Isabelle Krötsch: Das Grundgesetz ist wie die UN-Charta der Menschenrechte ein wundervolles Werk, wenn es denn angewandt würde. Weshalb braucht es so dringend einen „Verein zur Erneuerung der Bundesrepublik an ihren eigenen Idealen“? Der Name macht Mut, sich dem „Schönen, Wahren, Guten“ zu widmen, wie einst Friedrich Schiller, der auch kreativ tätig war, um an einer heilsamen Transformation der Gesellschaft mitzuwirken, weil auch er schon sah, wohin der Hase läuft.
Ralph Boes: Der Name ist für uns ein Mantra. Es gibt einen Satz von Stalin, der besagt, mit Deutschen könne man keine Revolution machen, weil sie da den Rasen betreten müssten.
Das stimmt zwar einerseits, aber die Erneuerung der Bundesrepublik an ihren eigenen Idealen, das ist im Grunde keine „Revolution“, sondern gewissermaßen eine Vertiefung, eine Art „Evolution“. Da greift man am idealischen Kern der Deutschen an, der doch unter allem Verschütteten da zu sein scheint, und es ergibt sich daraus eher eine Aufräum- und Erneuerungsbewegung. Es geht darum, ans Licht und in die Höhe zu bringen, was eigentlich veranlagt ist. Also ein Mantra für uns auf der einen Seite. Wenn man das aber im politischen Raum sagt, ist es eine Kampfansage, weil die Politiker sofort wissen, was damit gemeint ist, dass sie damit selbst in Frage stehen.
Für mich entspricht das dem wirklichen Sinn von Revolution — Evolution. Die sogenannten Revolutionen werden ja nicht selten gekapert und infiltriert und gehen dann — fast immer — in eine andere Richtung, als sie eigentlich gemeint war. Ich finde das sehr elegant, wie ihr als Verein das definiert und denkt — weil ihr damit im Grunde an die wirklichen „Qualitäten“ der Deutschen mit ihrem tief verwurzelten Idealismus anknüpft. Toll, das in Wert zu setzen.
Als die DDR in Revolutionsstimmung kam, hatten die Leute ein Ziel, die wollten in die BRD. Das war nicht eine volle Revolution, sondern man wollte die Wiedervereinigung haben und den Ärger loswerden mit der SED und mit den mangelhaften Wirtschaftsstrukturen. Wenn wir jetzt wieder so einen Schritt gehen, dann ist wieder was da, an das wir anknüpfen können. Es geht nicht ins Blaue irgendwohin, da ist eine wertvolle Grundlage, die man ergreifen und vertiefen kann. Ich würde sagen, hier kann man was mit den Deutschen anfangen. Die Franzosen sind besser, was Neues anzufangen, aber wir können die bewährten Werte auf eine neue Stufe heben.
In euren Vorträgen und den Aussagen des Vereins wird immer wieder das Potential der Artikel 1, 2 und 20 Grundgesetz hervorgehoben. Kannst du das noch mal kurz zusammenfassen, was die ausmachen?
Die Besonderheit am Grundgesetz ist, dass Artikel 1 und 20 Ewigkeitsgültigkeit haben. Die beiden machen eigentlich das gesamte Grundgesetz aus. Artikel 1 lautet:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Da sind dann noch ein paar mehr Sachen drin, aber das ist das Eigentliche. Dass man die Würde des Menschen ins Zentrum einer „Verfassung“ stellt, das gibt es sonst kaum. Im Zentrum aller Verfassungen steht normalerweise das sogenannte „Volkswohl“.
Die Schöpfer des Grundgesetzes haben sich darüber Gedanken gemacht, wie man das besser machen kann, weil das Volkswohl ein sehr missbrauchbarer Begriff ist; mit ihm kann man selbst einen Hitler nicht verhindern. Hitler hat ja auch behauptet, es gehe ums Wohl des deutschen Volkes. Deshalb haben sich die Schöpfer des Grundgesetzes entschlossen, die Würde des Menschen ins Zentrum zu stellen, um Faschismus auszuschließen, egal welcher Natur der Faschismus ist, ob politischer oder wirtschaftlicher Natur.
Sie haben die ersten 19 Artikel mit den Menschenrechten belegt, Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist das zweite, Recht auf Religionsfreiheit und so weiter. Die Menschenrechte sind gewissermaßen der Boden, auf dem das Grundgesetz aufgebaut ist. Das Grundgesetz selbst beginnt dann im Grunde erst mit Artikel 20 und in diesem Artikel ist es eigentlich vollständig formuliert. Da sind die Staatsstrukturprinzipien erklärt. Der erste Satz lautet:
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“
Der zweite:
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“
So geht das bis Absatz 4, dass, wenn irgendjemand diese Struktur außer Kraft setzt, alle Deutschen Recht auf Widerstand haben.
Die Artikel 1 und 20 machen im Grunde schon das gesamte Grundgesetz aus. Und diese beiden Artikel sind, weil sie so wichtig sind, sogar durch Artikel 79 mit einer „Ewigkeitsklausel“ belegt, so dass sie — anders als alle anderen Artikel des Grundgesetzes — nicht geändert werden können.
Mir ist wirklich durch eure Aktion „Deine Verfassung“ wieder bewusst geworden, dass eigentlich alles da wäre, um eine auf Nachhaltigkeit, Wissen und friedliche Koexistenz basierte Gemeinschaft zu bilden. Daher ist die Frage, warum ist das bisher noch nicht geschehen? Warum gibt es noch keine Verfassung, wo es doch immer hieß, wenn die Wiedervereinigung stattgefunden hat, dann kann das deutsche Volk sich eine Verfassung geben. Ich kann mich daran erinnern, dass 1991 irgendwie der Zwei-plus-Vier-Vertrag verlängert wurde. Was ist deiner Ansicht nach passiert und warum?
Dazu muss ich etwas ausholen. Es waren 1989/1990 verschiedene Verfassungsbewegungen da. Das Grundgesetz ist von seinen Machern bewusst nicht als Verfassung deklariert worden. Der eigentliche Weg der Verfassungsbildung ist 1949 nicht gegangen worden. Der Grund: Die damaligen Besatzer waren allmächtig.
Eine Verfassung ist etwas, was sich ein Volk in voller Freiheit gibt, das war damals überhaupt nicht möglich. Die West-Alliierten hätten auf jeden Fall reingeredet und der Osten wäre aus der Verfassungsbildung ausgeschlossen gewesen. Deshalb beschlossen sie, nur ein Grundgesetz zu machen, also keine Verfassung und sobald die Wiedervereinigung stattgefunden hätte, und alle Deutschen zusammen abstimmen könnten, solle dann eine Verfassung hergestellt werden. Deshalb heißt es vorne auf dem Deckel des Grundgesetzes: „Grundgesetz FÜR die Bundesrepublik Deutschland“ — was etwas anderes als ein Grundgesetz DER Bundesrepublik Deutschland und noch weniger SEINE VEFASSUNG ist — und im letzten Artikel des Grundgesetzes, in Artikel 146 heißt es:
„Das Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volk in Freiheit entschlossen ist.“
Die Wende kam und es kamen sowohl im Osten bei den runden Tischen als auch im Westen, da vor allem bei den Grünen, starke Verfassungsbewegungen in Gang, aber die sind abgebügelt worden. In der Zeit der Wiedervereinigung hätten wir die Chance gehabt, eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten. Diese Chance wurde aber — teils mit guten, teils aber auch mit schändlichen Gründen — verspielt.
Teils verstehe ich‘s: Der Druck war sehr hoch. Der immense Menschenfluss aus dem Osten in den Westen und die Alliierten, die auf Deutschland wie die Katze auf die Maus schauten: Was machen die jetzt? Die Alliierten haben uns offiziell ab dem Mauerfall freigegeben und ihre Machtausübung zur Seite gelegt, bis wir wiedervereinigt sind. Mit vollzogener Wiedervereinigung gilt die Bundesrepublik als „souverän“. Aber ob die Alliierten wirklich dabeigeblieben wären, uns freizugeben, wenn wir wirklich eine neue Verfassung gemacht hätten, mit Inhalten, die ihnen vielleicht nicht passen, die Frage stand offen und der Zeitrahmen stand auch offen.
Es gab damals aber noch einen Artikel 23 im Grundgesetz, der war ursprünglich für die Eingliederung des Saarlands gemacht — auf Wunsch der Franzosen, ohne dass der Name „Saarland“ erwähnt wurde —, den hat man dann verwendet, um die DDR zu „übernehmen“. Unter anderem damit ist die Verfassungsfrage weggefallen.
Du sagst, die Verfassungsfrage ist einfach vom Tisch gekehrt worden. Hast du den Eindruck, dass es damals auch schon so eine Art Verschleierungstaktik gab mit Aussagen wie „Das Grundgesetz ist doch gut, wir brauchen gar keine Verfassung.“ Ich habe das so gehört.
Das was ich bisher geschildert habe, ist der pragmatische Grund, der das Übergehen der Verfassungsfrage zum damaligen Zeitpunkt „verständlich“ macht. Aber es gab auch eindeutig den Willen — was ich mit „schändlichem“ Grund meine —, die ganze Verfassungsproblematik zu verhüllen. Und da ist vor allem eine unmäßige Lüge in die Welt gesetzt worden, und die steht tatsächlich im Grundgesetz allem voran, in der Präambel.
„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“
„… kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt“!
Das steht vorne in der Präambel! Und das ist eine glatte Lüge, denn die verfassungsgebende Gewalt sind wir, das Volk. Und nicht die Politiker, die die Wiedervereinigung vollzogen haben. Die Politiker sind nicht die verfassungsgebende Gewalt, als welche sie sich hier bezeichnet haben, sondern nur „verfasste“ Gewalt. Und als solche haben sie nur Rechte INNERHALB der Verfassung oder des Grundgesetzes und keinerlei Erlaubnis auf dem Felde der Verfassungsgebung tätig zu werden oder zu entscheiden.
Diese Riesenlüge wurde 1990 ins Grundgesetz geschrieben und aufgrund dieser Lüge wird jetzt behauptet, dass das Grundgesetz jetzt unsere Verfassung wäre. Da ist die Absicht dahinter gewesen, das Wirkliche zu verschleiern. Es gab auch die Absicht, den Artikel 146 zu löschen. Dieser Wille ist — das ist wirklich eine der ganz wenigen positiven Sachen, die man über die SPD sagen kann — an der SPD gescheitert.
„Grundgesetz FÜR die Bundesrepublik Deutschland“ und Artikel 146:
„Dieses Grundgesetz (...) verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“.
Der Anfang des Grundgesetzes und sein Ende müssen im Zusammenhang gesehen werden! Und darum ging es wohl bei den „schändlichen“ Gründen: das Volk gar nicht erst auf den Geschmack zu bringen, dass es bezüglich des Grundgesetzes oder der Verfassung ernsthaft etwas zu sagen hat. Deshalb hat sich das politische Personal flugs selbst zur verfassungsgebenden Gewalt erhoben. Dass gerade Herr Schäuble, zu dem wir später noch kommen werden, 1989/90 der Verantwortliche im Umgang mit der Verfassungsfrage war, gibt unserer jetzigen Begegnung innerhalb der Aktion „Deine Verfassung“ einen gewissen Zusatzreiz.
Verstehe, ein wichtiger Unterschied! Sind wir also noch in der Vorstufe zur Bundesrepublik Deutschland?
Ja, absolut.
Sprung zu eurem Verein und der Aktion „Deine Verfassung“, obwohl diese Themen zur Rechtsstaatlichkeit durchaus ein eigenes Interview verdienen würden, da wir feststellen können, dass sich die Bundesrepublik den USA gegenüber wie ein Vasall verhält und das Thema Souveränität auch sehr spannend ist — sowohl individuell als auch kollektiv.
2019 ist ein besonderes Jahr. Am 19. Mai 2019 wurden 70 Jahre Grundgesetz gefeiert. Zu diesem Anlass hat der „Verein zur Erneuerung der Bundesrepublik an ihren eigenen Idealen“ eine Kunstaktion veranstaltet und der beeindruckenden Skulptur des israelischen Künstlers Dani Karavan „Grundgesetz 49“, die sich auf Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes bezieht, eine Holz Stele mit dem so wichtigen Artikel 20 in vergoldeten Lettern hinzugefügt. Was geschah daraufhin?
Unserer Aktion liegt eine unglaubliche Entdeckung zugrunde. Am Bundestag stehen diese riesigen Stelen von Dani Karavan aus Glas mit dem eingravierten Grundgesetz, und das ganze Ding heißt „Grundgesetz 49“. Unsere Entdeckung war, dass da der Artikel 20 fehlt. Artikel 1 bis 19, die Grundrechte, sind da, aber die Staatsstruktur ist nicht dahingestellt worden. Für jeden, der sich mit dem Grundgesetz befasst, ist sonnenklar, dass Artikel 1 und 20 das Grundgesetz ausmachen.
Menschenrechte ohne eine Staatsstruktur, die dem entspricht, sind eine Luftnummer. Und eine Staatsstruktur ohne Menschenrechte ist eine Diktatur. Als wir das feststellten, sagten wir uns, das ist doch ein schöner Anlass, zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes den fehlenden Artikel hinzuzufügen. Es bleibt natürlich eine Riesenfrage, warum der Artikel da fehlt …
Im Laufe der Aktion wird für alle immer sichtbarer, warum der da fehlt. Da kann man sich was dazu denken … Ich persönlich denke mir da ganz tief was dazu.
Die Skulptur „Grundgesetz 49“ ist 2002 aufgestellt worden. Durch die Europäische Entwicklung erkannte man schon die Devise, seitens der Politik will man das Grundgesetz eigentlich schleifen. Dazu hat sich unter anderem der Bundesverfassungsgerichts-Richter Peter M. Huber am 19. September 2011 in einem SZ-Interview recht direkt geäußert.
Oder man kann auch die Nationalstaaten aufheben, dann braucht man auch keine Demokratie mehr „behaupten“ …
Ja, es gibt ganz starke Bewegungen, die Demokratie zu verunmöglichen, denn zwei Dinge stören die Wirtschaft. Es wird ja eine europäische Wirtschaftsdiktatur — oder sagen wir mal vorsichtig eine europäische Wirtschaftsregierung — aufgebaut, und in dieser Wirtschaftsregierung stören folgende Punkte: Die Würde des Menschen ist unantastbar, denn man braucht Lakaien. Und es stören auch demokratische und rechtstaatliche Verhältnisse. Dies sind Investitionshindernisse. Sobald demokratische Strukturen da sind, muss man mit den Leuten reden, der Rechtsstaat macht für die Wirtschaft alles kompliziert. Und deshalb sollen erst mal die Ewigkeitsgarantie und dann die Artikel 1 und 20 selbst gelöscht werden …
… damit es nie eine Demokratie gegeben haben wird.
Das ist auch schon längstens am Laufen. Unsere Politiker geben am laufenden Band ihre Kompetenzen ab an Europa, an eine nicht demokratische Institution. Das ist eine unerhörte „Charakterschwäche“ des gesamten politischen Establishments. Das konnte man bei TTIP sehen. Die Politiker sollten im großen Maßstab Gesetze übernehmen, die sie weder geschrieben noch eingesehen hatten und über die sie auch in Nachhinein keinerlei Verfügung haben sollten. In dem Moment ist für mich komplett das Vertrauen in unseren politischen Apparat gestorben.
Jetzt wird das immer offener bekundet. Vor ein paar Tagen hat die Bundesregierung zu Drohungen einzelner Politiker, das Mercosur-Abkommen zu boykottieren, gesagt, das sei eine „unzulässige Politisierung der Wirtschaft“. Es ist eindeutig, dass die Politik nur noch dazu dient, dass der Finanzkapitalismus ungehindert durchgreifen kann und was das bedeutet, kann sich inzwischen auch jeder denken.
Am 70. Geburtstag des Grundgesetzes gab es große Interviews mit Frau Merkel. Gefragt, was sie am Grundgesetz so toll fände, sagte sie: die Präambel und Artikel 1. Artikel 20 ist überhaupt nicht in ihrem Bewusstsein. Und dass die Präambel gelogen ist, weiß sie wahrscheinlich auch nicht (sic!) Und wie gesagt — Artikel 1 ohne eine Staatsstruktur ist eine reine Luftnummer. Und wenn man weiß, wie die künftige Europäische Verfassung konstruiert ist, dann sieht man, dass es darauf hinausläuft, die Menschenwürde als Luftnummer zu behandeln und die Wirtschaftsrechte als die Hauptsache.
Ich finde, dass man bei dem, was du berichtest, sieht, dass das Fehlen des Artikels 20 am Bundestag kein Zufall ist. Man sieht die Absicht — von langer Hand geplant — und ist verstimmt.
Genau, das ist auch einer der Gründe, warum wir den Artikel zum 70sten Geburtstag des Grundgesetzes dort aufgerichtet haben. Wir haben ihn geschnitzt in eine dicke Buchen Stele, dann vergoldet und dann haben wir sie hingestellt. Wir haben sie im Morgensonnenlicht des 18. Mai 2019 aufgestellt, und die Sonne hat in das Gold der Lettern hineingeleuchtet; es war ein unglaublich schöner, überwältigender Eindruck für alle. Es war begeisternd, das zu sehen. Dann kam mittags die Polizei und sagte, das Aufstellen der Stele sei nicht erlaubt — und wir erklärten ihr, dass sie und ihre Taten damit zum Kunstwerk selbst gehören.
Wenn sie die Stele wegnähmen, würden sie nur auf der Ebene des Kunstwerks nachvollziehen, was die Politik im großen Maßstab längst vollzogen hat: Den Artikel 20 abzuschaffen. Und dies zum siebzigsten Geburtstag des Grundgesetzes — das wäre ein wirklich starkes Bild. Daraufhin haben sie ein bisschen gezögert, haben dann aber doch die Feuerwehr bestellt; die kam mit einem großen Wagen und wollte die Stele wegräumen. Doch dann guckte sich der Feuerwehrhauptmann die Stele genauer an und sagte, das würden sie nicht wegräumen dürfen, weil keine Gefahr davon ausginge.
Das war sehr interessant! Auf politischer Ebene ist das Gesetz bereits abgeschafft, aber auf physischer Ebene stand es da. Das Ding war so sauber gebaut, dass physisch keine Gefahr davon ausging, und eigentlich hat der Staat in so einer Situation nur die Möglichkeit, uns als Verein mit Tagessätzen in Rechnung zu stellen, dass wir die Sache falsch hingestellt haben. Aber sie dürfen es rechtlich gesehen nicht wegräumen. Daraufhin gingen wir, uns in Sicherheit wiegend, abends nach Hause. Und dann haben sie die Skulptur nachts widerrechtlicher Weise einfach weggeräumt. Das Bild ist komplett. Der Staat räumt seine eigenen Staatsstrukturprinzipien weg. Selbst innerhalb dieses Kunstwerkes.
Welche Rolle misst du der Kunst in unserer Gesellschaft bei? Der Physiker und Philosoph Hans-Peter Dürr spricht von der Wirklichkeit als einem Dazwischen, einer Beziehung, die durch den Drahtseilakt auf dem Hochseil der Lebendigkeit ständig ein labiles Gleichgewicht oder ein stabiles Ungleichgewicht bedeutet.Und davon, dass Künstler und Musiker als Vorbildfunktionen gesehen werden können, wenn es darum geht, diese höchste Form von Sensibilität an den Tag zu legen, die für das Lebendig sein und das respektvolle Koexistieren vonnöten ist.
In diesem Sinne finde ich es auch sehr bemerkenswert, dass ihr den Weg einer künstlerischen Aktion gewählt habt. Wie kam es dazu?
Der Begriff der Kunst, der unserer Aktion zu Grunde liegt, ist der von Joseph Beuys. Wir machen eine „Soziale Plastik“. Soziale Plastik heißt, sobald man im sozialen Feld steht, gehen Formen von einem aus. Wenn wir uns beide hassen, sind sie eher spitz, wenn wir uns lieben, sind sie eher rund, so ganz grob gesagt. Das dem Aufstellen vorangehende Schnitzen der Stele haben wir beim Kunstamt als „soziale Plastik mit Auswirkung in Holz“ angemeldet, weil für uns schon der Prozess des Schnitzens mit den unglaublich vielen Gesprächen mit vorbeikommenden Bürgern, die wir dabeihatten, ein wesentlicher Teil des Kunstwerks war.
Wir sehen nicht die Stele als Kunstwerk, sondern wir sehen das, was durch diese Stele passiert, als Kunstwerk und provozieren jetzt die Kräfte, die den Artikel 20 im Bild und in der Wirklichkeit wegräumen wollen, damit genau das sichtbar wird. Für uns ist in diesem Sinne „Kunst“, was in Bewegung ist und nicht, was im Museum hängt. Diese Kunst kann man auch nicht kaufen. Man kann sie bestenfalls bestrafen. Das wäre allerdings der Hammer, in den Knast zu gehen wegen so einer Aktion. Das wäre eine „Veredelung“ der Sache.
Unsere künstlerische Absicht ist, dass die Menschen auf lebendige Weise mit dem Thema berührt, um das es geht. Dass sie es „sehen“. Wir eröffnen ein Feld der Volksbildung. Mancher, der uns zusieht, begreift vielleicht das erste Mal das Grundgesetz oder begreift eine Dimension, die er noch nicht gesehen hat. Dadurch kann man eine gewisse Revolutionsstimmung oder Evolutionsstimmung erzeugen. Wir finden es falsch, dass sich die Revolutionsstimmung heute oft nur bei der AfD ablädt. Sie sollte sich am Schutz des Grundgesetzes entzünden.
Friedrich Hölderlin schrieb vor über 200 Jahren inmitten des Blutbads der Terreur der französischen Revolution in einem Brief: „Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schamrot machen wird“. Er wusste damals, die Menschen sind noch nicht reif für sein ganzheitliches Weltbild.
Möglicherweise meinte er uns! Ich habe gesehen, dass du auch ein Philosoph und Denker bist und dein Engagement für die Gesellschaft aus diesem Impuls herausschöpfst. Du bist nicht nur für diese Verfassungsbewegung tätig, sondern auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wie sehr ist für dich philosophisch-spirituelle Hingabe und Praxis wichtig, um die Strukturen der Gesellschaft ganzheitlich, friedfertig und heilsam zu gestalten?
Mein Spezialgebiet ist Geistesschulung. Ich bin auch der Leiter einer Arbeitsgemeinschaft für Geistesschulung, es gibt auch eine Seite dazu im Internet. Das Engagement für die Verfassung ist nur ein Spezialgebiet der Geistesschulung. Es ist kein politisches Gebiet! Es ist etwas Urmenschliches. Es gibt für mich zwei Arten der Veränderung: Entweder es gibt einen Riesenschock, damit was passiert oder man macht es frei-willig. Das Wesen der echten Geistesschulung ist, die wesentliche Dinge frei-willig zu tun, bevor sie zum Schock werden. Bevor sie sich durch einen Schock einem aufnötigen.
Du siehst dieses Handeln also auch als ein Selbstermächtigen, Selbstverantworten, dass man erkennt, was man hier auf Erden für eine Aufgabe hat. Es ist also für dich keine Politik, sondern eine Anteilnahme an der Gesamtstruktur „Gemeinschaft“.
Genau, wir haben ja auch dafür gesorgt, dass jetzt die Sanktionen in Hartz IV im Bundesverfassungsgericht verhandelt werden können, und das ist für mich auf derselben Ebene anzusiedeln. Die Politiker kümmern sich nicht darum. Bei Hartz IV werden auch die Menschenrechte im Prinzip außer Kraft gesetzt. Es war ein harter Weg, die Sanktionen vors Bundesverfassungsgericht zu bekommen, aber wir sind jetzt gespannt, was da rauskommt am Ende.
Ich kann das so nachfühlen … Als ich vor 15 Jahren die Unterlagen für das Arbeitslosengeld II vor mir liegen hatte, spürte ich zutiefst, dass das unlautere Fragen sind. Ich war damals noch von der Redlichkeit unseres Systems überzeugt, doch es hat sich eine Scham in mir geregt und den Keim des Zweifels in Bezug auf unsere Politik gelegt. Ich habe diese Papiere in die Tonne getreten und wusste, egal wie, ich überlebe, aber aus diesem System steige ich jetzt aus.
Ich empfand tiefe Scham, als ich hörte, es gäbe jetzt „Job“-Center. Ein Job ist etwas, was man nur macht, damit man Geld bekommt. Wo man nach dem Inhalt der Arbeit nicht fragt. Einen „Job“ haben — oder eine Arbeit oder eine Aufgabe, wo man sich einsetzt für eine Sache, ist ein großer Unterschied. Allein das Wort Job-Center war für mich das Todesurteil der Sache, unabhängig von allem, was da überhaupt gesetzlich dahinterstand. Bei Hartz IV ist es so, dass man nach dem Inhalt der Arbeit gar nicht gucken darf. Es sind spirituelle Gründe, die dahinter liegen, warum ich mich hier engagiere.
Ich finde so wichtig, dass du das so betonst, weil so viele Aktivisten und Menschen, die sich eine radikale Veränderung wünschen, das Spirituelle und das Handeln getrennt voneinander sehen und sich gegenseitig belächeln oder gar verachten. Sie bleiben in einer Form von Dualismus gefangen — durch den Materialismus verursacht. Und wenn man merkt, dass es eigentlich zusammengehört, sich beides bedingt und man beides braucht, um eine heilsame Entwicklung zu machen, dann gibt es hoffentlich vielen Menschen mal den Mut, dahin zu fühlen und jeder kann dann seine Art des Beitragens finden.
Wir haben vor, eine weiterführende Bewegung an diese Aktion zu knüpfen, zu finden auf der Webseite „Unsere Verfassung“. Wir wollen die Verfassungsfrage dadurch lösen, dass wir eine Volksabstimmung machen außerhalb jeglicher politischen Genehmigung und jeder politischen Kontrolle, einfach unter uns Menschen. Wir bekommen alle einen Abstimmungszettel in die Hand, mit dem Hauptpunkt: „Ich bin dafür, das Grundgesetz zur Verfassung zu erheben.“ Denn wir haben alle kein Problem mit dem Grundgesetz.
Wir haben alle nur ein Problem mit den Politikern, die sich nicht daran halten und es abschaffen wollen. Wenn wir als Volk das Grundgesetz zur Verfassung erheben, dann gibt es da keine Widerspruchsmöglichkeit seitens der Politik. Das verbürgt Artikel 146. Natürlich wollen wir zudem auch Volksabstimmungen im vollen Maßstab: die sogenannte „bundesweite“ Volksabstimmungen mit einschreiben, die Volksabstimmung über die wirklich wichtigen Dinge.
Zum Beispiel zu den Themen Geldsystem, Geldreform, Regulierung der Märkte.
Dadurch bekommt die Politik einen völlig anderen Wind. Bisher diktieren die Lobbyisten den Politikern. Mit einer solchen Verfassung können wir im vollen Maße mitsprechen, Gesetze in Gang bringen, andere abschaffen, da bekommen die Politiker ein Korrektiv.
Du sagst, es geht um eine Volksabstimmung an der Politik vorbei. Wie kann man sich das vorstellen? Was können wir konkret tun, damit es zu einer solchen Volksabstimmung kommt?
Das wird ein Riesengebiet, damit fangen wir jetzt an. Bei Hartz IV bin ich davon ausgegangen, dass es 7 Jahre dauert, die Sanktionen zu stürzen. Jetzt geht es schon ein bisschen länger. Bei der Verfassung wird es wohl noch etwas länger dauern, vielleicht 30 Jahre. Beginnen müssen wir aber jetzt. Sonst geht gar nichts.
Was man tun kann? Den Gedanken unter Unsere-Verfassung.de wahrnehmen. Man kann uns als Vortragsredner einladen und so fort. Was wir brauchen, sind „Kristallisationspunkte“ überall, also Menschen an verschiedensten Orten, die das Vorhaben gut finden, sich zuständig fühlen für den Gedanken. In Vereinen, in Kirchen, in jeglicher Institution, dass sich Menschen für diese Idee verantwortlich fühlen und als Kristallisationspunkt tätig werden.
Das heißt, die Menschen, die sich aufgrund dieses Gesprächs motiviert fühlen weiter zu forschen, teilzuhaben und teilzunehmen, die melden sich bei euch oder kommen am 3. Oktober zum Beispiel nach Berlin, um der Aktion vor dem Deutschen Bundestag beizuwohnen, Zeuge zu sein und davon berichten zu können.
Wie gesagt, die Stele wurde ja in der Nacht zum Geburtstag des Grundgesetzes widerrechtlich entfernt. Das war eine Aktion des Staates gegen uns. Die Antwort des Künstlerkollektivs stand noch aus. Diese Antwort ist jetzt erfolgt. Wir haben Herrn Schäuble in einem offenen Brief angeschrieben.
Es ist ein glücklicher Zufall der Weltgeschichte, dass einer der Hauptakteure in der Abschaffung der grundgesetzlichen Strukturen auch einer der Hauptakteure in der Konstruktion Europas und der schrecklichen Zustände, die Griechenland dann durchzumachen hatte, dass der gerade jetzt Präsident des Deutschen Bundestages ist. Und als Präsident des Deutschen Bundestages der oberste Dienstherr der den Bundestag schützenden Polizei.
Unsere Antwort ist folgende: Zum Tag der Deutschen Einheit stellen wir die Skulptur wieder auf bis mindestens zum 9. November 2019, dem Jahrestag des Mauerfalls. Der Grund: Ostdeutschland hat sich nicht in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eingliedern lassen, um in einer wirtschaftsgesteuerten „marktkonformen“ Demokratie aufzuwachen, wie Frau Merkel das gesagt hat. Sie sind gekommen, weil sie dachten, hier sind die Menschenrechte im Vordergrund und auf den Menschenrechten entfaltet sich eine dynamische Wirtschaft. Die wollten ja nicht von der einen in die andere Diktatur. Und da die Verfassungsfrage ja an der Stelle der Wiedervereinigung ausgefallen ist beziehungsweise wurde, haben wir diesen Zeitraum vom 3. Oktober bis 9. November als Symbol gewählt.
In unserem Brief an Herrn Schäuble laden wir ihn ein, uns zu unterstützen. Als Präsident des Bundestages hat er kein politisches Mandat. Er gehört nicht in eine Partei, sondern er hat die Grundsätze der Bundesrepublik innerhalb des Bundestages zu vertreten. Er hat dafür zu sorgen, dass die demokratischen Grundsätze — egal welche Partei gerade spricht, auch wenn die AfD redet — eingehalten werden. Er hat gewissermaßen eine neutrale Position aus politischer Sicht und die grundlegende Position aus der Sicht des Grundgesetzes.
Anders, als das Schnitzen der Stele, das wir als „Soziale Plastik mit Auswirkung in Holz“ angemeldet hatten, melden wir die Aktion jetzt als „Soziale Plastik mit Auswirkung in Betonköpfe“ an und bitten Herrn Schäuble um Unterstützung, auch wenn es keine behördliche Genehmigung dafür gibt. Damit die Aktion ernst genommen wird, wird das Ganze von einer Unterschriftensammlung begleitet, damit Menschen, die das gut finden, das unterstützen können. Die Erstunterschriftenliste ist sehr lesenswert!
Was braucht es, damit die Aktion ein voller Erfolg wird?
Jeder der möchte ist geladen, Herrn Schäuble in dieser Sache anzuschreiben. Auf der Seite „Sei Dabei“ unserer Aktionswebseite steht seine E-Mail-Adresse, damit ein wenig Druck entsteht. Die Reaktionen von Herrn Schäuble werden mit zum Kunstwerk erklärt. Wenn Polizei aufmarschiert, trifft es ihn.
Wir haben uns gefragt, ob es nicht unanständig sei, jemanden ohne zu fragen, vielleicht gegen seinen eigenen Willen, in ein Kunstwerk mit einzubeziehen. Wir haben uns als Antwort gegeben: Das machen die mit ihrer Politik permanent auch so. Die machen irgendetwas, und es trifft uns, ob wir wollen oder nicht. Also drehen wir hier den Spieß einfach mal um. Wir werden in den nächsten Tagen auch die Polizei informieren und ankündigen, dass wir die Stele auch ohne Genehmigung aufstellen werden, dass sie von uns aus doch bitte schon ihre Kampfwagen und alles aufbauen mögen, dass sie nur beherzigen mögen, dass das ihren Dienstherren Herrn Schäuble trifft, und dass sie möglichst vorher mit ihm darüber reden sollten. So kommt dann die Frage, ob er die Aktion unterstützt, von zwei Seiten an Herrn: von der Öffentlichkeit und intern von der Polizei.
Davon abgesehen, dass ich mutmaße, dass es auch unter den Polizisten Leute gibt, die sich über diese Thematik ihre Gedanken machen.
Ja, als wir die Stele geschnitzt haben, waren ja immer Polizisten dabei, mit denen wir ins Gespräch kamen. Die haben sehr vieles wie wir — und manches sogar noch härter gesehen. Wir hatten ja die Stele nicht als Kunstwerk schnitzen dürfen, sondern nur als öffentliche Kundgebung. Gemacht haben wir das auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Da steht die Volksbühne. Die Volksbühne ist umgekehrt in die Welt gekommen wie der Bundestag. Auf dem Bundestag steht „DEM deutschen Volk“ sowie auf dem Grundgesetz steht „FÜR die Bundesrepublik Deutschland“ steht.
Die Volksbühne ist in die Welt gekommen, weil sich die Arbeiter 1870/1890 und später so aus dem kulturellen Leben ihrer Zeit ausgeschlossen gefühlt haben, dass sie sich selbst die Volksbühne hingestellt haben, mit dem sogenannten Arbeitergroschen. Die haben über Jahrzehnte unter sich gesammelt, bis sie sich das Gebäude leisten konnten und haben dann auch ihre eigenen Programme drin laufen lassen. Da durften auch nur Arbeiter rein und deshalb konnten da Veranstaltungen laufen, die draußen der Zensur unterlagen. Dieses Gebäude ist, wenn man das so sagen will „VOM deutschen Volk“. Unser Impuls ist: Wenn die Politik sich nicht mehr ums Grundgesetz kümmert, nehmen wir es selbst in die Hand. Deshalb haben wir die Skulptur dort geschnitzt und nicht am Bundestag. Denn der Bundestag ist für uns erst „auf den Stand“ zu bringen.
Das ist sehr schön durchdacht. Ich hoffe, dass diese Aktion eine riesige und wunderschöne Welle der Bewusstwerdung auslöst.
Wir sind gespannt, was passiert. Und die Aktion soll ja erst der Anfang sein, da haben wir noch Einiges vor.
Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen, die spüren, dass es so nicht weitergehen kann, händeringend nach Impulsen suchen, aus ihrer eigenen Ohnmacht rauszukommen. Und ich finde diese Aktion eine sehr ermutigende und inspirierende Aktion, um sich selbst wieder in eine phantasievolle und sinnreiche Handlungsfähigkeit zu bringen. Sich damit zu beschäftigen, es verbreiten oder selbst dabei zu sein.
Diese Sache ist von euch so fein und klug konzipiert, dass nur allein das Sich-damit-Beschäftigen einen in eine (innere) Aktivität und Selbstverantwortung bringt, über alle Meinungskluften hinweg. Ich bin auch bei diesem so ernsten und schwerwiegenden Thema über die der Aktion inhärente Leichtfüßigkeit und den Humor begeistert — das nenne ich ganzheitlich. Alle Sinne sind angesprochen und man ist aufgerufen, sich für sein Land, für seine Identität einzusetzen, im besten Sinne, für alle Menschen, die hier leben. Ich danke euch sehr für eure Arbeit und wünsche euch bei der Fertigstellung dieser Sozialen Plastik viel Erfolg!
Danke.
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