der Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. Hundert Generationen haben nach diesem kaum auffindbaren Weg zu Frieden gesucht. (…) Heute kämpft diese neue Welt, um geboren zur werden, eine Welt, die völlig verschieden ist von der, die wir kannten. Eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt. (…) eine Welt, in der der Starke die Rechte des Schwächeren respektiert“ (1).

Zwanzig Jahre sind seit diesem denkwürdigen Bekenntnis vergangen. Wie aber steht es seither mit der Sicherheit des Planeten?

1. Sicherheit — eine Utopie?

Gut und böse

Mit einem Unterton der Lächerlichkeit werden gesellschaftspolitische Gestaltungsvorschläge als Utopien abqualifiziert, wenn sie den Interessen der Herrschenden widersprechen. Doch Utopien sind oft Wirklichkeit geworden. Thomas Hobbes Entwurf von einem — autoritären — Staat, in dem der Zustand der Anarchie, die Gewalt aller gegen alle, durch ein staatliches Gewaltmonopol abgelöst werden sollte, wurde zur Basis des absolutistischen Staates — und aller seiner Nachfolger bis heute.

War nicht auch — vor noch gut zweihundert Jahren — die Errichtung der Demokratie eine Utopie? Sie wurde erkämpft in der französischen Revolution und im amerikanischen Unabhängigkeitkrieg und gilt heute als Zielmarke legitimer Staatlichkeit schlechthin. Erschien nicht, vor nur gut zwanzig Jahren, das Ende der Bipolarität und die mögliche Schaffung einer Friedensordnung in Europa als Utopie?

Wird nicht durch das reale Verhalten der Staaten die Charta der Vereinten Nationen ins Reich der Utopie verwiesen — obwohl sie geltendes Völkerrecht ist, entstanden aus den Erfahrungen der Gräuel des 2. Weltkriegs und dem Willen der Völker, den Krieg als Mittel der Politik endgültig zu ächten. Nicht zufällig sind die Planung und Durchführung eines Angriffskrieges im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet worden. Nicht zufällig ist auch, dass genau diese Formulierung Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gefunden hat.

Vor dem schrecklichen Hintergrund der beiden Weltkriege erklärt die Charta der Vereinten Nationen als ihr Ziel,

„künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, (…) den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern.“

Ist damit nicht die Utopie einer Welt ohne Krieg zumindest als völkerrechtliches Prinzip verankert worden — auch wenn sich die Regierenden immer seltener an diesen Vertragstext halten, dessen Artikel 2 Absatz 4 lautet:

„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Die immerhin zur rechtlichen Norm gewordene Utopie stellt einen Meilenstein dar im Fortschritt der Menschheitsentwicklung, zu einem Mehr an Zivilisation. Die in der UN-Charta festgeschriebene „Utopie“ einer Welt ohne Krieg hat ihre Wurzeln in der Philosophie des großen Aufklärers Immanuel Kant, der erkannte, dass nur die Abschaffung militärischer Drohpotenziale dauerhaft den Frieden sichern kann. In seinem — utopischen? — Traktat „Vom Ewigen Frieden“ benannte er die Voraussetzungen, unter denen die Menschheit sehr wohl zu einem auf Vernunft gegründeten, allgemein gültigen Frieden finden kann. Dazu der Präliminarartikel 3:

„,Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören.‘
Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg; durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in der Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden (…)“
(2).

Um wie viel mehr muss diese Forderung gelten für „Verteidigungsbündnisse“, deren geballte Macht ja noch viel bedrohlicher ist als die von Einzelstaaten! Militärbündnisse stellen durch ihre schlichte Existenz eine Bedrohung für all jene dar, die nicht zu ihren Mitgliedern zählen. Daraus resultiert die logische Argumentation, dass das die Welt dominierende Militärbündnis, die NATO, nicht aus moralischen Gründen, sondern um der internationalen Sicherheit willen abzuschaffen wäre.

Denkbar wäre die Selbstauflösung des Bündnisses durch Beschluss seiner Mitglieder oder aber sein schrittweiser Abbau. Dieser könnte entweder eingeleitet werden durch den Austritt von Mitgliedern, wie in Artikel 13 des NATO-Vertrages vorgesehen. Oder aber durch die Stärkung der UN und die Entwicklung und Aufwertung regionaler Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheitssysteme, damit das inzwischen weltweit seine Nicht-Mitglieder bedrohende und diese zur Aufrüstung anstachelnde Bündnis obsolet gemacht würde.

2. Die NATO

Ein Blick zurück ist unverzichtbar, um an den Sinn und Zweck dieses Bündnisses zu erinnern. Die NATO wurde schon sehr früh, im Jahre 1949 militarisierter Ausdruck des sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelnden Systemkonflikts zwischen zwei unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen (3): Der Marschall-Plan gewährleistete den Wiederaufbau Westeuropas unter kapitalistischen Bedingungen, zugleich aber vermochte er es dadurch, die westlichen Gesellschaften an die USA zu binden.

Der politische Ausdruck des sich herausbildenden bipolaren Systems war die Truman-Doktrin vom 12. März 1947, die den Antagonismus der unvereinbaren Ordnungen ausformulierte, indem sie „Freiheit“ gegen „Totalitarismus“ setzte und damit die Containment-Politik der USA begründete, die zum Fundament des Kalten Krieges wurde. Kernsatz dieser Doktrin war:

„Wenn sie freien und unabhängigen Nationen helfen, ihre Freiheit zu bewahren, verwirklichen die Vereinigten Staaten die Prinzipien der Vereinten Nationen.“

Der Truman-Doktrin folgte 1949 die Gründung des Nordatlantik-Pakts. Die Sowjet-Union als der schwächere Gegenpol versuchte ihrerseits Mitglied im Bündnis zu werden, um so zu vermeiden, dass dieses zur Bedrohung würde. Als dies abgelehnt wurde, zögerte die UdSSR lange, ihrerseits ein entsprechendes Bündnis als militärisches Gegengewicht gegen die NATO zu schaffen, möglicherweise weil sie sich der destabilisierenden Folgen eines Gegen-Bündnisses bewusst war. Zugleich forcierte sie jedoch angesichts der wahrgenommenen Bedrohung durch die NATO ihrerseits die Aufrüstung.

Als die Mitgliedschaft der unter Verletzung des Potsdamer Abkommens geschaffenen Bundesrepublik Deutschland (4) auf die internationale Tagesordnung gesetzt wurde, versuchte Josef Stalin die Remilitarisierung Deutschlands und seine Eingliederung in die NATO zu verhindern, indem er die Aufstellung — begrenzter — deutscher Streitkräfte, die Wiedervereinigung Deutschlands und freie Wahlen anbot, jedoch die Neutralisierung eines solchen vereinigten Deutschlands forderte.

Zusammen mit dem blockfreien Jugoslawien, den neutralen Staaten Österreich, Schweiz, Schweden und Finnland wäre so ein Cordon sanitaire zwischen den Blöcken in Europa entstanden — ein Vorschlag, den der damalige polnische Außenminister Adam Rapacki entwickelt und 1957 der UN-Vollversammlung präsentiert hatte und der später vom schwedischen Premier Olof Palme wieder in die Diskussion gebracht wurde. Selbst in der CDU stießen Stalins Vorschläge damals auf großes Interesse, doch Kanzler Adenauer setze sich schließlich mit seinem proamerikanischen Kurs durch: Die Stalin-Noten wurden von den westlichen Regierungen geschlossen abgelehnt.

Der Beitritt der BRD zur NATO im Jahr 1955 war dann im gleichen Jahr Anlass für die Sowjetunion, ihrerseits einen Militärpakt zu gründen: die Warschauer Vertragsorganisation (WVO). Die Militarisierung des Systemkonflikts war perfekt.

Doch war die NATO wirklich nur ein nach außen gerichtetes Bündnis zur Verteidigung gegen eine reale oder vermeintliche Bedrohung aus dem Osten? 1949 war die Sowjetunion, die mit über 20 Millionen Kriegstoten und der nahezu totalen Zerstörung ihrer Infrastruktur die Hauptlast des Krieges gegen Nazi-Deutschland getragen hatte, keine die USA bedrohende militärische Macht.

Zu wenig wurde bisher die innenpolitische Dimension der NATO-Gründung beachtet, obwohl doch gerade die Truman-Doktrin den Systemkonflikt zwischen den antagonistischen Gesellschaftsordnungen benannte: Nicht nur in Griechenland und der Türkei waren kommunistische Parteien und Bewegungen stark, das galt auch in Westeuropa, wo in Italien die kommunistische Partei nahe daran war, eine demokratisch legitimierte Mehrheit zu erreichen, wo in Frankreich ein starke kommunistische Partei gegen die Restaurierung einer freien kapitalistischen Ordnung stand.

Vor diesem Hintergrund erhebt sich die Frage, ob nicht gerade die Furcht vor einem Systemwandel in Westeuropa mit maßgeblich war für die Gründung des Nordatlantikpakts, zeigt doch der Wechsel vom Morgenthau-Plan zum Marschall-Plan einen grundsätzlichen Paradigmen-Wandel der US-Außenpolitik gegenüber Europa.

Diese These wird erhärtet durch die von den USA veranlasste Gründung militärischer Geheimorganisationen wie Gladio (5). Ihre Anfänge gehen immerhin auf das Jahr 1940 zurück (6). 1947 — gleichzeitig mit der Verkündung der Truman-Doktrin — beginnt die neu gegründete CIA mit dem Aufbau von „Stay behind Armies“ in West-Europa (7).

Der Aufbau dieser Organisationen beruht auf der Direktive des National Security Council der USA vom 18. Juni 1948, mit der ein „Büro für Spezielle Projekte“ geschaffen wurde, das verdeckte Operationen durchführen sollte „auf den Gebieten der Propaganda, der wirtschaftlichen Kriegführung, der vorbeugenden direkten Aktionen wie Sabotage, Sabotageabwehr, Zerstörungen (…)“ (8).

Unmittelbar nach Gründung der NATO wurde dieses Instrument, das in Zusammenarbeit mit dem britischen MI6 der Abwehr kommunistischer Umstürze in Westeuropa dienen sollte, unter dem Namen „Clandestine Planning Committee (CPC)“ in die NATO integriert. Die CPC unterhielt ihre geheime Kommandostelle im NATO-Hauptquartier im belgischen Mons. Wo immer Gladio-(ähnliche) Strukturen aufgedeckt wurden, wie in Deutschland, Österreich, Spanien, der Schweiz, der Türkei und vor allem Italien, ergaben sich Verbindungen zu rechtsextremen Organisationen, Geheimdiensten und zum Teil zur Mafia. Dies entbehrt insofern nicht einer gewissen Logik, ging es doch darum, die demokratische Machtübernahme oder auch Koalition von bürgerlichen Parteien mit der Linken zu verhindern und damit vor allem die bestehende wirtschaftliche Ordnung zu verteidigen.

Sowohl in Italien wie in der BRD griff die Organisation auf alte faschistische Strukturen zurück (9). Beteiligt war auch der aus dem Nazi-Spionage-Dienst „Fremde Heere Ost“ hervorgegangene deutsche Bundes-Nachrichten-Dienst. Auch im neutralen Österreich war Gladio aktiv und blieb es auch nach dem Abschluss des Staatsvertrages, in dem sich Österreich neutral erklärt hatte. Einer der Schwerpunkte von Gladio war Italien, wo die Organisation sowohl mit den Geheimdiensten wie mit (neo-)faschistischen Organisationen und der Mafia zusammenarbeitete (10). Die Strukturen von Gladio in Deutschland, wo der rechtsgerichtete Bund Deutscher Jugend in das Netzwerk verwickelt war, sollen 1991 endgültig aufgelöst worden sein (11).

Dass es sich bei diesen extrem knappen Hinweisen nicht um verschwörungstheoretische Unterstellungen handelt, beweist die Tatsache, dass das Europäische Parlament nach einer Debatte am 22. November 1990 eine Entschließung verabschiedete, in der es scharf dagegen protestierte, dass

  • seit vierzig Jahren in mehreren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft eine geheime Organisation für Nachrichtenübermittlung und bewaffnete Aktionen existiert,
  • sie von den Geheimdiensten der betreffenden Staaten in Zusammenarbeit mit der NATO geleitet wurde,
  • militärische Geheimdienste (oder von den Diensten nicht kontrollierte Geheimdienstzweige) in bestimmten Mitgliedsländern mit schwerwiegenden Terrorakten und Verbrechen in Verbindung gebracht werden, wie in mehreren gerichtlichen Ermittlungen erwiesen werden konnte,
  • sich die verschiedenen Abteilungen von „GLADIO” aus militärischen Arsenalen und Strukturen versorgen, die autonom sind und somit eine unbekannte und für die demokratischen Strukturen der Länder, in denen sie operieren oder operiert haben, gefährliche Angriffskapazität beinhalten,
  • sich bestimmte amerikanische Militärkreise des SHAPE (Supreme Headquarters Allied Powers Europe) und der NATO das Recht angemaßt haben, in Europa eine geheime Infrastruktur zur Übermittlung von Nachrichten und Durchführung von Aktionen zu schaffen (12).

Die Existenz von Gladio, die weitere umfangreiche Recherchen wert wäre, unterstreicht die These, dass die NATO eben nicht ein rein militärisches Verteidigungsbündnis gegen eine — damals allenfalls in Ansätzen existente — militärische Bedrohung aus dem Osten war, sondern eine Organisation, zu deren Kernaufgaben schon vor Gründung der Atlantischen Allianz der Erhalt der kapitalistischen Ordnung im Einflussbereich der USA gehörte.

Diese These erklärt auch, warum das „Verteidigungsbündnis“ mit der realen Implosion des Sozialismus und dem Ende der Bipolarität nicht abgeschafft wurde, sondern nach 1990 neue Aufgaben übernahm wie die — militärisch durchgeführte — Neuordnung auf dem Balkan (13), die Sicherung der (Erdöl-)Transportwege am Horn von Afrika mittels der Operation Enduring Freedom und den Krieg in Afghanistan, der seinerseits den Bau von Pipelines vom dem Kaspischen Becken zum Indischen Ozean sichern soll.

So spricht viel für die These von Jürgen Wagner, dass die NATO für „eine völlig neue Form der Kolonialpolitik“ steht, wie sie durch die Kriege auf dem Balkan, in Irak und Afghanistan realisiert werde (14). Als Beleg für seine These zitiert er unter anderem Carlo Masala von der NATO-Verteidigungsakademie:

„Nach erfolgreicher militärischer Intervention werden die ‚eroberten’ Gebiete in Protektorate umgewandelt, und die westliche Staatengemeinschaft ist darum bemüht, liberale politische Systeme, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft in diesen Gebieten einzuführen.“

Zusammenfassend kann daher festgestellt werden: Die offiziellen Begründungen für die Existenz der NATO während der ersten vierzig Jahre ihres Bestehens sind inzwischen entfallen. Kommt erst jetzt ihre wahre Natur zum Vorschein? Die Ziffern 24 und 25 des neu definierten strategischen Konzepts legen fest:

„24. Im Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Gebiet der Bündnispartner, aus welcher Richtung auch immer, finden Artikel 5 und 6 des Vertrags von Washington Anwendung. Die Sicherheit des Bündnisses muss jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen (…).“

„25. Das Bündnis ist einem breit angelegten sicherheitspolitischen Ansatz verpflichtet, der die Bedeutung politischer, wirtschaftlicher, sozialer und umweltpolitischer Faktoren neben der unverzichtbaren Verteidigungsdimension anerkennt (…)“ (15).

In diesen Vereinbarungen ist alles enthalten, was die NATO, einst als regionales System der kollektiven Verteidigung vorgestellt, zukünftig als sicherheitsrelevant und als ihre Aufgabe definiert: „Neue Risiken“ jedweder Art unter Einschluss wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Probleme, der Migration, des Terrorismus und der internationalen Kriminalität bis hin zur Cyberkriminalität (16) — und dies weltweit, und, wie der NATO-Generalsekretär behauptet, im Dienste und zum Nutzen der Vereinten Nationen (17).

Es mutet geradezu grotesk an, dass die durch die zügellose kapitalistische Produktionsweise — weltweit — hervorgerufenen Probleme nun zum Gegenstand militärischer Konfliktbearbeitung gemacht werden sollen, beziehungsweise dass, zugespitzt formuliert, die durch den Neoliberalismus produzierten Probleme keinesfalls zivil bearbeitet werden, sondern dass ihre Folgen erschossen werden sollen.

3. Welt ohne NATO?

Mit dem beginnenden Abstieg und allmählichen Zerfall der Sowjetunion und der Außenpolitik Michail Gorbatschows schien das Ende des bipolaren Systems endgültig erreicht, und die Unterzeichnerstaaten der Charta von Paris (18), die den Schlusspunkt jener am 1. August 1975 begonnenen „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ setzte, stellten am 21. November 1990 unter Berufung auf die Prinzipien der UN-Charta und unter Betonung der Regelungen in Artikel 2 der Charta (Gewaltverbot, Souveränitätsprinzip) fest:

„(…) Nun, da Europa am Beginn eines neuen Zeitalters steht, sind wir entschlossen, die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Staaten Europas, den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada auszuweiten und zu festigen sowie die Freundschaft zwischen unseren Völkern zu fördern. (…) In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. (…)

Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.“

Beschlossen wurde also die Schaffung eines regionalen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Die wechselseitige und gemeinsame Sicherheit sollte gewährleistet werden durch die aus den KSZE-Verhandlungen hervorgegangene Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).

Damit war die NATO ebenso obsolet geworden wie die WVO, die sich in der Folge dieses Prozesses auflöste. Unter Europa wurde jenes geographische Europa „vom Atlantik bis zum Ural“ verstanden, dem Russland fraglos angehört.

Trotz der immer wieder betonten transatlantischen Bindungen und auch der Mitgliedschaft der USA und Kanadas in der zu errichtenden OSZE wurde Europa als eigenständiger Akteur gesehen, denn die Rolle der USA wurde eher als Begleiter denn als Kern dessen verstanden, was dann in den Medien euphorisch als „das gemeinsame Haus Europa“ gefeiert wurde, erklärte doch die Charta:

„Wir wollen ein Europa, von dem Frieden ausgeht, das für den Dialog und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern offen und zum Austausch bereit ist und das mitwirkt an der Suche nach gemeinsamer Sicherheit.“

Die Verwirklichung dieser Prinzipien und Zielvorstellungen hätte eine Zäsur in der Weltgeschichte darstellen können: Europa als eine eigenständige und vor allem als eine friedensorientierte Kraft, in der die ehemaligen europäischen Mitgliedsstaaten der NATO und der WVO ihren Platz gefunden hätten.

Jedoch legte bereits der fast zeitgleich abgeschlossene 2+4-Vertrag, der Resultat der Auflösung der Blöcke war und als späte Erfüllung des Potsdamer Abkommens einen Friedensvertrag der Alliierten mit Deutschland darstellte, die Grundlage für die Demontage des erst auf dem Reißbrett entworfenen „gemeinsamen Hauses“: Laut diesem Vertrag wurde die ehemalige DDR, die ja der BRD beitrat, Teil des NATO-Gebiets, auch wenn — zumindest bis 1994 — auf ihrem Territorium nur das deutsche Territorialheer, also keine in die NATO integrierten Verbände stationiert werden sollten (19).

Schon wenige Monate nach Auflösung der WVO verabschiedeten die NATO-Staaten auf ihrem Gipfel in Rom im November 1991 ein neues strategisches Konzept. Sie bekräftigten darin die Doktrin der Abschreckung — gegen wen? — und die Option des Bündnisses auf den Ersteinsatz von Atomwaffen (20).

Hier lastet eine schwere Verantwortung auf den Regierungen der europäischen Staaten, die es vorzogen, unter dem Dach der US-Dominanz zu verbleiben, statt die Chance zum Bau eines genuin europäischen Hauses wahrzunehmen, wie es Charles de Gaulle schon Anfang der 60er Jahre mit seiner Vision eines Europas vom Atlantik bis zum Ural postuliert hatte.

So stellt die NATO mit ihrer neu definierten globalen Zuständigkeit nicht nur eine Bedrohung für den Rest der Welt dar, sie zementiert auch weiterhin einen Ost-West-Gegensatz, der mit der Implosion der WVO und dem Übergang Russlands zu einer prekären Demokratie — die in vielen anderen osteuropäischen Staaten und neuen NATO-Mitgliedern keinesfalls perfekter ist — und einer brutalen Marktwirtschaft im Kern obsolet geworden ist.

Tatsache ist: Den Systemgegensatz gibt es nicht mehr. Die Ausgrenzung Russlands erscheint daher eher als Pflege eines Feindbildes zu dienen, das in der Vergangenheit gute Dienste geleistet hat, nun aber ein Sicherheitsdilemma aufrecht zu erhalten sucht, das historisch überholt ist. Die Absurdität dieser Konfrontation — selbst wenn sie auf den militärischen Bereich reduziert wird — kritisieren selbst der NATO verbundene Sicherheitsexperten (21).

Es wäre naiv zu glauben, dass mit der Abschaffung der NATO auch schon das Militär als Instrument staatlicher, nach außen gerichteter Gewalt verschwunden wäre. Aber genau wie Andreas Buro und Martin Singe (22) sehe ich darin den gewaltigen Fortschritt, dass es keine übermächtige Militärmacht mehr gäbe, die ihre „Ordnungsvorstellungen“ mit Gewalt durchsetzen könnte. Das hätte zur Folge:

  • Der Zwang, zu verhandelten Lösungen zu kommen, würde größer.
  • Schritte in Richtung auf wechselseitig kontrollierbare Abrüstung würden leichter.
  • Vertrauensbildende Maßnahmen unterschiedlicher Art erhielten Substanz und würden wechselseitige katalysatorische Effekte entfalten.
  • Nicht mit, sondern erst nach der NATO würde die im Jahr 2009 vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama in Prag geforderte Abschaffung aller Nuklearwaffen — und auch der anderen fürchterlichen Massenvernichtungswaffen — möglich.
  • Die sich herausbildende multipolare Ordnung würde vom sonst zwangsläufigen Druck zur Militarisierung befreit.
  • Vor allem: Die Schaffung von regionalen Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit würde erleichtert, ihre Dynamik beschleunigt und die Rückkehr der Staatenwelt zu Geist und Buchstaben der UN-Charta möglich.
  • Und letztlich: Ungeheure Ressourcen würden Schritt für Schritt freigesetzt und könnten zum Wohle der Menschheit und der Natur verwendet werden.

Es versteht sich von selbst, dass die NATO nicht ersetzt oder abgelöst werden darf durch andere multilaterale Strukturen, wie sie der frühere EU-Verfassungsvertrag oder der Vertrag von Lissabon vorsehen. Die EU soll gerade vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte eine Friedensmacht sein, so wie es der Gipfel von Laeken 2001 forderte, als er die Erarbeitung einer europäischen Verfassung anstieß und Europa definierte als „eine Macht, die Globalisierung in einen moralischen Rahmen fügen will (…) sie verankern will in Solidarität und nachhaltiger Entwicklung“ (23).

Natürlich wird eine Welt ohne NATO nicht frei sein von Konflikten. Es ist durchaus zutreffend, wenn die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) in ihrer Lageanalyse darauf verweist, dass die zentralen Ursachen für Krieg und Gewalt Armut und Hunger sind, dass jährlich 50 Millionen Menschen an Hunger sterben, alle zehn Sekunden ein Kind. Statt aus diesem Befund die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, fordert die ESS — ganz im Einklang mit den Lageanalysen der NATO — präventives, militärisches Eingreifen: Nicht die Ursachen von Armut, Elend, Konflikt und Krieg sollen beseitigt werden, sondern die neoliberale Ordnung auch mit Gewalt aufrechterhalten und durchgesetzt werden.

Im Kriegsgeschrei um die neuen Risiken, die so genannten neuen Kriege, die behauptete globale Gefährdung unserer Sicherheit, die „Versicherheitlichung“ der durch den kapitalistischen Raubbau verursachten Probleme wie Klimawandel, Wassermangel, Ozonloch, Elendsmigration et cetera werden die Ursachen von Elend und Gewalt verschleiert, damit die „kannibalische Ordnung“, wie Jean Ziegler den Neoliberalismus nennt, nicht gefährdet wird.

4. Perspektiven der NATO

Auf dem NATO-Gipfel in Straßburg und Kehl am 3. und 4. April 2009 beauftragten die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses den Generalsekretär mit der Entwicklung eines neuen Strategischen Konzepts, das das oben zitierte von 1999 ablösen und dem für Ende 2010 in Lissabon geplanten Gipfel vorgelegt werden soll. Zur Erarbeitung eines Grundlagenpapiers über die zukünftige Strategie wurde eine Expertengruppe unter Vorsitz der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright eingesetzt, Vize-Vorsitzender ist Jeroen van der Veer, vormals Generaldirektor von Royal Dutch Shell.

„Die (übrigen) Experten handeln aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten, nicht als Vertreter ihrer Regierungen“ (24). Damit ist klar, dass es sich um die hochrangige Vertretung wirtschaftlicher Interessen handelt, denn an der Gruppe sind keine Militärs beteiligt, die allerdings als beratende Experten herangezogen werden können. Aufgabe des Gremiums ist es, „die Rolle und die Aufgaben der NATO klar zu definieren“.

Im Vordergrund sollen stehen: Die neuen Sicherheitsherausforderungen, die reichen vom Internet und der Energiesicherheit bis zur Piraterie, internationalem Terrorismus und den Sicherheitsimplikationen des Klimawandels. Die NATO übernimmt also zunehmend Aufgaben in wirtschaftlichen und sozialen Bereichen (25).

Doch es gibt Dissens: Vor allem die Neumitglieder des Bündnisses betonen, dass der Kern der NATO ihr Artikel 5, also die Verteidigung der Territoriums der Mitgliedstaaten ist, während die alten Mitglieder argumentieren, dass alle diese Ebenen miteinander verbunden seien und inwieweit das neue Konzept auch auf nicht-staatliche Akteure ausgedehnt werden soll.

Unweigerlich führt diese Debatte zu der Frage, ob denn Energiefragen und Internet-Sicherheit unter Artikel 5 fallen. Ein weiterer Streitpunkt sind die Beziehungen zu Russland, da „jedes NATO-Mitglied die Beziehungen zu Russland durch seine eigene Brille sieht,“ so dass der Kompromiss wahrscheinlich auf pragmatische Formen der Zusammenarbeit hinauslaufen wird, wie insbesondere die Zusammenarbeit im Krieg in Afghanistan. In der Zusammenschau sieht das International Institute for Strategic Studies die Gefahr, dass das anvisierte strategische Konzept zu einer „unzusammenhängenden Einkaufsliste“ oder zu einer Ansammlung von Gemeinplätzen verkommen könnte (26), ganz so wie sie schon in der Schlusserklärung von Kehl-Straßburg enthalten sind.

Unter den vielen Stimmen in diesem Chor meldet sich auch Zbigniew Brzezinski zu Wort, der über die Debatten in der NATO bestens informiert sein dürfte und in der offiziösen Zeitschrift Foreign Affairs (27) nicht zufällig die globalistische Position vertritt.

Jedoch dieser Globus hat sich verändert, die globale Hierarchie hat sich aufgelöst durch eine Diffundierung der globalen Macht, mehr und mehr Staaten verfügen über Nuklearwaffen, manche von ihnen — vor allem Pakistan — sind extrem instabil. Und „unglücklicherweise hat die Führung der USA in den letzten Jahren unbeabsichtigt, aber höchst unklug, zum derzeitigen bedrohlichen Zustand der Verhältnisse beigetragen. Die Kombination aus Washingtons arrogantem Unilateralismus im Irak, seine demagogischen islamophoben Schlagwörter haben die Einheit der NATO geschwächt und muslimische Ressentiments gegen die USA und den Westen im Allgemeinen verstärkt.“

Vor dem Hintergrund dieser Analyse gelangt Brzezinski zu seiner Schlussfolgerung, die die Stärkung und Straffung der NATO im Sinne der Schaffung eines globalen Netzwerks vorsieht. Dieses hat vier zentrale Aufgaben:

  1. die Erreichung eines politisch akzeptablen Auswegs aus dem afghanisch-pakistanischen Konflikt,
  2. eine Neudefinition des Begriffs „kollektive Sicherheit“ in Artikel 5,
  3. die Einbindung Russlands in eine wechselseitig profitable Beziehung mit Europa und der größeren Nordatlantischen Gemeinschaft,
  4. eine Antwort auf die globalen Sicherheitsherausforderungen.

Deshalb bedarf es der Aufhebung des Konsensprinzips innerhalb der NATO, um Mehrheitsbeschlüsse — mit qualifizierter Mehrheit — zu ermöglichen. Artikel 13 des Vertrags sollte dahingehend reformiert werden, dass auch der Ausschluss von Mitgliedern möglich wird, da sonst Einzelstaaten den Konsens blockieren könnten. Von besonderer Wichtigkeit ist die Einbindung Russlands, das kein Feind mehr ist, aber feindlich auf die NATO blickt.

Eine enge Kooperation im militärischen wie im politischen Bereich ist sowohl im Interesse Europas wie dem der USA, und Europa kann der Mittler in diesem Prozess sein. Daher warnt er vor einer schnellen Aufnahme der Ukraine und Georgiens, die Russland als feindlichen Akteur betrachten könnten. Die EU könnte hier als Mittler agieren, während die NATO gleichzeitig mehr Offenheit gegenüber Russland zeigt. Wenn also die NATO historisch relevant bleiben will, darf sie nicht globale Ansprüche erheben, zumal keine der aufsteigenden Regionalmächte die Mitgliedschaft in einer global expandierenden NATO akzeptieren würde. So wäre das Resultat „ein Sicherheitsnetzwerk, (das) ein Bedürfnis befriedigen würde, das die UN von sich aus nicht fällen können, von dem die UN aber profitieren würden.“ — NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussens Rede auf der Sicherheitskonferenz 2010 scheint hier vorgedacht.

Diese Schlussfolgerung, die wohl eher einem Wishful Thinking des vom Abstieg bedrohten Hegemons entspringt, zeigt das Elend solcher Apologetik: Nicht die Vereinten Nationen bedürfen der NATO: Die NATO muss Platz machen für ein wirkliches System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, wie die Vereinten Nationen es sind. Ihr Fortbestand wird für die UN so kontraproduktiv sein und bleiben, wie sie es zumindest in den zwanzig Jahren nach Ende der Bipolarität mit all ihren Verletzungen des Völkerrechts gewesen ist.

Die Realität kann durch solch beschönigende Visionen nicht wegdiskutiert werden: Die Vergrößerung der NATO und ihre im Laufe der letzten zehn Jahre ständig ausgeweiteten Operationsgebiete lassen die eigentliche Absicht der Allianz überdeutlich werden: Die NATO will die Existenz der Vereinten Nationen unterlaufen, zersetzen und gefährden.

5. Deutschland und (das Ende der) NATO.

Deutschland ist eine zentrale Säule der NATO aufgrund seiner wirtschaftlichen und politischen Stärke, vor allem aber auch wegen seiner geographischen Lage. Es gilt — wie in den Anfangsjahren der NATO — auch nach der Rückkehr Frankreichs in die militärische Struktur des Bündnisses — und trotz oder vielleicht gerade wegen der vehement betriebenen Osterweiterung der NATO: Die von teilweise historisch bedingten russophoben Grundströmungen bedingten außenpolitischen Attitüden gerade der baltischen Staaten und Polens dürften sich zum Teil als Hemmschuhe für eine rationale Politik der westlichen Großmächte und der USA und deshalb vor allem der NATO erweisen. Es darf nicht vergessen werden, dass es der NATO-Beitritt der BRD war, der zur Gründung der WVO führte. Außer Frage dürfte stehen, dass Deutschland

„einer der wichtigsten politischen und ökonomischen Akteure in der EU wie auch eine Brücke zwischen Ost- und West-Europa wie auch einer der wichtigsten Alliierten der USA ist und eine besondere Rolle in der europäischen wie der transatlantischen Politik gegenüber dieser Region spielt“ (28).

Und:

„Während Deutschland für den Konsens westlicher Politik unverzichtbar ist, gibt es reale Unterschiede in den Interessen und den Politikansätzen zwischen Berlin und Washington, die zu gefährlichen Verwerfungen zwischen beiden führen könnten“ (29).

Hieraus ergibt sich die besondere Verantwortung für deutsche Politik. Im Spannungsfeld zwischen NATO und Russland. Innerhalb der NATO sind durchaus Überlegungen im Gange, wie denn das Verhältnis zu Russland entspannter gestaltet werden könnte (30), gerade angesichts einer Vielzahl gemeinsamer Interessen und dringend gemeinsamer Lösung harrender Probleme, wie beispielsweise des Verhältnisses zu China, Indien und der Shanghai Organisation für Zusammenarbeit, aber auch mit Blick auf die Auseinandersetzungen um das umstrittene iranische Atomprogramm.

Die zentrale Frage ist, ob die NATO europäische Sicherheit mit oder gegen Russland schaffen will. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im Rahmen eines europäischen oder auch transatlantischen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit würde die NATO in absehbarer Zeit überflüssig machen — vorausgesetzt, die eingeleitete Transformation der NATO wird gestoppt, so dass sie sich nicht versteht als das militärische Instrument, dessen Kernaufgabe die Sicherung der Ressourcen der kapitalistischen Vormächte beiderseits des Atlantik ist.

Offensichtlich ist auch, dass die Expansion der NATO Richtung Osten neue Krisenherde aufwirft und die Verschärfung des Sicherheitsdilemmas mit Russland bewirkt, wie der Krieg Georgiens gegen Süd-Ossetien im August 2008 zeigte. Schon im Juni 2008 hatte der russische Präsident Medwedjew In Berlin (31) einen detaillierten Vorschlag in dieser Richtung unterbreitet. Einen ausgearbeiteten Plan für eine solche Partnerschaft legte Russland auch der Konferenz der OSZE-Außenminister- vor, die am 1. und 2. Dezember 2009 in Korfu tagte (32).

Dass es Russland hauptsächlich um Fragen der „harten“ Sicherheit ging, dürfte für die westlichen Teilnehmer nicht unerwartet gewesen sein. Deren Insistieren auf Fragen der „weichen“ Sicherheit und die Priorisierung der Menschenrechte, die ja in einigen neuen Mitgliedstaaten der NATO keineswegs unproblematisch sind, können durchaus als Indiz gewertet werden, dass der Westen genau diese Debatte, die ernsthafte Verhandlungen zur Folge haben müsste, vermeiden wollte — und so das neu-alte Sicherheitsdilemma im Verhältnis zu Russland weiterhin am Leben erhalten will (33).

So wird die Ukraine weiterhin ein Streitpunkt bleiben, Krisen am Ostufer des Schwarzen Meeres bleiben weiter auf einer gefährlich eskalationsfähigen Tagesordnung, und die Pläne eines NATO-Beitritts der Ukraine und Georgiens liegen weiter auf dem Tisch der NATO: Fragen der geostrategisch motivierten Ressourcensicherung, wie sie sich in der Konkurrenz der beiden konkurrierenden Riesen-Pipelines Southstream und Nabucco manifestieren, werden weiterhin Priorität haben.

Eine an deutschen Interessen orientierte Politik, für die ja in anderen Zusammenhängen oft der Begriff der „Staatsräson“ (34) reklamiert wird, müsste sich vom Konzept der gegenseitigen kollektiven Sicherheit leiten lassen. Dass die NATO hierzu nicht willens ist, ergibt sich schon aus historischen wie geopolitischen Gründen, fürchtet doch die Vormacht USA wie auch die europäischen Verbündeten einen deutschen Alleingang, der für die Allianz tödlich sein könnte.

Sollte die Schaffung einer veritablen Organisation gegenseitiger kollektiver Sicherheit unter Einschluss der USA aber nicht möglich sein, dann sollte definitiv auf eine europäische Sicherheitsarchitektur hingearbeitet werden. Zwei Wege könnten zu einem solchen neuen Konstrukt führen:

  1. Die Realisierung des Artikels 13 des NATO-Vertrags und der damit verbundene Austritt Deutschlands aus einem Bündnis, das mehr Gefahren heraufbeschwört als es Sicherheit zu gewährleisten vermag. Dieser Schritt wäre keine Utopie, dürfte aber in der derzeitigen weltpolitischen Konstellation als unrealistisch erscheinen, da selbst in der Partei DIE LINKE der Mut hierzu zu fehlen scheint.
  2. Die zweite Möglichkeit wäre — durchaus in Analogie zum Vertrag von Rapallo (35) — eine bilaterale umfangreiche deutsch-russische Vereinbarung, die Kern einer (kontinental-)europäischen Sicherheitsarchitektur sein und für die übrigen europäischen Staaten attraktiv werden könnte. Auch die einst von Donald Rumsfeld hoch gelobten „neuen Europäer“ dürften sich auf Dauer einem solchen Prozess nicht verschließen, wenn er sichtbar zu machen vermag, dass Sicherheit nicht auf einem Gegeneinander, sondern auf dem Miteinander beruht.

Eine Welt jenseits der NATO ist also keine Illusion, sondern ein realisierbares Ziel. Erreichbar ist es sicherlich nur in Etappen, in denen Europa und vor allem Deutschland eine entscheidende Rolle zukommt. Es geht hierbei nicht um Nationalismus, sondern um die Gestaltung einer sichereren Welt: Die NATO verlöre ihr europäisches Standbein. Ihren Anspruch, als weltpolitische Ordnungsmacht zu agieren, hat sie ohnehin mit dem nicht gewinnbaren Krieg in Afghanistan aufs Spiel gesetzt. Es ist keineswegs utopisch, sondern realistische Politik, diese historische Situation zu nutzen, um die Welt sicherer zu machen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Rede vor dem Kongress, 11. September 1990.
(2) Kant, Immanuel: Zum Ewigen Frieden, 3. Präliminarartikel.
(3) Strutynski, Peter: Die NATO — illegitimes Kind des Zweiten Weltkriegs; in: ÖSFK/Projektleitung Thomas Roithner (Hrsg.): Globale Armutsbekämpfung — ein Trojanisches Pferd? Wien-Berlin 2008, Seite 134 — 146.
(4) In diesem Abkommen vom August 1945 hatten sich die Siegermächte verpflichtet, Deutschland als Ganzes gemeinsam zu verwalten. Die Schaffung der Bi-Zone und die Währungsunion im Westen waren unter diesem Gesichtspunkt eindeutige Verletzungen dieses Abkommens, die die Sowjetunion dann mit der Berlin-Blockade beantwortete. Die Gründung der BRD, gefolgt von der Gründung der DDR, waren die logische Folge dieses Prozesses.
(5) Die Google-Suche ergibt immerhin mehr als 4 Mio. Treffer zu dieser Organisation. Eine seriöse und umfangreiche Recherche zu der Organisation lieferten 2004 Daniele Ganser und Christian Nuenlist: Secret Warfare: Operation Gladio and NATO’s Stay-Behind Armies. Gladio selbst operierte hauptsächlich in Italien, aber auch darüber hinaus. Die Decknamen in anderen NATO-Staaten dürften unterschiedlich sein. http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm?id=15301 (10-12-09). Dort sind auch zahlreiche Dokumente aufgelistet, die die Zusammenarbeit zwischen der Organisation und der NATO belegen. Siehe auch: Daniele Ganser, „Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO's Secret Stay-Behind Armies“ The Whitehead Journal of Diplomacy and International Relations (Winter/Spring 2005): 69-95. Derselbe: „The British Secret Service in Neutral Switzerland. An Unfinished Debate on NATO's Cold War Stay Behind Armies,“ Intelligence and National Security 20 (4) (December 2005): 553-580.
(6) http://www.php.isn.ethz.ch/collections/colltopic.cfm?lng=en&id=15301 (10-12-2009).
(7) http://www.php.isn.ethz.ch/collections/coll_gladio/chronology.cfm?navinfo=15301 (10-12-2009). Vgl. auch den Überblicksartikel http://de.wikipedia.org/wiki/Gladio (10-12-09).
(8) Zitiert nach Schröter, Lothar: Die NATO im Kalten Krieg 1949 — 1975, Band I, Berlin 2009, S. 579.
(9) http://www.mein-parteibuch.com/wiki/Gladio (10-12-09).
(10) Ebenda.
(11) Daniele Ganser: NATO’s Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies. Cass, London 2005, insbesondere Seite 195. Ziel der Aktivitäten von Gladio war nach dem Befund des Zürcher Historikers Daniele Ganser: „Die Stay-behind-Armeen waren dem Volk, dem Parlament und den meisten Regierungsmitgliedern unbekannt und bildeten in ganz Westeuropa ein unsichtbares, koordiniertes, geheimes Sicherheitsnetz. In einigen Ländern, aber nicht in allen, mutierten die Sicherheitsnetze jedoch auch zu Terrorzellen. (…) Washington, London und der italienische militärische Geheimdienst befürchteten, dass der Einzug der Kommunisten in die (italienische) Regierung die Nato von innen heraus schwächen könnte. Um dies zu verhindern, wurde das Volk manipuliert: Rechtsextreme Terroristen führten Anschläge aus, diese wurden durch gefälschte Spuren dem politischen Gegner angelastet, worauf das Volk selber nach mehr Polizei, weniger Freiheitsrechten und mehr Überwachung durch die Nachrichtendienste verlangte.“ (Der Bund, Bern, 20. Dezember 2004). So wurde der schwere Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna, bei dem 85 Menschen starben, der in den Medien zunächst den „Roten Brigaden“ zugeschrieben wurde, von Mitgliedern der rechten Geheimloge „P 2“ und zwei Mitarbeitern des italienischen Geheimdienstes SISMI verübt, die dafür verurteilt wurden.
(12) Amtsblatt der Europäischen Union Nr. C 324 vom 24. Dezember 1990, Seite 201 f.
(13) So war das dem Pentagon nahe stehende Private Militärische Unternehmen MPRI schon lange vor dem Krieg gegen Rest-Jugoslawien am Krieg Kroatiens gegen Serbien beteiligt. S. Ruf, Werner: Private Militärische Unternehmen, in: Ruf, Werner (Hrsg.): Politische Ökonomie der Gewalt, Opladen 2003, insbesondere Seite 85f.
(14) Wagner, Jürgen: Der NATO-Krieg in Afghanistan: Prototyp für Neoliberales Nation-Buildung und zivil-militärische Aufstandsbekämpfung. in: IMI/DFG-VK (Hg.): Kein Frieden mit der NATO — Die NATO als Waffe des Westens, Tübingen, Januar 2009, S. 32-38, URL: http://imi-online.de/download/webversion-imi-nato.pdf Seite 32. Vergleiche auch das dort zitierte Mitglied der NATO-Verteidigungsakademie A. Carlo Masala: „Nach erfolgreicher militärischer Intervention werden die ‚eroberten’ Gebiete in Protektorate umgewandelt, und die westliche Staatengemeinschaft ist darum bemüht, liberale politische Systeme, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft in diesen Gebieten einzuführen.“
(15) http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065d.htm (15-12-09).
(16) So die US-Außenministerin vor der französischen Militärakademie, FAZ, 30. Januar 2010.
(17) Siehe dazu die Rede des NATO-Generalsekretärs Rasmussen auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 7. Januar 2010. http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Sicherheitskonferenz/2010-rasmussen.html (08-02-2010).
(18) http://www.kas.de/wf/de/71.4503/ (29-11.07).
(19) Vergleiche Cremer, Uli: Neue NATO — neue Kriege? Hamburg 1998, Seite 56.
(20) Ebenda.
(21) Fitzpatrick, Mark: A Prudent Decision on Missile Defence; in. Survival, Vol. 51, Nr. 6, Dec. 2009 — Jan. 2010, S. 5 — 11.
(22) Buro, Andreas/Singe, Martin: Expansion und Eskalation: 60 Jahre NATO; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2009, Seite 53 — 63.
(23) European Council Laeken, 14 — 15. Dez. 2001, Presidency Conclusions. Chaillot Paper Nr. 51, Paris 2002, Seite 113.
(24) IISS Strategic Comments Vol. 15, Issue 15, Dez. 2009: A new strategic concept for NATO. http://www.iiss.org/members-login/?ReturnUrl=/publications/strategic-comments/past-issues/volume-15-2009/volume-15-issue-10/a-new-strategic-concept-for-nato/ (18-12-09).
(25) Ebenda.
(26) Ebenda.
(27) Brzezinski, Zbigniew: An agenda for NATO — Toward a Global Security Web; in: Foreign Affairs; Sep/Oct 2009, Vol. 88 Issue 5, p 2-20.
(28) Lang, Kai-Olaf: Toward a Transatlantic Eastern Policy? The U.S., the EU, and the „In-Between States“; in: American Institute for German Contemporary Studies (AIGCS), October 2009, online edition, 38p. Lang ist unter anderem Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik.
(29) Szabo, Stephen F. The Washington Quarterly, October 2009, Vol. 32, Nr. 4, pp23-41. Szabo ist Executive Director der Transatlantischen Akademie.
(30) Treninm Dimitri: NATO and Russia: Partnership or Peril? In: Current History, Oct. 2009 Seite 299 — 303.
(31) http://www.google.de/search?client=firefox-a&rls=org.mozilla%3Ade%3Aofficial&channel=s&hl=de&source=hp&q=%22Rede+Medwedjew+Berlin+Juni+2008%22&meta=&btnG=Google-Suche (08-02-2010).
(32) Siehe dazu Voß, Hans: Russland hat das Dialog-Fenster geöffnet. http://www.unikassel.de/fb5/frieden/themen/NATO/russland4.html (06-11-2009).
(33) Typisch hierfür ist der Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Dezember 2009, Seite 5.
(34) Ruf, Werner: Staatsräson — ein klärungsbedürftiger Begriff; in: Forum Wissenschaft (in Vorbereitung).
(35) Siehe den Vertragstext: http://www.documentarchiv.de/wr/1922/rapallo-vertrag.html (09-11-2009).

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